Volkssouveränität und Bundesverfassungsgericht

Im Kontext von Auseinandersetzungen mit der Geschichte der PDS äußerte sich Michael Schumann vor etwa zehn Jahren, [...] zum Verhältnis der PDS zu Demokratie und Rechtsstaat ...

"Die Frage ist,
ob es nicht etwas Moderneres gibt
als den Zirkus der Parteien,
eine Demokratie der Basis,
eine Demokratie,
die Lösungen für alle will..."

Volker Braun, Oktober 1989

übrigens gemeinsam mit Uwe-Jens Heuer und Ekkehard Lieberam. Sein Beitrag beginnt mit einem Bekenntnis zur Volkssouveränität. "Demokratie ist für uns Volkssouveränität. Herrschaft des Volkes. Volkssouveränität bedeutet individuelle und kollektive Selbstentscheidung der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen" (Heuer/Lieberam/Schumann 1991: 26). Diese inhaltliche Bestimmung des Begriffs Volkssouveränität ist eine Absage an das Machtmonopol einer Partei, einer usurpierten und verfassungsrechtlich verankerten Führungsrolle und eines mit dieser verknüpften instrumentellen Rechtsverständnisses. Aktuelle Entwicklungen - insbesondere die immer öfter an das Verfassungsgericht überwiesene endgültige Entscheidung in Gesetzgebungsfragen - und der Tod von Michael Schumann, der sich im Dezember 2001 zum erstenmal jährte, bieten Anlaß und Thema für einige Gedanken zum Spannungsfeld Volkssouveränität und Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.

Volkssouveränität und Freiheitsrechte

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" heißt es in Artikel 20, Absatz 2 der Staatsfundamentalnorm (vgl. Wesel 1992 : 57) unserer immer noch provisorischen Verfassung. Das ist die ›klassische‹ westeuropäische Formulierung des Begriffs Volkssouveränität. Die Idee der Volkssouveränität, die in ihrer repräsentativen Version auch parlamentarischen Verfassungssystemen zugrunde liegt (vgl. Maus 1994: 74), wurzelt in der Philosophie der Aufklärung. Die politische Philosophie des 18. Jahrhunderts definiert Volkssouveränität als ›Selbstgesetzgebung‹ des Volkes, die wiederum ungeteilt und rechtlich ungebunden ist (vgl. Kant 1988: 128 f.; Rousseau 1989: 394 ff.; Sieyes 1981: 117 ff., 167 f.; Maus 1992: 148 ff.; Habermas 1989: 16). Damit kontrolliert das Volk als gesetzgebender Souverän - vermittels der Gesetzesbindung der Staatsapparate (sowohl Exekutivmacht als auch Justizapparat) - den Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols. Mit der Idee der Volkssouveränität ist eine strikt arbeitsteilige Version der Gewaltenteilung, die eigentlich eine Gewaltentrennung ist (vgl. Klenner 1999: 10), verknüpft. Das Volk hat unmittelbar oder repräsentativ vermittelt alle gesetzgebende Gewalt und findet seine funktional-gewaltenteilige Grenze im Verbot individueller Regelungen (vgl. Rousseau 1989: 411). Umgekehrt sind Exekutive und Judikative auf die Regelung spezieller Fälle beschränkt. Sie sollen an der Gesetzgebung nicht mitwirken. Die Staatsapparate unterwerfen sich der gesetzgebenden Souveränität des Volkes, das sich wiederum dem staatlichen Gewaltmonopol unterordnet. Darin liegt zugleich ein Moment der Freiheitssicherung für das Individuum, denn der Gesetzlichkeitsaspekt ist ein Freiheitsanspruch aus der Sicht der Beherrschten (vgl. Klenner 1999: 10). Mit der aufklärerischen Konzeption von Volkssouveränität (1) verflochten ist eine Auffassung von Freiheitsrechten, die zwischen politischen Funktionären in den Staatsapparaten und Nichtfunktionären unterscheidet: Nur die Nichtfunktionäre, die Basis, also die Träger der Freiheitsrechte können darüber befinden, was der Inhalt ihrer Rechte ist. Aus der Logik des Gesellschaftsvertrages folgt für Kant, daß das vorstaatliche Menschenrecht der gleichen Freiheit nur im Wege der demokratischen Gesetzgebung und des öffentlichen Diskurses der Bürger konkretisiert und positiviert werden kann (vgl. Kant 1988: 259 ff.). Und Rousseau sieht in den vorstaatlichen Menschenrechten der Freiheit und Gleichheit den "Zweck eines jeden Systems der Gesetzgebung " (Rousseau 1989: 424). Daraus (und aus dem ursprünglich vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte) ergibt sich für die politische Philosophie der Aufklärung, daß kein überpositivrechtliches Argument jemals von seiten der Staatsapparate gegen die Individuen geltend gemacht werden kann (vgl. Maus 1999: 288). Es waren die Protagonisten der Großen Revolution der Franzosen, die jenem Gedanken zur Volkssouveränität zur geschichtsmächtigen Wirklichkeit verhelfen sollten. Die Basisorganisationen der Sansculotterie, also die Volksgesellschaften und Sektionen, bestanden darauf, daß Gesetze nur Gültigkeit haben können, wenn sie vom Volk gemacht oder von ihm sanktioniert werden. Gleichzeitig korrespondiert diese Forderung mit Vorstellungen über eine Kontrolle der gewählten Vertreter, über das Recht der Basisorganisationen, Abgeordnetenmandate zurückzufordern sowie über die Verantwortlichkeit der Staatsfunktionäre vor den Basisorganisationen (vgl. Schöneburg 1989: 6 f.). Und nicht ohne Grund haben die französischen Revolutionsverfassungen die Volkssouveränität als Ausdruck und Schutz der Menschen- und Bürgerrechte definiert (Artikel 23 der Verfassung von 1793: "Die Garantie der Gesellschaft besteht im Zusammenwirken aller, jedem die Nutzung und die Wahrung seiner Rechte zuzusichern. Diese Garantie beruht auf der Souveränität des Volkes"; vgl. auch Artikel 2 und 3 der Französischen Verfassung von 1791). Die Ausübung der Volkssouveränität sichert zugleich die Menschenrechte - das ist die Botschaft der Französischen Revolution.

