Die Linke in den USA und das »Barack-Obama-Phänomen«

Monatelang lieferten sich Obama und Clinton bei den Vorwahlen eine wahre Schlacht, obwohl sich ihre Positionen zu wichtigen Fragen kaum unterschieden.

Obama gegen Clinton – der Nominierungwettlauf
Im Jahre 2007, am Beginn der langwierigen Wahlkampagne für das Amt des US-Präsidenten, standen die »fortschrittlichen Kräfte«, die breit gefächerte Gemeinde der Linken, in den USA keineswegs hinter Barack Obamas Kandidatur. Obgleich die Aussicht, dass ein Afroamerikaner Präsidentschaftskandidat werden könnte, vielen als ein bemerkenswerter Fortschritt mit Blick auf die »Rassenbeziehungen« in den USA erschien, wurde Obama ideologisch und programmatisch rechts von mindestens drei anderen Kandidaten verortet.

Dennis Kucinich, ein Congress-Abgeordneter aus Ohio, galt gemeinhin als der am weitesten »links« Stehende, der entschieden für die Beendigung des Irak-Krieges eintrat und ein wirtschaftspolitisches Konzept propagierte, das sich gegen die Allmacht der Konzerne wandte und die Interessen der Arbeiter stärkte. Der frühere Senator von North Carolina, John Edwards, trat als Anwalt der arbeitenden Armen und Arbeitslosen – dem von Elend gepeinigten »anderen Amerika« – auf. Und da war schließlich noch Bill Richardson, der Gouverneur von New Mexico, der sich vor allem für den sofortigen Rückzug der US-Truppen aus dem Irak ohne Einrichtung ständiger US-Militärbasen und den Verzicht auf die US-Kontrolle über die irakische Ölförderung einsetzte.

Das Verhältnis der Linken zu Hillary Clinton war vor allem durch ihre Zustimmung zu Bushs Irak-Aggression im Senat belastet. Im Endeffekt war es genau jene Zustimmung, auf die schließlich das Scheitern ihrer Nominierungskampagne zurückzuführen ist. Obama hatte hingegen im Jahre 2002 auf einer Protestveranstaltung in Chicago den drohenden Krieg entschieden verurteilt. Das brachte ihm zwar zunächst einigen Kredit bei den Linken, den er jedoch wieder zu verspielen begann, weil er ab 2004 – nach seiner Wahl in den Senat – stets für die Finanzierung der Militäraktionen im Irak stimmte. Die Vorwahlen in Iowa, die im Januar 2008 stattfanden, veränderten die Situation jedoch nachhaltig. Obama verbuchte einen beeindruckenden Sieg in einem Staat mit überwiegend weißer Bevölkerung, in dem Edwards starken politischen Rückhalt hatte und in dem alle Prognosen für Hillary Clinton sprachen. Hier bewies Obama auch, dass er die breite Unterstützung einer Grass-Roots-Bewegung zu mobilisieren vermochte, was bei den Vorwahlen von besonderer Bedeutung ist, da es hier darauf ankommt, möglichst viele Unterstützer zu gewinnen, die bereit sind, an einer Wählerversammlung (caucus) teilzunehmen – und dies zudem noch bei kaltem Januarwetter.

Mit den Wählerversammlungen in Iowa wurde zudem mehr und mehr deutlich, dass Obama in der Lage war, jenes weit verbreitete Sehnen nach einem grundlegenden Wandel anzusprechen, das sich nach acht Jahren der reaktionärsten und verheerendsten Präsidentschaft, die die USA je hatten, überall im Lande auszubreiten begann. Einem jugendlich erscheinenden afroamerikanischen Kandidaten war es gelungen die frenetische Unterstützung vor allem vieler junger Menschen zu gewinnen, die sich bislang noch nie um Wahlkämpfe gekümmert hatten.

Den Afroamerikanern wiederum, die traditionell eher Clinton unterstützten, machte der Wahlausgang in Iowa deutlich, dass auch viele weiße Wähler bereit waren, für einen schwarzen Kandidaten zu stimmen. Ihre Zweifel und Ängste verschwanden in dem Maße wie Obamas Kampagne in Schwung kam. Möglicherweise auch weil er bewusst darauf verzichtete, sich vordergründig als »farbiger« Kandidat zu präsentieren, gelang ihm in Ansätzen das, was Kucinich, Edwards, Richardson, Clinton wie auch den anderen frühen Kandidaten versagt blieb. Er begann ein breites multi-ethnisches Bündnis von Unterstützern zu schaffen, das für den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen so entscheidend ist.

Schon nach kurzer Zeit projizierte sich das Verlangen nach Veränderung unter Demokraten und unabhängigen Wählern (und sogar einer beträchtlichen Zahl von Republikanern) auf den Nominierungswettlauf zwischen Obama und Clinton. Diese beiden Kandidaten standen jeweils für eine der zwei großen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre: die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung waren damals kraftvoller Ausdruck des Strebens nach Beendigung der Dominanz weißer Männer in Gesellschaft und Politik.

Nachdem Clinton überraschend die Vorwahlen in New Hampshire, unmittelbar nach Iowa, für sich entschieden hatte (ein Erfolg, der weithin als Sympathienabstimmung vieler Frauen für Clinton interpretiert wird), gelang es Obama eine beeindruckende Serie von Siegen in kleinen wie großen Staaten, in Staaten mit einem großen und in solchen mit einem geringen Anteil afroamerikanischer Bevölkerung zu erringen. Clinton entschied Ohio, Texas und Pennsylvania (wo rassistische Attacken und verleumderische Bemerkungen über Obamas religiöse Orientierung offenbar eine wesentliche Rolle spielten) für sich.

Monatelang lieferten sich Obama und Clinton bei den Vorwahlen eine wahre Schlacht, obwohl sich ihre Positionen zu wichtigen Fragen kaum unterschieden. So übernahm Clinton unter dem Druck der demokratischen Kriegsgegner zum Beispiel auch Obamas Forderung nach der Festsetzung eines Termins für den Rückzug der Kampfeinheiten aus dem Irak. Beide Kandidaten versprachen, die Billionen Dollar schweren Steuergeschenke Bushs an die Superreichen rückgängig zu machen, beide wollten die krassesten Auswüchse von Bushs radikaler »Freihandelspolitik« beseitigen, beide legten ähnliche Pläne für die Einführung einer »allgemeinen Krankenversicherung« vor (die beide jedoch nicht umsetzten) und schließlich traten beide für die entschiedene Förderung alternativer Energiequellen ein.

Während sich Clinton und Obama abkämpften, hatte Senator John McCain bei den Republikanern angesichts der schwachen Herausforderer leichtes Spiel.

Indessen wurde die Auseinandersetzung zwischen den demokratischen Bewerbern in dem Maße härter wie beide ihre Chancen auf eine rasche Nominierung schwinden sahen. Vor allem Bill Clinton versuchte, Obamas Kandidatur als rein rassistische Kampagne der schwarzen Wählerschaft zu diffamieren. Hillary Clinton äußerte sich merkwürdig zweideutig zu rassistischen Angriffen auf Obama im Internet (auf die Frage, ob Obama ein »Muslim« sei, antwortete sie bewusst unbestimmt: »Nicht, dass ich wüsste.«).

Jetzt kam das hässliche Gesicht des Rassismus in den USA wieder zum Vorschein, vor allem in jenen Staaten mit überwiegend weißer Wählerschaft und hohem Anteil von Arbeitern. Zudem wurde Obama zunehmend von rechten Kreisen attackiert. Sowohl ihm als auch seiner Frau wurde ein Mangel an Patriotismus vorgeworfen. Über das Internet und andere Medien wurden Verdächtigungen verbreitet, Obama sei ein »heimlicher Muslim«, der als Kind eine militante »Madrassa« (Koranschule) besucht hätte. Der Pfarrer seiner Gemeinde, Reverent Jeremiah Wright, der für seine scharfen antirassistischen und anti-imperialistischen Predigten bekannt war, wurde auf zynische Weise mit Obama und seinen politischen Prinzipien in direkte Verbindung gebracht, wodurch Obama faktisch gezwungen wurde, sich von ihm öffentlich zu distanzieren. Doch Obama rettete seine Position in dieser kritischen Situation, in der seine Kampagne bereits gescheitert schien, mit einer beeindruckenden Ansprache über die qualvolle rassistische Geschichte des Landes – eine Rede, in der den traumatischen Erfahrungen der Afroamerikaner Gerechtigkeit getan und gleichzeitig den Weißen klargemacht wurde, dass dieser Rassismus auch ihren Interessen geschadet hat.

Diese Vorwahlkampagne ging auch mit einer überraschenden Wiederauferstehung der »Arbeiterklasse« einher, und das in einer Gesellschaft, in der jeder mit einem Job sich normalerweise schon als Teil der »Mittelklasse« versteht. Seit mehr als 20 Jahren solidarisierte sich ein beträchtlicher Teil der arbeitenden Bevölkerung mit rechten Angriffen auf »die Allgewalt der Regierung«, der insbesondere die Bemühungen um die Gleichstellung ethnischer Gruppen und Frauen vorgehalten wurden. Diese Gruppierungen, die auch als »Reagan Democrats« bezeichnet werden, wurden insbesondere durch die rassistischen Anwürfe gegen Obama beeinflusst. Sie unterstützten in der Regel Clinton, die diese wiederum als »gute weißer Arbeiter« hofierte. Übersehen wurde von ihr dabei jedoch, dass die Arbeiterklasse keineswegs auf weiße Männer – von denen sie vermutete, dass sie rassistischen Argumenten zugänglich seien – reduziert werden kann. Heutzutage, unter den Bedingungen von Globalisierung und Deindustrialisierung, besteht die US-amerikanische Arbeiterklasse – vor allem in den Dienstleistungssektoren – zu einem immer größeren Teil aus Frauen, Afroamerikanern, Asiaten, Latinos und allen möglichen ethnischen Mischungen aus den vorgenannten. Deshalb war Clintons Anbiederung an die »guten weißen Arbeiter« zwar teilweise erfolgreich, aber insgesamt wohl eher hinderlich.

In den letzten Wochen der Vorwahlen änderte Clinton ihre Strategie in einigen Punkten. Zum ersten versuchte sie sich als Kandidatin »mit Erfahrung« gegenüber dem »unerfahrenen« Obama zu profilieren. Als diese Masche die wachsende Sehnsucht nach Veränderung nicht einzudämmen vermochte, offerierte sie »echte Lösungen zu echten Problemen«, wobei ihre Rhetorik zunehmend populistischer und gegen die Machenschaften der Multis gerichtet wurde. Damit konnte sie innerhalb der Arbeiterschichten durchaus punkten.

Trotzdem stimmte sie unter dem Druck des unternehmerfreundlichen Flügels der Demokraten und unter dem Zwang beweisen zu müssen, dass sie im Fall der Fälle eine entschlossene Oberbefehlshaberin wäre, im Senat für die Einschätzung der Iranischen Republik als »terroristisch«, womit sie gleichzeitig eine entschlossene Haltung gegenüber allen Ländern und Organisationen demonstrieren wollte, die von den US-Globalpolitikern als »feindlich« eingeschätzt werden (in diesem Zusammenhang versuchte sie wiederholt, Obamas Ankündigung, mit allen Gegnern der USA reden zu wollen, lächerlich zu machen). Diese Haltung schadete ihre allerdings eher als sie ihr nutzte, denn damit blieb die starke Antikriegslobby der Demokratischen Partei weiter auf Distanz zu ihr.

Gleichzeitig nahm die Wahlkampagne von Obama immer mehr den Charakter einer sozialen Massenbewegung an, die vor allem von jungen Menschen getragen wurde. Dabei entstanden völlig neue, internetgestützte Formen der Spendenwerbung. Hunderte Millionen Dollar wurden durch kleine und Kleinstspenden aufgebracht – wahrlich eine »Demokratisierung« der Spendenwerbung, eine Revolution der Wahlkampffinanzierung, die die traditionell dominierende Rolle von Großunternehmen wirksam unterminierte.