Volkssouveränität unter dem Grundgesetz

Obwohl das Prinzip der Volkssouveränität im Grundgesetz (2) verankert ist, fristet es in Deutschland lediglich ein "floskelhaftes Dasein" (Ridder 1987: 128) und ist nach "dem herrschenden deutschen Verfassungs- und Demokratieverständnis fast so etwas wie ein Unwort" (Abromeit 1999: 17), ein "obsoleter Begriff" (Maus 1992: 20). Selbst Uwe Wesel (1992: 58) meint - zu Unrecht -, heute, in einer Demokratie, sei dieser Begriff überflüssig geworden. Spürt man der Frage nach, warum der Befund so deprimierend ausfällt - im Gegensatz zu den westeuropäischen bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaaten (vgl. Ridder 1987: 118 f.) -, sind vor allem zwei Ursachen auszumachen: Erstens liegt dies wohl an der Stellung der Volkssouveränität im Grundgesetz und an den Kompetenzen, die die Väter des Grundgesetzes dem Bundesverfassungsgericht zugeschrieben haben und die größer sind als bei jedem anderen Verfassungsgericht dieser Welt (vgl. Wesel 1996: 8). Es ist - wie könnte es anders sein - Helmut Ridder, der konstatiert, daß die Unterordnung der Volkssouveränität unter die Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz) deren Reduktion auf einem ideologischen Null-Wert indiziert. "Denn entweder gibt es die Volkssouveränität oder es gibt sie nicht; eine untergeordnete Volkssouveränität ist keine" (Ridder 1987: 128). Nur am Rande sei bemerkt: Mit dem Volk hatten die Väter des Grundgesetzes sowohl bei dessen Erarbeitung - "Lebendige Kommunikation mit der Willensbildung des Volkes wurde weder von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates gesucht, noch durch die Initiative der Bevölkerung und ihrer politischen Parteien geschaffen" (Abendroth 1966: 39) - und Verabschiedung nicht viel am Hut, ebensowenig wie die Herrschenden nach 1990, als sie dem Souverän die Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung verweigerten. Die Unterordnung des Prinzips der Volkssouveränität (3) unter Artikel 1 Grundgesetz, die weitreichenden Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts wie auch der Verzicht auf plebiszitäre Elemente im Grundgesetz wurden mit den Erfahrungen aus dem Dritten Reich, das wiederum durch einen "massendemokratischen Mehrheitsabsolutismus " entstanden sei (vgl. Ridder 1987: 129; Wesel 1992: 66, 76 f.), begründet. Doch wurde in den Beratungen zum Grundgesetz zur Legitimation jener Normen beziehungsweise der Vernachlässigung basisdemokratischer Elemente eine konstruierte Vergangenheit herangezogen. Das ist insofern kein Wunder, wenn man bedenkt, daß die Expertenkommission, die den ersten Entwurf des Grundgesetzes erarbeitete, zu einem großen Teil aus Juristen bestand, die ihre Berufstätigkeit auch im Staatsdienst des Dritten Reiches ausgeübt hatten (vgl. Abendroth 1996: 36). Aber, nicht die Macht des Volkes hat die Demokratie von Weimar zerstört (33 Prozent der Stimmen entfielen zum fraglichen Zeitpunkt auf die deutschen Faschisten). Nicht die Plebiszite - die beiden Volksabstimmungen in der Weimarer Republik zur Fürstenenteignung (1926) und zum Young Plan (1929) waren bekanntlich gescheitert - haben die Republik von Weimar ruiniert. Richtet man einen verfassungs- und staatsrechtlichen Blick auf das Scheitern der Weimarer Republik, bleibt festzuhalten: Es waren die Funktionseliten, die das Ermächtigungsgesetz beschlossen haben. Die übergroße Macht des Reichspräsidenten ebnete den Faschisten mit den Weg an die Macht. Die konservativen Interessengruppen unterminierten die demokratischen Institutionen des Staates und verkehrten sie schließlich in ihr Gegenteil. Weimar ging nicht an seinem formaldemokratischen Institutionssystem zugrunde, sondern an den überkommenen Machtstrukturen, am Bedeutungsverlust des Parlaments, an der dem Rechtssystem fremden Interpretationsfreiheit der Justiz, die sich mehrheitlich ewigen Werten verpflichtet fühlte "anstatt den positiven Gesetzen, denen allein sie gem. Art. 102 WRV unterworfen war" (Staff 1989: 236), an der Verdrängung des allgemeinen Gesetzes durch Maßnahmegesetze und Generalklauseln, wodurch die Formalstruktur des Rechts zerstört wurde (vgl. Meuschel 1992: 97). Zweitens ist es die Rechtsprechung der ›Hüter der Verfassung - wie sich die Bundesverfassungsrichter zum Teil selbst nennen oder genannt werden, wobei diese Bezeichnung pikanterweise auf einen Aufsatz aus der Feder des Kronjuristen der