Mit dem Ausscheiden aller anderen Kandidaten zog Obama mehr und mehr die Aufmerksamkeit großer Teile der Linken auf sich. Die gewaltige, multiethnische und generationenübergreifende Unterstützung für Obama wurde von vielen Linken als die Herausbildung einer »fortschrittlichen Mehrheit« interpretiert, die in der Lage sein könnte, die politische Vorherrschaft der Konservativen zu brechen und das Kräfteverhältnis zugunsten einer links-zentristischen Bewegung zu verschieben. Obwohl es längst eine gut organisierte Antikriegsbewegung gab, sahen viele Linken in Obamas Unterstützern eine Art »zweite Friedensbewegung« – wie widersprüchlich und auf Obama fixiert sie auch war. In mancher Hinsicht wurde die Bewegung hinter Obama für die Linken fast wichtiger als der Kandidat selbst. Mit seiner Kampagne schien eine links-zentristische Koalition unverhofft Gestalt anzunehmen. Und umgekehrt, die unabhängigen Linken stärkten die Kampagne Obamas, indem sie eigene Konzepte für Frieden, soziale Sicherheit, Umweltschutz und die Verteidigung liberaler Freiheiten in die Öffentlichkeit brachten.

Durch die Verbindung von Wandel mit dem fürderhin allgegenwärtigen Begriff »Hoffnung« wurde Obamas Wahlkampf noch dynamischer. Er verknüpfte Hoffnung und Wandel mit der Metapher Kampf. Immer wieder begeisterte er seine Anhänger mit dem Verweis auf historische Kämpfe, die von Hoffnungen inspiriert wurden – die Hoffnung der Siedler mittels der »Amerikanischen Revolution « die Unabhängigkeit des Landes zu erlangen; die Hoffnung auf ein Ende der Sklaverei im Bürgerkrieg, der Kampf um die Einführung des Sozialstaates (New Deal) während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren; die Hoffnung der Anti-Hitler-Koalition auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg; die Hoffnung auf die Durchsetzung der Menschrechte und der Gleichberechtigung von Frauen in den sozialen Kämpfen der 1960er Jahre.

In dem Maße, in dem Hillary Clinton hinter Obama zurückblieb, wurde es immer offensichtlicher, dass die so genannten »Super- Delegierten« (Offizielle, Parteifunktionäre, Mitglieder des Zentralkomitees der Demokraten) den Ausschlag für die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten geben würden. Gleichzeitig wurde es jedoch auch immer klarer, dass die »Super-Delegierten « sich nicht gegen Obama stellen würden solange er einen kleinen, aber uneinholbaren Vorsprung behauptete und die Massen hinter ihm standen. Alles andere wäre einem offenen Affront gegen afroamerikanische Wähler – der wichtigsten Wählergruppe für die Demokraten – und die vielen neuregistrierten jungen Wähler gleich gekommen. Im Juni sicherte sich Obama schließlich auch die mehrheitliche Unterstützung der »Super-Delegierten« – damit war das Rennen um die Kandidatur gelaufen.

Obama gegen McCain – der Kampf ums Weiße Haus
Kaum stand fest, dass Obama von den Demokraten als Präsidentschaftsbewerber nominiert würde, schien sich dieser auch schon wieder mehr zentristisch zu orientieren. »Professionelle« Politikanalysten erklären sich dieses Phänomen mit dem Bemühen des Kandidaten, nach der Nominierung nunmehr eine möglichst breite Wählerschaft anzusprechen, während er (im Falle der Demokraten) bei den Vorwahlen versuchte, bei den Parteianhängern mit linken Parolen zu punkten.

In seinem Vorwahlkampf hatte Obama immer wieder versichert, dass er die Novellierung des Bundesgesetzes zur geheimdienstlichen Überwachung (Federal Intelligence Surveillance Act – FISA) zu Fall bringen würde. Dieses Gesetz wurde insbesondere von der Bush-Administration dergestalt erweitert, dass Telefongesellschaften Straffreiheit garantiert wurde, wenn sie im Zusammenwirken mit Regierungsstellen illegale Abhörmaßnahmen ermöglichten. Als nominierter Präsidentschaftskandidat hat Obma jedoch für dieses Gesetz gestimmt, nach dem er mit dem Versuch gescheitert war, die Frage der Freistellung von Strafverfolgung gesondert, außerhalb des Gesetzes zu regeln. Insbesondere sein Opportunismus in diesem, für viele Unterstützer Obamas extrem sensiblen Bereich, bei dem es um die Verteidigung der vierten Verfassungsänderung gegen die exzessive Erhebung privater Daten ging, hat tiefe Enttäuschung ausgelöst. Allein auf Obamas privater Website beschwerten sich mehr als 22 000 seiner Anhänger.

Das war jedoch keineswegs alles; Obama begann auch sein Versprechen, die militärische Aggression im Irak zu beenden, zu relativieren. Er setzte sich plötzlich für eine Ausweitung des militärischen Engagements in Afghanistan ein und wiederholte seine Drohung, Talibankämpfer auch bis auf pakistanisches Territorium zu verfolgen, wenn die Regierung Pakistans weiterhin nichts unternehme. In einem Gespräch mit einer radikal Zionistischen Organisation erkannte Obama ein Recht auf ein »ungeteiltes« Jerusalem an, obgleich er sich damit in offenen Widerspruch zu geltenden UNResolutionen brachte (In einer späteren »Klarstellung« seiner Position erklärte er, dass er mit seiner Bemerkung ledig hätte sagen wollen, dass Jerusalem »nicht durch Stacheldraht geteilt sein solle«.).

Bei innenpolitischen Fragen unterstützte Obama zum Beispiel den konservativen Flügel im Obersten Gericht, indem er dessen Entscheidung der Einschränkung der Todesstrafe kritisierte. In seinen Vorträgen bei Afroamerikanischen Kirchengemeinden und Organisationen verstieg er sich zu der Äußerung, dass »zwar jeder Idiot ein Kind machen könne, es aber eines ganzen Kerls bedürfe, eine Familie zu haben« und belehrte die Zuhörer, dass auch die afroamerikanische Unterklasse eine »Kultur der Selbsthilfe« entwickeln müsse. Diese Anmaßungen verärgerten große Teile der Schwarzen. Vertreten durch Jesse Jackson beschuldigten diese Obama, dass er »Schwarze heruntermache« und sich weigere die rassistische Politik der Regierung und der Unternehmen beim Namen zu nennen. Er sei daher mitverantwortlich, wenn Schwarze ohne Jobs, mit schlechter Bildung, ohne Krankenversicherung und unter miserablen Wohnbedingungen leben müssten – so dass Tausende junger Schwarzer arbeitslos blieben oder im Gefängnis enden würden.

Obamas »Annährung an das Zentrum« löste Enttäuschung und insbesondere bei den Linken das Gefühl aus, verraten worden zu sein. Einige Linke, die sich stets entschieden geweigert hatten, Obama oder überhaupt die Demokraten zu unterstützen, verspotteten und beschimpften seine Unterstützer als naiv und getrieben von blindem Übereifer.

Sicherlich sollte sich niemand Illusionen über Obama machen. Ein genauer Blick auf seine politischen Ideen und Konzepte offenbart, dass er schon immer zum liberalen Zentrum des politischen Spektrums gehörte. Seine charismatische Rede auf dem Parteitag der Demokraten im Jahre 2004 (mit der er auf einen Schlag landesweit bekannt wurde) war voller zentristischer Hirngespinste von nationaler Einheit und historischen Kompromissen. Dort erklärte er, dass die Bevölkerung den Kanal voll habe vom ewigen Gezänk zwischen den beiden großen Parteien, zwischen den konservativen »roten Staaten« und den liberalen »blauen Staaten«, zwischen Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen, Homosexuellen und Heterosexuellen, Reichen und Armen.

Als Präsidentschaftskandidat präsentierte er sich gern als eine Art »Jedermann«, der über all dem Zwist zwischen Klassen und Rassen steht – der in der Lage ist, zwischen Demokraten, Republikanern und Unabhängigen zu vermitteln. Er vermied es, ideologisch aufgeladene Begriffe zu verwenden, etwa wenn er über das Recht auf Gesundheitsversorung oder zur Bildung von Gewerkschaften sprach, oder über den Schutz vor diebischen Hypothekenmaklern. Immer dann benutzte er Metaphern, wie »Kollektiv« und »Stärkung der Gemeinschaft«, die möglichst wenig Ideologie transportierten. Auf diese Weise erweckte er den Eindruck, dass die Probleme mit der Politik nicht etwa darin liegen, dass sie die Bereicherung der Unternehmer und den Militärapparat fördert, sondern tat so, als ob es lediglich darum gehe, »besser« Politik zu machen.

Obamas Vorliebe für pragmatische Kompromisse und zentristische Positionen lässt sich auf einige wenige Faktoren zurückführen, die sein Denken beeinflussen. Obama selbst verweist immer wieder auf jene drei Jahre, in denen er als Sozialarbeiter in überwiegend schwarzen Wohnvierteln in der South Side von Chicago arbeitete. Während dieser Zeit wurde er vom für sein Organisationstalent berühmten Saul Alinsky beeinflusst. Alinsky lehnte jegliche Art von strategiegeleiteten oder ideologisch motivierten Konzepten strikt ab (einschließlich Vorstellungen von Transformation und Wandel). Trotz mancher radikalen Geste hatte Alinsky im Kern längst seinen Frieden mit jener unvollkommenen Welt gemacht, in der es lediglich darauf ankäme, mit den Mächtigen clevere Kompromisse auszuhandeln.

Ein anderer Ideengeber war der Theologe Reinhold Niebuhr, der vehement gegen jede Art von »ewigen« und »perfekten« Systemen (wie es die UdSSR gern sein wollte) auftrat, weil diese Bestrebungen daran scheitern müssten, dass die Menschen von Natur aus mit Makeln behaftet und »sündig« seien. Die Menschheit könne ihre eigene Unvollkommenheit nur hinnehmen und beständig gegen das Böse ankämpfen (ohne es je besiegen zu können – d. Ü.); die moralischen Zwänge, die sie sich auferlegt, sollten daher von geopolitischen Realismus, Experimentierfreude und Pragmatismus getragen sein. Zwar übernahm Obama nicht Niebuhrs Anti-Kommunismus, aber insbesondere in seiner Position zum »Krieg gegen den Terror« lassen sich deutliche Anklänge an Niebuhrs geopolitische Rigorosität ausmachen.

Wofür steht Obama sonst noch? Er ist sicherlich kein Anti-Imperialist. Ein solcher Gedanke – dass die USA imperialistisch sein könnten – kommt in seinem Hirn überhaupt nicht vor. Er versucht, den Weltmachtanspruch der USA mit dem komplexen Prozess kapitalistischer Globalisierung dadurch in Übereinstimmung zu bringen, dass er die US-Außenpolitik so an die Bedürfnisse des internationalen Systems anpasst, dass die weltkapitalistischen Zentren gemeinsam vermögen zu handeln. Er repräsentiert jene Gruppierungen in der herrschenden US-Elite, die ihre globalen Interessen dadurch effektiver zur Geltung bringen wollen, dass die durch den unsäglichen, rücksichtslosen Unilateralismus Bushs provozierte weltweite Ablehnung der US-Politik beendet wird.

Deshalb hat Obama allen Gegnern der USA einen offenen Dialog angeboten. Vor der Anwendung »harter« militärischer Maßnahmen setzt Obama auf »sanften Druck« (mittels Wirtschaftshilfe, kulturelle Kontakte usw.) in der Auseinandersetzung mit vermeintlichen ausländischen Gegnern. Es ist deshalb durchaus möglich, dass er zum Beispiel in der Frage des von Bush forcierten Aufbaus eines Raketenabwehrsystems in Mittel- und Osteuropa zu Kompromissen mit Russland bereit ist. Um die Tür für US-Interessen offenzuhalten, könnte ihm mehr an der friedlichen Beilegung von Konflikten durch mulilaterale Abkommen gelegen sein. Im Irak würde er wahrscheinlich stärkeren Druck auf die irakischen Konfliktparteien ausüben, damit tragfähige Kompromisse entstehen, während die US-Kampfeinheiten sukzessive abgezogen werden.