Nazis, Carl Schmidt, aus dem Jahre 1929 zurück geht ("Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung "), den dieser in der damaligen Kontroverse um eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit Hans Kelsen und Heinrich Triepel publiziert hatte - die zur Marginalisierung des Prinzips der Volkssouveränität führt. Aufgrund dessen, daß mit dem Grundgesetz erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die Grundrechte nicht nur an die gewaltbewehrten Staatsapparate adressiert, sondern auch dem Gesetzgeber übergeordnet sind (vgl. Maus 1999: 280), konnte die Funktion der Verteidigung und Konkretisierung der Grundrechte von der demokratisch gewählten Legislative auf die Judikative übergehen. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in seiner Rechtsprechung diese Funktion soweit ausgedehnt, daß es sich selbst in die Rolle eines ›Super-Gesetzgebers‹, eines "permanenten Verfassungs- Revisors" (Ridder 1987: 120 f.) gehoben hat. Dies gelingt dem Bundesverfassungsgericht, indem es seiner Rechtsprechung ein Wertordnungsdenken zugrunde legt (vgl. Denninger 1976: 171). So führt das Gericht im ›Soraya-Beschluß‹ aus: "Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als korrektiv zu wirken vermag ... Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht ... zum Ausdruck gekommen sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens ... ans Licht zu bringen" (Bundesverfassungsgericht E 34: 269). Die Konsequenzen der Berufung auf "objektive Werte" und eine "objektive Wertordnung" (Bundesverfassungsgericht E 7: 205) sind vielfältig (vgl. Denninger 1976: 166 ff.). So bedarf es keiner Legitimation von Herrschaftsakten durch eine reale Analyse von Freiheitsbedingungen. Werte können wiederum durch Werte relativiert werden. Der relative Freiheitsschutz wird zu einem ›absoluten‹, nach allen Seiten wirkenden ausgedehnt. Und Werte müssen verteidigt werden gegen die Negation von Werten. (4) Einige Beispiele aus der Praxis des Bundesverfassungsgerichts (5) sollen die Folgen illustrieren. Mitte der siebziger Jahre entzündete sich die Kritik an der Praxis des Bundesverfassungsgerichts insbesondere an zwei Urteilen: Dem Hochschulurteil (Bundesverfassungsgericht E 35: 79) und dem Urteil zur ›Schwangerschaftsunterbrechung‹, was bereits eine verlogene Sprache ist (wie in der DDR), da es sich um einen Abbruch handelt (Bundesverfassungsgericht E 39: 1). Ich möchte hier auf das zweite Urteil kurz eingehen. Der Gesetzgeber wollte 1974 auf eine wirkungslose, inadäquate und sogar schädliche Strafandrohung, nämlich den berüchtigten § 218 StGB, weitestgehend verzichten und den Schutz des ungeborenen Lebens durch sozial adäquate Mittel gewährleisten. Die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts (5 : 3) war jedoch der Meinung, daß jenes 5. Strafrechtsreformgesetz vom 18. Juni 1974 mit der "objektiven Wertordnung" der Grundrechte, die ihrerseits in der "Schöpfungsordnung " verankert sei (vgl. Bundesverfassungsgericht E 39: 67), nicht vereinbar ist (vgl. Rüpke 1975). Das Bundesverfassungsgericht forderte die strafrechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Entscheidung ist zumindest aus zwei Gründen exemplarisch: Erstens: Obwohl die parlamentarischen Beratungen zur Reform des § 218 StGB mit großem Ernst und ungewöhnlicher Gründlichkeit durchgeführt worden sind, kippt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Wertargumentation die Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers. Die "objektive Wertentscheidung" wird zum Vehikel, um spezifisch gesetzgeberische Funktionen in der Gestaltung der Sozialordnung auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern. Denn das Gericht beschränkte sich keineswegs auf die verfassungsrechtliche Kontrolle der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung, sondern ersetzte diese durch eine andere vom Gericht für besser gehaltene Lösung. Es gerierte sich als politische Schiedsinstanz (vgl. Rupp-Brünneck/Simon 1976: 256).(6) Noch deutlicher wird dies bei der zweiten Abtreibungsentscheidung 1993 (vgl. Bundesverfassungsgericht E 88: 203), als der zweite Versuch des Gesetzgebers zur Durchsetzung einer Fristenlösung in Karlsruhe scheiterte. Das Schwangeren- und Familienhilfegesetz von 1992, unter anderem geboren aus der Notwendigkeit einer Rechtsangleichung zwischen Ost- und Westdeutschland, da in der DDR 1972 die Fristenlösung eingeführt worden war, enthielt nach mühevollen parlamentarischen Beratungen einen Kompromiß, der durch alle Parteien ging (vgl. Denninger/Hassemer 1993). Doch die "Hüter der Verfassung" wußten alles besser. Sie begnügten sich nicht mit der Nichtigkeitserklärung der für verfassungswidrig gehaltenen Normen, sondern schufen im Wege der Vollstreckungsanordnung übergangsweise ein eigenes Schwangerschaftsunterbrechungsgesetz, bestehend aus 21 Punkten (vgl. Denninger 1999: 292). Ein Vorgehen, welches selbst von der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, kritisiert wird (vgl. Limbach 1996: 12). Mit dieser Art Spruchpraxis usurpiert das Bundesverfassungsgericht eine positive Rechtsschöpfungsinitiative, indem es den parlamentarischen Gesetzgebungsorganen ›Empfehlungen‹ zukommen läßt, welche in der Regel auch befolgt werden (vgl. Bundesverfassungsgericht E 40: 296).(7) Aber zurück in das Jahr 1975, als eine schwedische Parlamentskommission sich mit der Reform der Grundrechte in der schwedischen Verfassung beschäftigte und das deutsche Abtreibungsurteil wie folgt kommentierte: Die Gefahr eines Systems mit Verfassungsgerichtsbarkeit werde durch die Entscheidung klar beleuchtet. "Es ist offenbar, daß es hier nicht um Rechtsanwendung im gewöhnlichen Sinne, sondern um eine Stellungnahme von politischem Charakter ging" (Wesel 1996: 40). Die Kommission lehnte eine Verfassungsgerichtsbarkeit für Schweden ab. Bemerkenswert ist das Abtreibungsurteil aber noch aus einem zweiten Grund. Und hier bewege ich mich auf dem sicheren Grund des Strafrechts. Erstmals wurde nämlich zur Prüfung gestellt, ob der Staat strafen muß. Das ist ein Paradigmenwechsel. Denn die klassische Aufgabe des Verfassungsgerichts besteht darin, Verletzungen des Freiheitsraumes des Individuums durch übermäßige Eingriffe staatlicher Gewalt abzuwehren. Auf der Skala staatlicher Eingriffsmöglichkeiten steht das Strafrecht, eine der schärfsten Waffen in der Hand des Staates, an vorderster Stelle. Im Abtreibungsurteil wird nun jedoch aus der "objektiven Wertentscheidung" eine Pflicht zum Strafen abgeleitet. Aber der Sinn der Grundrechte besteht nicht darin, wie im Minderheitenvotum richtig betont wird, einen Einsatz der Strafgewalt zu fordern, sondern ihm Grenzen zu ziehen. Und auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, das heißt eine historische Auslegung spricht gegen die Auffassung, aus Grundrechtsnormen eine Pflicht zum Strafen herzuleiten (vgl. Rupp- Brünneck/Simon 1976: 259 ff.). Ulrich K. Preuß, der die Umdeutung des Grundgesetzes in eine dem souverän gedachten Volkswillen entzogene ›objektive Wertordnung‹ durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. Frankenberg 1997: 230) eine Ethisierung der Verfassung nennt (vgl. Preuß 1984: 260), hat herausgearbeitet, wie in der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts nun der Rechtsstaat oft nicht mehr eine Instanz zur Beschränkung staatlicher Gewalt, des Schutzes des einzelnen gegen das staatliche Gewaltmonopol ist, sondern "ein objektives Wertprinzip, dessen Rolle darin besteht, schwere Straftaten zu verhindern, ... aufzuklären und abzuurteilen " (Preuß 1984: 265) wird. Wohlgemerkt: Niemand bestreitet die Kompetenz des Staates, strafbare Handlungen zu verfolgen. Aber nimmt man den Rechtsstaat ernst und nicht als ideologischen Kampfbegriff, so ist zu konstatieren, daß er gerade gegen eine Auswucherung staatlichen Gewaltpotentials installiert wurde und nicht zur Legitimation einer Ausdehnung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten. Ähnlich verhielt es sich bei der Terrorismusbekämpfung in den siebziger Jahren. Der Rechtsstaat müsse sich zur Wehr setzen, hieß es. Der Preis war der Verlust an Rechtsstaatlichkeit im Straf- und Strafverfahrensrecht. Verbot der Mehrfachverteidigung, Kontaktsperrengesetz, § 129a StGB und Isolationshaft müssen an dieser Stelle als Stichworte genügen. Und heute dient der internationale Terrorismus wieder einer sozialdemokratisch geführten Regierung zur Legitimation, dem Präventions- und Sicherheitsstaat und nicht etwa dem Rechtsstaat(!) einen weiteren ›Modernisierungsschub‹ zu geben. Auch in der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, beispielhaft verweise ich auf Montesquieu und Wilhelm von Humboldt, spielt der Begriff Sicherheit eine zentrale Rolle. Humboldt verstand unter Sicherheit die Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit, während Montesquieu sie als "politische Freiheit" des Bürgers definierte. Diese Freiheit hing für beide Denker entscheidend von der Güte der Strafgesetze ab. Aber im Auge hatten die Aufklärer nicht die general- und spezialpräventiven Funktionen des Strafens, sondern vielmehr elementare Verfahrensgarantien zum Schutze des Angeklagten. Von diesem liberalen Ansatz löst sich das Bundesverfassungsgericht partiell mit seiner Judikatur. (8) Im weiteren möchte ich noch kurz auf eine dritte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingehen, die mit der untergegangenen DDR zusammen hängt und die ich ausführlich mit Michael Schumann diskutiert habe. Gemeint ist der Beschluß des Gerichtes vom 24. Oktober 1996 zur Verfassungsbeschwerde von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Diese waren der Meinung, daß ihre Verurteilung wegen der Toten an der Grenze zwischen der DDR und BRD verfassungswidrig sei. Nicht ganz unberechtigt. Denn der Einigungsvertrag hatte die bundesdeutschen Gerichte bei der Aburteilung sogenannter Alttaten aus der DDR auf das am Tatort zur Tatzeit geltende Strafrecht, also das der DDR, festgelegt. Da jedoch nach dem Strafrecht der DDR der überwiegende Teil der Handlungen der Grenzsoldaten und DDR-Funktionäre nicht strafbar ist, verstoße, so die Argumentation der Beschwerdeführer, ihre Verurteilung gegen das im Artikel 103, Absatz 2 Grundgesetz geregelte Rückwirkungsverbot, die Bastion des Rechtsstaates im Strafrecht. Die Gerichte hatten nämlich dadurch eine Bestrafung vieler Grenzsoldaten und der hinter ihnen stehenden Offiziere und Staats- sowie Parteifunktionäre herbeigeführt, daß sie durch verschiedene, aber durchgängig naturrechtliche Argumentationen bestimmte Regelungen des DDR-Strafrechts hinweg interpretierten (vgl. Dreier 1997: 424 ff.). Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde nicht statt. Obwohl das Rückwirkungsverbot absolut gesetzt sei, immerhin hatte die BRD 1952 bei der Ratifizierung der EMRK sogar vor dem Hintergrund der noch nicht gesühnten Nazi-Verbrechen(!) einen Vorbehalt gegen die das Rückwirkungsverbot relativierende ›Nürnberg- Klausel‹ vorgebracht, gelte es nicht für die Taten an der Grenze, da das DDR-Grenzregime "extremes staatliches Unrecht" gewesen sei. Letztlich bedient sich das Bundesverfassungsgericht einer naturrechtlichen Argumentation, mit der nicht nur über materielle Gerechtigkeitserwägungen Artikel 103, Absatz 2 Grundgesetz ausgehebelt, sondern auch der Wille des demokratischen Gesetzgebers, wie er sich im Einigungsvertrag manifestiert, negiert wurde. Nur kurz sei angemerkt: Das Bundesverfassungsgericht bemüht hier ebenfalls eine konstruierte Vergangenheit, um die gewünschten Resultate zu rechtfertigen. Aus einer Studie der kriminologischen Forschungsstelle der Humboldt-Universität unter Federführung Uwe Ewalds, die demnächst in der Neuen Justiz publiziert wird, ergibt sich, daß die Konstruktion der Gerichte, wonach an der Grenze Tod vor Flucht gegolten habe, durch den faktischen Einsatz von Schußwaffen nicht gestützt wird. Wohlgemerkt: Der Befehl zum Einsatz der Schußwaffe barg auch immer das Risiko von Verletzungen und Tötungen. Es hat auch an der Grenze Exzeßtaten gegeben, die vom damaligen Recht nicht gedeckt waren. Und keineswegs soll das Grenzregime schön geredet werden. Aber das Kriminaljustizsystem produzierte im Kontext der Grenzerprozesse ›Wahrheiten‹ (nicht Kollateralschäden des Staatssozialismus, sondern ›Totschlagopfer‹) und Werte, die empirisch nicht hinterfragt werden, aber in der öffentlichen Diskussion gar nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen. Die Politik gab im Einigungsvertrag die Leitkategorie mit der Verdrängungsvokabel "Unrechtsregime" vor, die Strafprozesse kreierten ihre Wahrheiten, die ihrerseits den öffentlichen Diskurs prägen. Für eine Differenzierung von Politik, Gesellschaft und Ökonomie der DDR ist kein Raum. Die Moralisierung der politischen Öffentlichkeit ist angesagt. Selbst die PDS konnte sich mit ihrer Erklärung zum 13. August 2001 jener Moralisierung nicht entziehen. Als Fazit bleibt: Auch die Mehrzahl der Strafverfahren gegen DDR-Funktionäre wegen sogenannter Systemkriminalität steht für eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz vom demokratisch unmittelbar legitimierten Volkssouverän auf die Justiz (vgl. Staff 1999: 267).