Trotz aller Angriffe vonseiten seiner Kritiker beharrt Obama bis jetzt auf seinen Rückzugsplänen aus dem Irak. Dieser allmähliche Rückzug soll sich über sechzehn Monate nach seinem Amtsantritt hinziehen. Verbleiben sollen allerdings ca. 50 000 Soldaten zum Schutz US-amerikanischer Einrichtungen, zur Ausbildung einheimischer Truppen und zur Bekämpfung von »Al-Qaida-Nestern«. Das würde bedeuten, dass ein beträchtliches Kontingent auf lange Sicht im Irak verbleibt, was dann durchaus in die Schaffung einer permanenten Militärbasis münden könnte – wodurch eines der wichtigsten Ziele der Architekten der Irak-Intervention erreicht wäre. Dies wiederum würde die Friedensbewegung herausfordern, weiterhin aktiven Widerstand gegen eine dauerhafte US-Präsenz im Irak zu leisten. Gegen das iranische Atomprogramm würde Obama sicherlich zunächst auf diplomatischen Druck setzen, um ein Ende der Urananreicherung zu erreichen und Iran in regionale Sicherheitsabkommen einzubinden. Gleichzeitig würden Obama und seine Berater eine Dominanz des Iran in der Region wohl kaum akzeptieren und deshalb wohl auch Militär und Marine nicht vollständig aus der Region abziehen.

Trotz der formalen Rückendeckung für Organisationen, die die Israelische Siedlungspolitik in den okkupierten Palästinensergebieten unterstützen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich unter den »Realisten« in den herrschenden Kreisen der USA schließlich – angesichts der eigenen Interessen – eine mehr ausbalancierte Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt durchsetzt, wodurch auch die Obama-Administration zu einer eher ausgleichenden Nahostpolitik ermutigt würde. Ganz gleich, ob sich diese Einsicht durchsetzt; es wird auf jedem Fall einer energischen Friedensbewegung bedürfen, die gegen die Fortsetzung der Okkupation palästinensischen Landes durch Israel auftritt und die den nötigen öffentlichen Druck entfaltet, damit es zu einem veränderten Herangehen an diesen Konflikt kommt, der die Urasche für eine ganze Reihe von regionalen Problemen darstellt.

Es wäre ferner eine Illusion zu glauben, dass Obama ohne massiven Druck von der scheinbar unverzichtbaren Verflechtung von nationalen Sicherheitsinteressen und der Bereitschaft zu Kriegseinsätzen – jenem Grunddogma des US-Imperialismus – abrücken würde. Das zeigt schon die Art und Weise wie er über die »Reorganisation des Militärs« und über die Ausweitung der Aktivitäten in Afghanistan sowie über mögliche Militäroperationen in Pakistan spricht. Angesichts der unbestrittenen Macht der Militärlobby und deren Betonung der »nationalen Sicherheitsinteressen«, kann es sich gegenwärtig niemand, der an der Schwelle zum Weißen Haus steht, leisten, gegen diese Gruppen aufzutreten. Allein die leiseste Andeutung in dieser Richtung würde ihn rücksichtslosen Angriffen und schweren Zweifeln an seiner Haltung gegenüber den Sicherheitsinteressen des Landes und seiner Bürger aussetzen. Daraus erklärt sich möglicherweise jener Positionswechsel, der bei Obamas Unterstützern die größte Enttäuschung ausgelöst hat – seine Zustimmung zur Erweiterung des Bundesgesetzes zur geheimdienstlichen Überwachung (FISA).

Dieser Vorfall markiert faktisch die Bruchstelle zwischen militärisch gepanzerten Sicherheitsinteressen und der Hoffung auf eine konstruktive, friedliche US-Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Nur eine Massenbewegung, die sich der imperialistischen Natur der US-Globalpolitik bewusst ist und die auf ein grundlegend anderes Herangehen drängt, kann diese Konstellation überwinden. Obama als Repräsentant des mulilateralistischen und »realistischen« Flügels des Establishments (was seinen Ausdruck in seiner unvoreingenommenen Gesprächsbereitschaft mit Gegnern findet) bietet der politisch aufgeklärten Öffentlichkeit eine Chance, erfolgreich auf eine grundlegende Veränderung der US-Globalpolitik zu drängen.

Innenpolitisch steht Obama für die Position jener Unternehmergruppen, die weniger auf schonungslose Ausbeutung, sondern auf mehr staatliche Eingriffe zur Rettung des kapitalistischen Systems setzen, indem dessen hässlichsten Entgleisungen unterbunden werden. Sein Verständnis von »Unternehmertum«, wie es in seinem Buch Hoffnung wagen (The Audacity of Hope) beschrieben wird, ist nicht vereinbar mit dem menschenverachtenden Vorgehen solcher Konzerne wie Wal-Mart. In Anlehnung an den New Deal in den 1930er Jahren tritt Obama für die Beseitigung der von den Republikanern geschaffenen Regelungen ein, die die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter behindern.

In Anerkennung der Gefahren des Klimawandels unterstützt Obama umfassende staatliche Programme zur Reduzierung des Einsatzes von fossilen Energieträgern und zur Schaffung von Millionen »grüner Jobs« bei der Umstellung der Infrastruktur des Landes auf saubere Energiequellen.

Die USA wie auch das gesamte kapitalistische Weltsystem befinden sich in mitten einer heraufziehenden präzedenzlosen Krise. Die systematische Deregulierung des Finanzsystems hat im Laufe der letzten drei Jahrzehnte in eine globale Finanzkrise geführt, die bekanntlich durch die faulen Hypothekenkredite zum Ausbruch kam. Der Finanzkapitalismus durchlebt gegenwärtig Prozesse, wie sie für die Große Weltwirtschaftskrise typisch waren – Liquiditätsengpässe, die zu einer gefährlichen Schrumpfung der Kreditmärkte führten, und vor allem Bankzusammenbrüche. Der Rückgang der Ölförderung und die damit einhergehende Preisexplosion gefährden den Fortbestand der noch verbliebenen verarbeitenden Industrie und heizen auf gefährliche Weise die Inflation an. Die exorbitanten Kosten des Irak-Krieges und die Ausgaben für die Rüstung überhaupt haben eine erschreckend hohe Staatsverschuldung hervorgebracht, deren weitere Finanzierung durch ausländische Kapitalanleger immer zweifelhafter wird. International haben der globalisierte Kapitalismus und sein »Freihandelswahn« Flüchtlingsströme ausgelöst, Hunger und Krankheiten verstärkt und zu einer ungeahnten Verschärfung des globalen Armutsproblems geführt.