Verfassungsgericht als Demokratieersatz

Die demokratietheoretischen und politischen Resultate jener nur beispielhaft angeführten Rechtsprechung seien hier lediglich kurz skizziert. In Kontraposition zu Josef Isensee, der von einer "intakten Normalität" auf dem Felde von Gesetzgebung und Justiz, von einer problemlosen Ausbalancierung der "Gewaltenteilung zwischen tätigen und kontrollierenden Organen" (Isensee 1996: 1088) schreibt, ist ein Ergebnis die Zerstörung der funktionalen Gewaltenteilung und des Zusammenhangs von Menschenrechten als individuelle subjektive Rechtsansprüche und Demokratie (vgl. Maus 1999: 289 ff.). Denn in dem Maße, wie Judikative und Exekutive (was hier ausgespart bleiben muß) überpositivrechtlich argumentieren, findet ein Perspektivenwechsel statt. Nicht mehr die gesellschaftliche Basis, wie im aufklärerischen Konzept der Volkssouveränität gedacht, kontrolliert in Wahrnehmung von Freiheitsrechten die Staatsapparate, da die Innovation des Rechts genau an die Staatsapparate übergeht, die an das Recht gebunden werden sollten. Damit hört die Verfassung tendenziell auf, Maßstab der Kontrolle der Staatsapparate zu sein. (9) Extremster Beleg dafür ist die verfassungswidrige Beteiligung der BRD am Kosovo-Krieg. Der parlamentarisch-demokratische Prozeß wird durch eine exzessive inhaltliche Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts eingeschnürt. Die Verkehrung der Grundrechtsfunktion in eine Eingriffsbefugnis des Staates, die Dominanz des Bundesverfassungsgerichts im politischen System sind Ausdruck eines Demokratieersatzes. Denn die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unterliegt nicht der politischen Praxis des Volkes, sondern wird "in letzter Instanz jenen Kräften überlassen, die die Interpretationsherrschaft darüber haben, wann bestimmte legal betriebene Änderungen mit der Verfassungssubstanz übereinstimmen und wann nicht" (Preuß 1984: 261). Dabei möchte ich gar nicht die "parlamentarischen Hinterzimmerdeals nach Maßgabe des Parteienproporzes" (Frankenberg 1997: 229) zur Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts thematisieren. Von der Wahl der Richter zur Souveränität des Volkes führt "allenfalls ein äußerst schmaler, nicht eben direkter Pfad" (Frankenberg 1997: 229). Dieser Zustand wurde, vielleicht etwas überspitzt und unter Vernachlässigung des Umstandes, daß auch wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts demokratische Handlungsspielräume ausgeweitet haben (vgl. Denninger 1999), als "Refeudalisierung" (Maus 1991: 140), "Beseitigung des Prinzips der Volkssouveränität" (Preuß 1984: 261) oder "Auflösung der Gesetzlichkeit", "Ent-Gesetzlichung " (Ridder 1987: 124) charakterisiert.

Was tun?

In Anlehnung an Lenin ist zu fragen: Was tun? (10) Für demokratische Sozialisten sehe ich drei, lediglich kurz angerissene Aufgabenfelder. Rein juristisch ist jener Ausweitung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ein "verfassungsrechtlicher Positivismus", wie ihn beispielsweise Wolfgang Abendroth vertrat, entgegenzuhalten. Dieser "Positivismus", der sich ausschließlich am Wortlaut der Verfassung und am Willen des historischen Gesetzgebers bei der Auslegung orientiert (nach dieser Auslegung soll die richterliche Gewalt auch nicht die eigene Machtposition ausweiten, um die Willensbildung des Volkes zu überspielen - vgl. Abendroth 1966: 13, 76), ist eine "Schutzmauer gegen das Rückrollen des historischen Verfassungskompromisses " (Ridder 2001: 91), gegen das "Anschmiegen von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit durch die Justiz" (Römer 2001: 68). Es entspricht übrigens auch dem Verfassungskompromiß, daß die BRD verfassungsrechtlich nicht an die existente kapitalistische Struktur ihrer Wirtschaftsgesellschaft und an deren herrschende ideologische Spiegelung in der Lehre von der ›sozialen Marktwirtschaft‹ gebunden ist. Vielmehr hat sie "im Verfassungs- Kompromiß der Formel vom ›sozialen und demokratischen Rechtsstaat‹ (Art. 20 Abs. 1, 28 GG) deren Umgestaltung in eine sozialistische Wirtschaftsgesellschaft gänzlich anderen Charakters (Art. 15 GG) bewußt ... erlaubt" (Abendroth 1979: 255). Ein solcher verfassungsrechtlicher Positivismus hätte wohl auch in Brandenburg bei den Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht zur Abbaggerung Hornos und zum Kita-Gesetz andere Urteile erbracht. Die angedeuteten Tendenzen sind zum zweiten mit dem Prinzip der Volkssouveränität zu kritisieren. Zugleich ist jenes Prinzip unter den gewandelten Bedingungen einer komplexen Gesellschaft, für die Stichworte wie ›Globalisierung‹ oder ›Risikogesellschaft‹ stehen, zu rekonstruieren. Neue Möglichkeiten einer gesellschaftsadäquaten Institutionalisierung der Rechtsetzung, die die vorhandene parlamentarische ergänzt, sind zu finden. Auf entsprechende Ansätze (vgl. Abromeit 1999; Maus 1991) kann zurück gegriffen werden. Auch wenn es stimmen mag, daß es nicht die Zeit für Radikaldemokratie ist (Braun 1998: 109), so sind drittens erst recht alle Initiativen zu unterstützen, die bereits vorhandene Möglichkeiten der Volksgesetzgebung - wie hier in Brandenburg, auch wenn sie durch die Staatsapparate amputiert werden - nutzen oder für deren Ausbau streiten. Denn die von Hermann Klenner zusammengefaßte Botschaft Rudolf von Jherings aus seiner Schrift Der Kampf ums Recht (1872) ist immer noch aktuell. "Wirklich, es rettet uns kein höheres Wesen. Wer die von Oben betriebene Rechtsentwicklung nicht durch eine Rechtsentwicklung von Unten zu konterkarieren und daher für seine eigenen Rechte zu kämpfen bereit ist, der wird seiner Pflicht weder gegen sich selbst noch gegenüber der Gesellschaft gerecht" (Jhering 1992: 147). Dem Beitrag liegt der Vortrag des Autors zugrunde, den er auf dem Kolloquium "Volkssouveränität und Parlamentarismus" zum ersten Todestag Michael Schumanns am 3. November 2001 in Potsdam gehalten hat. (1) "Mit dem demokratischen Verfassungsstaat, wie er sich in einem Zeitraum von mehr als 200 Jahren herausgebildet hat, entstand zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein Staat, in dem die einzelnen Bürger, wie auch die sozialen Gruppen und Gesellschaftsklassen ihre Interessen artikulieren und zumindest teilweise im politisch- staatlichen Willensbildungsprozeß einbringen und durchsetzen können." Uwe-Jens Heuer/Ekkehard Lieberam/Michael Schumann: Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September 1991), S. 27. (2) "Aus dieser Sicht auf die Verfassung (aus der Sicht des prinzipiellen Werterelativismus des Grundgesetzes - d. Red.) ergibt sich zwangsläufig die beständige Notwendigkeit des Kampfes um Verfassungspositionen. (...) Eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung um diese Interpretation spielt das Bundesverfassungsgericht. " Uwe-Jens Heuer: Die Sozialisten und das Grundgesetz, in: UTOPIE kreativ, 91/92 (Mai/Juni 1998), 112. (3) "Die Entwicklung der Demokratie war zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung des Rechtsstaates, in dem die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz proklamiert wird und verfassungsmäßig verankerte Bürgerrechte und Rechtsprinzipien in der Verfassung und den Gesetzen der Staatspolitik und der öffentlichen Gewalt Grenzen setzen." Uwe-Jens Heuer/Ekkehard Lieberam/Michael Schumann: Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September 1991), S. 27. (4) "Der Rechtsstaat hatte sich in Deutschland historisch als Gegensatz zum feudalen Polizeistaat herausgebildet. Mit dem Fortschreiten der bürgerlichen Gesellschaft wurde mit Notwendigkeit sowohl das Thema der Anwendung der Verfassung und der Gesetze, des gleichen Rechts für alle, der liberalen Grundrechte als auch der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung auf die Tagesordnung gesetzt." Uwe-Jens Heuer/Ekkehard Lieberam/Michael Schumann: Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September 1991), S. 31. (5) "...die Demokratie lebt von den Grundrechten und der Bereitschaft der Menschen, sie wahrzunehmen und zu verteidigen, und unsere Verfassung ist aus guten Gründen grundrechtszentriert." Michael Schumann: Politik und Ideologie. Wandlung im ideologischen Selbstverständnis der Bundesrepublik, in: UTOPIE kreativ, Nr. 91/92 (Mai/Juni 1998), S. 82. (6) "Eine Tendenz zur Einschränkung politischer Freiheitsrechte geht nach wie vor von Konzept und Praxis der sogenannten abwehrbereiten Demokratie aus. Das damit verbundene Staatsschutzinstrumentarium schützt die Demokratie nicht. Es verstümmelt sie. (...) Demokratieschutz wird so in der Realität zur Abschottung des politischen Systems gegen links und zur Einengung der Demokratie, zum Einfallstor von Willkür in den Rechtsstaat." Uwe-Jens Heuer/Ekkehard Lieberam/Michael Schumann: Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September 1991), S. 32. (7) "Die Fundamente und die Perspektive einer demokratischen und rechtlichen Ordnung werden in erster Linie durch die herrschende neokonservative Politik bedroht, einer Politik, die ihre Anpassungsübungen an durch Gestaltungsverzicht erst konstituierte ›Zwänge‹ der Globalisierung als Gestaltungs- und Reformleistungen anpreist, einer Politik, die dazu führt, daß politische Gestaltungsmacht von den demokratischen Institutionen wegdelegiert und zu mächtigen wirtschaftlichen Interessengruppen verlagert wird. Michael Schumann: Politik und Ideologie. Wandlungen im ideologischen Selbstverständnis der Bundesrepublik, in: UTOPIE kreativ, 91/92 (Mai/Juni 1998), S. 86 f. (8) "Das Grundgesetz ist keine Widerspiegelung von dem, was ist. Es ist keine Aussage von dem, was ist, es ist eine Norm, es ist Recht, es ist Verhaltensregel, es soll so sein. Auf die Frage, ob wir ein Rechtsstaat sind, ob wir eine Demokratie sind - wir haben ungeheure Demokratiedefizite, die schlagen beim Rechtsstaat sofort durch - kann ich nur sagen, wir sollen es sein. Das ist eine große Differenz." Hermann Klenner: Demokratie, Rechtsstaat und Gesellschaft, in: UTOPIE kreativ, 91/92 (Mai/Juni 1998), S. 95. (9) "Die Verfassung wird immer mehr inhaltlich aufgeladen, der Rahmen für ›zulässige‹ Auseinandersetzungen eingeengt. Ein entscheidender Schritt war dabei der Rekurs des Bundesverfassungsgerichts von Rechtsnormen auf Werte, die es in die Verfassung hineinliest. Das Recht sei nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. (...) Indem von Normen - also Regeln - zu Werten übergegangen wird, ist der Weg zur Aufdeckung der der Verfassung zugrundeliegenden Widersprüche versperrt. Statt widerstreitender Konfliktgegner gibt es Wert und Unwert, Verfassungsanhänger und Verfassungsfeinde - einen Begriff, den übrigens das Grundgesetz gar nicht kennt, dafür aber der Verfassungsschutz und seine Berichte." Uwe-Jens Heuer: Die Sozialisten und das Grundgesetz, in: UTOPIE kreativ, 91/92 (Mai/Juni 1998), S. 112. (10) "Der Weg, um mehr Demokratie realisieren zu können und die anstehenden ökologischen, politischen und sozialen Probleme zu lösen, führt über den Ausbau der Planungskapazität des Staates, über qualitativ neuartige Eingriffe der Gesellschaft in die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, über erweiterte Mitbestimmung, Investitionskontrolle und Vergesellschaftung großen Eigentums. (Ferner) ...sind die verfassungsrechtlichen und institutionellen Barrieren zu beseitigen, die sich gegen die gleichberechtigte Teilnahme aller gewaltfreien politischen Kräfte am demokratischen Prozeß richten." Uwe-Jens Heuer/Ekkehard Lieberam/Michael Schumann: Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September 1991), S. 34.