Sogar bislang kaum regierungskritische Kommentatoren räumen inzwischen ein, dass eine neue Regierung einen tiefgreifenden Politikwandel einleiten muss, um der Billionen Dollar schweren Verschuldung, die in Bushs Regentschaft aufgehäuft wurde, Herr zu werden. Falls Obma Präsident wird, bleibt ihm kein anderer Ausweg als die Wiedereinführung eines Finanzregimes, das von Clinton und Bush zerrüttet wurde, und die Bekämpfung der Tendenz zur Privatisierung staatlicher Aufgaben. Er muss die Steuergeschenke Bushs an die Superreichen zurücknehmen, ein großes Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen auflegen, Millionen Menschen vor der Versteigerung ihrer Häuser bewahren, und er muss eine nationale Krankenversicherung einführen, die mit dem privaten, profitorientierten Versicherungsmodell bricht. Entgegen seiner gegenwärtigen erklärten Absicht wird er die ausufernden, verschwenderischen Militärausgaben beschränken müssen und er wird den historischen Versuch machen müssen, die nationale Industrie- und Infrastruktur so umzugestalten, dass sie ohne fossile Brennstoffe auskommt.

Obamas pragmatischer Politikansatz verortet sich zwischen den gegensätzlichen Polen von rechts-zentristisch und links-zentristisch. Seine Präsidentschaft wäre das Schlachtfeld für die Interessen der herrschenden Klasse und ihr Bestreben, seine Politik des Wandels zu ihren Gunsten auszunutzen, einerseits und den Forderungen einer wachsenden Massenbewegung für grundlegende fortschrittliche Veränderungen andererseits. Entscheidend für das Ergebnis wird die Einheit unter den Linken sowie ein Bündnis von Linken und Zentristen sein.

Davon hängt bereits der Ausgang der Wahlen ab. Sein republikanischer Gegenkandidat John McCain ist – auch wenn er hin und wieder politische Unabhängigkeit vorspiegelt – ein Erzkonservativer, der die ultra-reaktionäre Politik Bushs in allen entscheidenden – außen- wie innenpolitischen – Fragen mit trägt. Durch seine Unterstützung für eine Fortsetzung der Okkupation des Irak und die Ausweitung des Kriegsrechts, mit der Ankündigung von weiteren Steuergeschenken an die Reichen und mit neuen Zugeständnissen an die Öl-Multis sowie mit der erklärten Fortsetzung des rechts-fundamentalistischen sozialpolitischen Kurses liegt McCain voll auf der Linie jener Kreise, die auch Bush unterstützt haben. Es ist klar, dass sein Wahlsieg faktisch einer »dritten Amtperiode von Bush« gleichkäme.

Diese Situation hat den Afroamerikanischen Dichter und Aktivisten Amiri Baraka veranlasst, die gegenwärtigen Wahlen mit dem Ende der Weimarer Republik zu vergleichen, als die zerstrittene Linke die Machtergreifung der Nazis ermöglichte. Dieses düstere Bild wurde von ihm gewählt, um die ernsten Gefahren zu verdeutlichen, die in den Kontroversen unter den Linken pro und contra die Unterstützung von Obama liegen. Für die linken Unterstützer von Obama handelt es sich nicht um die Wahl des »kleineren Übels«, sondern um eine Entscheidung zwischen der Fortsetzung einer unerträglichen Politik gegen die Arbeiterschaft und die Mittelklasse und die Ermöglichung einer Präsidentschaft, die in Richtung auf einen tief greifenden Politikwechsel gedrängt werden kann.

Die Absicht, Obamas Kampagne nachhaltig von links zu beeinflussen, hat schließlich zur Formierung der unabhängigen Bewegung »Fortschrittskräfte für Obama« geführt, der unter anderem bekannte Linke wie Tom Hayden, der Schauspieler Danny Glover, Bill Fletcher Jr., Carl Davidson and Barbara Ehrenreich angehören. Dieses Bündnis ist bemüht, Obama zu drängen, die US-Truppen vollständig aus dem Irak abzuziehen, mit dem Iran auf diplomatischer Ebene zu verhandeln, das Afghanistan-Abenteuer zu beenden, eine allgemeine Krankenversicherung ohne Beteiligung profitgieriger Privatversicherungen zu schaffen, ein weitreichendes Beschäftigungsprogramm für Millionen »grüner Jobs« aufzulegen und entschlossen die Finanzkrise zu bekämpfen. Die Initiatoren gehen davon aus, dass eine konstruktive, friedliche Außenpolitik und ein an den Bürgerinteressen orientiertes Wirtschafts- und Sozialprogramm jene gewaltige Woge massenhafter Unterstützung wieder beleben würde, die Obama zum Sieg bei den Vorwahlen getragen hat.

Angesichts der Kritik von einigen Linken an Obamas Hinwendung zum Zentrum haben die »Fortschrittskräfte für Obama« wieder und wieder die Notwendigkeit betont, ein breites Bündnis mit der Bewegung zu schaffen, die während Obamas Wahlkampagne entstanden ist. Eine solche Verbindung herzustellen und die inneren politischen Klärungsprozesse zu befördern, um es langfristig zu stabilisieren, das ist das wichtigste Ziel der »Fortschrittskräfte für Obama«. Für diese Aktivisten geht es darum, die Unterstützerkampagne beharrlich auf die zentralen Themen zu lenken, wodurch die Bewegung selbst ein fortschrittliches Projekt würde – unabhängig davon, was an ihrer Spitze passiert. Die Voraussetzung dafür wäre, dass die Linken in der Bewegung für Obama in der Sache konsequent bleiben, die Kampagne selbst von einer unabhängigen Position aus dazu drängen, allen Versuchen der Demoralisierung, Marginalisierung und Spaltung zu widerstehen.

Die linken Kritiker dieses Ansatzes verweisen auf die Frustration unter der Präsidentschaft Bill Clintons, der sich schließlich den vehementen Attacken der Republikaner ergab. Und sie verweisen auf die faden zentristischen und daher zu recht erfolglosen Präsidentschaftskandidaturen anderer Demokraten (Michael Dukakis 1988, Al Gore 2000, John Kerry 2004).

Derartige Kritiken übersehen jedoch die wesentlichen Unterschiede zwischen den früheren Wahlkampagnen und Präsidentschaften der Demokraten und der gegenwärtig Kandidatur.

Zum ersten findet diese in einer Krisensituation statt, die geprägt ist von Bushs katastrophalem Erbe permanenter Militärinterventionen, der Aushöhlung der Verfassung und einer ruinösen Wirtschaftsund Umweltpolitik – all dies hat zu der weitverbreiteten Auffassung geführt, dass das Land »sich in die völlig falsche Richtung entwickelt «.

Zum zweiten hat diese Krise eine machtvolle Bewegung für einen Wandel hervorgebracht – eine Bewegung, wie es sie in der Vergangenheit nicht gab, eine Bewegung, die in der Lage sein könnte, die gesamte Politik in eine neue, fortschrittliche Richtung zu drängen.

Barack Obama ist ein gewiefter Politiker, der sehr wohl die verschiedenen politischen Kräfte einzuschätzen weiß, die in der USamerikanischen Gesellschaft am Werk sind. Sein Pragmatismus könnte es ihm ermöglichen, den Interessen der Bewegung gegen die Interessen der Konzerne und Militärs, denen an einem Wandel nicht gelegen ist, Geltung zu verschaffen. Er würde möglicherweise tatsächlichen politischen Wandel durchsetzen, wenn eine machtvolle Massenbewegung den politischen Spielraum dafür erkämpft. Er hat zum Beispiel erkannt, dass es einer solchen Massenbewegung für die Durchsetzung einer allgemeinen Krankenversicherung – gegen die Interessen von Versicherungsunternehmen und der pharmazeutischen Industrie – bedarf. Seine immer wieder wiederholte Vision ist die, dass »Veränderung von unten wächst und nicht von oben verordnet werden kann«.

Im Moment deutet alles auf große Zugewinne für die Demokraten in diesem Wahljahr hin. Trotzdem liegt Obama bei vielen Meinungsumfragen nur knapp vor McCain. Sein Vorsprung ist viel geringer als dies bei anderen demokratischen Kandidaten der Fall war. Die Ursache dafür ist wohl bekannt: der anhaltende Einfluss und die Macht des weißen Rassismus in den USA. Die Bewegung, die sich um Obama geschart hat, steht vor der historischen Herausforderung, auch die weißen arbeitenden Menschen zu überzeugen, im Sinne eines aufgeklärten Selbstinteresses, dem höheren Wert Fairness zu seinem Recht zu verhelfen. Angesichts dessen, was bei den kommenden Präsidentschaftswahlen auf dem Spiel steht, ist es für das Wohl des Landes und der Welt unerlässlich diese Chance zu nutzen.

(Aus dem Amerikanischen von ARNDT HOPFMANN)


Mark Solomon ist emeritierter Professor für US-amerikanische Geschichte und Co-Vorsitzender des Verbindungsbüros für Demokratie und Sozialismus.

Anmerkungen:

»77 Senatoren des eigentlich von den oppositionellen Demokraten dominierten US-Senats stimmten für George W. Bushs völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak, unter ihnen Hillary Rodham Clinton. Am selben Tag hielt auf der Federal Plaza in Chicago der farbige Senator des Kongresses von Illinois eine aufrüttelnde Rede gegen eben diesen Krieg. Sein Name: Barack Obama.« Ingo Arend: Der Traum vom Mittelstand, in: Freitag, 1. Februar 2008.

»Dass Obamas großes Kampagnenthema der ›Versöhnung‹ und der ›Heilung der Nation‹ einen symbolischen Nerv besonders unter jungen Amerikanern trifft, überrascht vor dem Hintergrund der ideologischen Grabenkämpfe der letzten 16 Jahre nicht. Was allerdings überrascht, ist die rhetorische Wirksamkeit, mit der Obama seinen Gospel der ›Hoffnung‹ unter das Volk bringt. Kaum einen amerikanischen Politiker der letzten Jahrzehnte umgab eine so prophetische Aura. Niemand wurde, gefördert durch eine umfangreiche Grassroots-Bewegung, jemals so früh zur popkulturellen Ikone. Obama scheint es binnen weniger Monate geschafft zu haben, eine Bewegung ins Leben zu rufen, die die alten Fronten zu überbrücken glaubt.« Daniel Schreiber: Im Sog des »Wir«, in: Freitag, 29. Februar 2008.

»Obamas Versöhnungs- Messianismus zeitigt beeindruckende strategische Konsequenzen. Nicht nur prallen die nach dem alten Muster des Kulturkriegs gestrickten Charakterattacken des Clinton-Lagers an ihm ab. Auch der Versuch der Neokonservativen, ihn zur personenkultanfälligen Führerfigur zu stilisieren, verliefen bisher im Sand. Obama spricht von seiner politischen Bewegung nicht als der seinen, sondern der einer wachsenden Gruppe von Amerikanern mit dem Glauben an eine grundlegende Reform der Politik in Washington. Er inszeniert sich nicht als Produzenten des Wandels, sondern vielmehr als dessen Katalysator.« Ebenda.