Literatur:


Abendroth, Wolfgang (1966): Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Stuttgart.
Abendroth, Wolfgang (1979): Über den Zusammenhang von Grundrechtssystem und Demokratie, in: Perels, J. (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, Frankfurt/M., S. 249 ff.
Abromeit, Heidrun (1999): Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften, in: Brunkhorst, H./Niesen, P. (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt/M., S. 17 ff.
Braun, Volker (1998): Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Frankfurt/M.
Denninger, Erhard (1976): Freiheitsordnung-Wertordnung-Pflichtordnung, in: Tohidipur, M. (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, Frankfurt/M., S. 163 ff.
Denninger, Erhard (1999): Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, in: Brunkhorst, H./Niesen, P. (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt/M., S. 288 ff.
Denninger, Erhard/Hassemer, Winfried (1993): Zum Verfahren zu §§ 218 ff. StGB vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Kritische Justiz, S. 78 ff.
Dreier, Horst (1997): Gustav Radbruch und die Mauerschützen, in: Juristen Zeitung, S. 421 ff.
Frankenberg, Günter (1997): Die Verfassung der Republik, Frankfurt/M.
Habermas, Jürgen (1989): Ist der Herzschlag der Revolution zum Stillstand gekommen? Volkssouveränität als Verfahren, in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt/M., S. 7 ff.
Heuer, Uwe-Jens/Lieberam, Ekkehard/ Schumann, Michael (1991): Die PDS und ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat, in: UTOPIE kreativ, Nr. 13 (September), S. 26 ff.
Hoerster, Norbert (1991): Abtreibung im säkularen Staat, Frankfurt/M.
Humboldt, Wilhelm von (1994): Menschenbildung und Staatsverfassung. Texte zur Rechtsphilosophie (1791-1819), Freiburg/Berlin.
Isensee, Josef (1996): Bundesverfassungsgericht - quo vadis?, in: Juristen Zeitung, S. 1085 ff.
Jhering, Rudolf von (1992): Der Kampf ums Recht (1872), Freiburg/Berlin.
Kant, Immanuel (1988): Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin.
Klenner, Hermann (1999): Zu dem von Walter Markov herausgegebenen Montesquieu - Essay des Werner Krauss, in: UTOPIE kreativ, Nr. 100 (Februar), S. 5 ff.
Limbach, Jutta (1996): Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor, in: Humboldt Forum Recht, Beitrag 12.
Maus, Ingeborg (1991): Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft, in: Kritische Justiz, S. 137 ff.
Maus, Ingeborg (1992): Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt/M.
Maus, Ingeborg (1994): Volkssouveränität versus Konstitutionalismus. Zum Begriff einer demokratischen Verfassung, in: Frankenberg, G. (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt/M.
Maus, Ingeborg (1999): Menschenrechte als Ermächtigungsnormen internationaler Politik oder: der zerstörte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie, in: Brunkhorst, H. et al. (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, Frankfurt/M., S. 276 ff.
Meuschel, Sigrid (1992): Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt/M.
Preuß, Ulrich K. (1984): Politische Verantwortung und Bürgerloyalität. Von den Grenzen der Verfassung und des Gehorsams in der Demokratie, Frankfurt/M.
Ridder, Helmut (2001): Der Jurist Wolfgang Abendroth, in: Balzer, F.-M. et al. (Hrsg.), Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker, Opladen, S. 85 ff.
Ridder, Helmut (1987): Die neueren Entwicklungen des Rechtsstaates, in: Schöneburg, K.-H. (Hrsg.), Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Rechtsphilosophie, Berlin.
Römer, Peter (2001): Demokratie als inhaltliches Prinzip der gesamten Gesellschaft, in: Balzer, F.-M. et al. (Hrsg.), Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker, Opladen, S. 49 ff.
Rousseau, Jean-Jacques (1989): Kulturkritische und Politische Schriften, 1. Band, Berlin.
Rüpke, Giselher (1975): Schwangerschaftsabbruch und Grundgesetz, Frankfurt/M.
Rupp-von Brünneck, Wiltraut/Simon, Helmut (1976): Minderheitenvotum zur Novellierung des § 218 StGB, in:
Tohidipur, M. (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, Frankfurt/ M., S. 255 ff.
Schöneburg, Karl-Heinz (1989): Revolutionäre Demokratie-Historizität und Aktualität, in: Staat und Recht, S. 4 ff.
Sieyes, Emanuel J. (1981): Politische Schriften, München/Wien.
Staff, Ilse (1989): Zur Rezeption der Ideen der Französischen Revolution von 1789 in der deutschen Staatslehre des 20. Jahrhunderts, in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt/M., S. 223 ff.
Staff, Ilse (1999): Zur Problematik staatsverstärkter Kriminalität, in: Brunkhorst, H./Niesen, P. (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt/M., S. 232 ff.
Wesel, Uwe (1992): Fast alles, was Recht ist, Frankfurt/M.
Wesel, Uwe (1996): Die Hüter der Verfassung, Frankfurt/M.