»Obamas große Leistung besteht darin, dieser patriotischen Redefigur ein zeitgemäßes und authentisch wirkendes Gewand zu geben. Sein Kampagnenmotto ›Yes We Can‹, das von prominenten Befürwortern wie Scarlett Johansson und John Legend sogar zu einem hitverdächtigen Ohrwurm- Popvideo vertont wurde, konzentriert dieses demokratische, alle Bevölkerungsgruppen, Rassen und Geschlechter einschließende ›wir‹ in populistischer Reinform. Klangvolle Sätze wie ›Wir sind der Wandel, den wir suchen‹ oder ›Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben‹ gehören zum Grundvokabular von Obamas Reden und machen einen Großteil ihres Sogeffekts aus.« Ebenda.

»Ausgerechnet der 1966 geborene Politiker aus Chicago hat nach seinen überraschenden Siegen in den US-Vorwahlen der Demokraten ernstzunehmende Chancen, der erste farbige Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Mehr Chancen als Martin Luther King oder Jesse Jackson jemals besaßen. Trotz dieses bedeutenden Einschnitts steht das amerikanische Parteiensystem aber nun nicht vor einem Linksrutsch. Mag Obama auf seinen Kundgebungen auch noch so radikal ›Change‹ intonieren. An die Grundfesten des Systems rührt er nicht. Der ehemalige Sozialarbeiter aus Chicago will nämlich nur seine alte Balance wieder herstellen.« Ingo Arend, a. a. O.

»Wer in Obamas 2006 veröffentlichtem Buch ›Hoffnung wagen‹ nach den Spuren des Linken sucht, als der Obama in den Medien gelegentlich dargestellt wird, sieht sich enttäuscht. Zwar verhehlt der 2006 in den US-Senat gewählte Mann eines Kenianers und einer US-Bürgerin nicht, von der ›dionysischen Qualität‹ der antiautoritären Ära der sechziger Jahre fasziniert gewesen zu sein. Doch schnell gab er den Vorsatz auf, der ›Rebell‹ zu sein, den er sich einst vorgenommen hatte. (…) Das Ergebnis dieser Revision: Ein Lob der freien Markwirtschaft, des Unternehmertums, der militärischen Stärke und das – verhaltene – Bekenntnis zur Todesstrafe.« Ingo Arend, a. a. O.

»George W. Bush wird wohl als einer der unbeliebtesten und unfähigsten Präsidenten in die Geschichte eingehen. Der konservativen Bewegung ist der Dampf ausgegangen nach gut 30 Jahren auf dem Weg von Barry Goldwater über Richard Nixon und Ronald Reagan bis Bush, dem Weg von der ›schweigenden Mehrheit‹ zur ›moralischen Mehrheit‹.« Konrad Ege: Der komplexe Konservative, in: Freitag, 30. Mai 2008.

»Die Demokratische Partei ist gespalten. Es kollidieren die Wünsche von Abgeordneten aus Schwer- und Autoindustrieregionen mit grünen Plänen. Auch die Kohle hat Freunde bei den Demokraten, auch bei Barack Obama, dem Senator aus dem kohleproduzierenden Illinois.« Ders.: Noch scheint ja die Sonne, in: Freitag, 30. November 2007

»Bush und seine Republikaner haben regiert durch Polarisieren. Wahlen wurden gewonnen mit Hilfe der Geldgeber, die von Bush profitierten, und einem rechten Kern (vor allem weiße Männer), der permanent empört war über Benachteiligungen und unamerikanische Untaten der Liberalen. 2008 ist die Atmosphäre anders. McCain gewann die Vorwahlen trotz rechter Hetze, nach der er unter anderem wegen seiner relativen sozialpolitischen Toleranz und seiner relativ liberalen Haltung zur Einwanderung und zum Umweltschutz kein verlässlicher Konservativer sei. McCain betont, er wolle nicht polarisieren. Vor allem will er das Gefühl vermitteln, Amerika wäre bei ihm in guten und erfahrenen Händen.« Ders.: Der komplexe Konservative, in: Freitag, 30. Mai 2008

»Obama will das amerikanische Haushaltsdefizit verringern, die US-Truppen aus dem Irak abziehen und gegen den Klimawandel kämpfen. Ein linker Flügel ist der amerikanischen Demokratie mit diesem – in Europa selbstverständlichen – Programm noch nicht gewachsen. Aber nach den Jahren der Bush’schen Arroganz ist der selbstreflexive, skrupulöse Politikertypus, den dieser Mann repräsentiert, vielleicht ein kleiner Fortschritt«. Ingo Arend: Der Traum vom Mittelstand, in: Freitag, 1. Februar 2008.

in: UTOPIE kreativ, H. 217 (November 2008), S. 965-976

aus dem Inhalt:
Gastkolumne Essay MARK SOLOMON: Die Linke in den USA und das »Barack-Obama-Phänomen« Föderalismusreform MARIAN KRÜGER: Ein Projekt der Entstaatlichung. Einige Anmerkungen zur Debatte um die Föderalismusreform II Stalinismusdebatte CHRISTOPH JÜNKE: Sechs Thesen zum langen Schatten des Stalinismus Gesellschaft – Analysen & Alternativen MARTIN BRAND: Die Europäische Nachbarschaftspolitik – ein neoliberales Projekt? ASTRID BÖTTICHER: Islamophobie und Antisemitismus. Ein Vergleich der Grundkonzeptionen HORST BETHGE: Grüne Schrift – schwarzer Text Zur Person MARIO KESSLER: »Dann fangen wir von vorne an«. Drei neue Bücher und ein Film von und über Theodor Bergmann Konferenzen & Veranstaltungen CORNELIA HILDEBRANDT: Kindeswohl und Kinderrechte Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital« (KOLJA LINDNER) Michael Baade (Hrsg): Von Moskau nach Worpswede. Jan Vogeler. Sohn des Malers Heinrich Vogeler. Mit Bildern und Briefen von Heinrich Vogeler (PETER SCHAUBERT) Günter Benser (Hrsg.): Älter ist nicht alt genug. Henryk Skrzypczak. Festschrift zum 80. Geburtstag (THEODOR BERGMANN) Richard Heigl: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken (ANDREAS DIERS) Steffi Holz: Alltägliche Ungewissheit. Erfahrungen von Frauen in Abschiebehaft. Mit Fotos von Leona Goldstein (KATHRIN HEROLD) Summaries