Zeitdiagnosen

Ein Versuch, die Zeichen der Zeit zu verstehen und auf den Punkt zu bringen

Die Frage nach der Situation der jeweiligen Zeit haben sich Menschen – zumindest seit der Herausbildung der Moderne – immer wieder gestellt. Und gesellschaftliche Zustände zu bearbeiten, zu beschreiben, zu diskutieren, ist seit langem Anliegen verschiedener Zünfte – von Literaten, Journalisten, Künstlern; aber eben auch von Sozialwissenschaftlern.

Sozialwissenschaftler bzw. Soziologen geht es mit ihren Zeitdiagnosen um den Versuch, „Die Zeichen der Zeit“ zu verstehen (Hegel) und auf den Punkt zu bringen. Oder anders betrachtet, im bestehenden Chaos einen gewissen Sinn heraus zu filtern, zumindest aber Inseln des Verstehens des komplexen Geschehens zu verdeutlichen. Eben Orientierungswissen als Angebote zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene zu unterbreiten, und für neue gesellschaftliche Herausforderungen und Problemsituationen Antworten zu finden.

In unserer Zeit, charakterisiert durch eine Welt in Aufruhr und eine Gesellschaft im Umbruch, durch zunehmende Verunsicherungen und Ängste in der Bevölkerung angesichts sich zuspitzender Konflikte und Krisen, ist der individuelle und gesellschaftliche Bedarf an Zeitdiagnosen enorm gewachsen.

Soziologische Zeitdiagnosen befassen sich deshalb mit der Gesellschaft als Ganzem, mit der Beschreibung ihres spezifischen Zustandes, aber nicht nur als Augenblickssituation, sondern als Epochenphänomen und Produkt gesellschaftlicher Evolution. Sie suchen darüber hinaus nach dem Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft. Ihr Blick ist aber nicht allein auf nationale Gesellschaften, sondern zugleich auf die Weltgesellschaft gerichtet. Sie versuchen, die Gefährdungspotenziale und Krisen, besonders den kritischen Punkt, den historischen Bruch in der Gesellschaft zu erfassen. Deshalb spielen solche Leitbegriffe wie Epoche, Gesellschaft, Krise, Kipppunkte, Bruch, Übergangszeiten, Hegemonie und Transformation in Zeitdiagnosen eine besondere Rolle.

Zeitdiagnosen liegen zugleich unterschiedliche Perspektiven zugrunde – sozialökonomische (Wandel von Ökonomie und Politik), sozialstrukturelle (Wandel der Klassen- und Sozialstruktur), oder eben wie in unserem Fall sozialökologische, d. h. Wandel der Produktions- und Lebensweise. Für die gegenwärtige Zeitdiagnose gewinnt letztere Perspektive eine besondere Relevanz, denn hierin widerspiegelt sich heute der Transformations- und Gesellschaftskonflikt und die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung.

Will man eine aktuelle Zeitdiagnose erstellen, lohnt sich ein Blick in die lange und anregende Tradition soziologischer Zeitdiagnosen. So hat der Berliner Soziologe Hans-Peter Müller z. B. in einer umfassenden und fundierten Arbeit die soziologischen Zeitdiagnosen der Klassiker untersucht (2021). Im Mittelpunkt stehen für ihn die Arbeiten von Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Emil Durkheim, Georg Simmel und Max Weber. So verallgemeinert er die Zeitdiagnose von Karl Marx als „Kapitalismus und Sozialismus als wahrer Humanismus“, die von Alexis de Tocqueville als „Demokratie als moderne Lebensform“ oder die von Max Weber als „Ambivalenzen der Moderne und autonome Lebensführung“.

Keine Frage, in dieser historisch ersten Phase der Debatten um sozialen Wandel und speziell um Evolution, Revolution und Transformation (Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts) wurde ein theoretisches Fundament gelegt, auf das das soziologische Denken und speziell die Sozialforschung bis heute zurückgreifen können (s. auch Reißig 2009).

Auch das 20. Jahrhundert war geprägt durch die Erarbeitung und Diskussion unterschiedlicher soziologischer Zeitdiagnosen. Dafür stehen u. a. die von Ulrich Beck, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens (vgl. Heiser 2021), aber nicht zuletzt auch die von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann (s. Schimank/Volkmann 2007). Mit ihren kritischen Zeit- und Gegenwartsdiagnosen deuten gerade die – von mir an anderer Stelle genauer untersuchten – Zeitdiagnosen von Jürgen Habermas („Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“, 1979) sowie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) Konflikte, Krisen, Trends in einer Übergangszeit an, die sich in Zukunft weiter vertiefen und zuspitzen sollten.

Tatsächlich entstand in den 2000er Jahren ein breites Feld sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die die Gesellschaft und ihren Zustand kritisch in den Blick nehmen. Verwiesen sei hier u. a. auf die von Thomas Piketty (2010), Immanuel Wallerstein (2002), Richard Sennet (2005), Ulrich Busch/Rainer Land (2013), Hartmut Rosa (2015), Oliver Nachtwey (2016), Andreas Reckwitz (2017, 2019), Joseph Vogl (2021), Klaus Dörre (2021), Michael Brie (2022) und Stephan Lessenich (2022). Es handelt sich bei diesen Arbeiten zumeist um gesellschaftstheoretisch und gesellschaftskritisch angelegte Arbeiten, die weniger beabsichtigten, Zeitdiagnosen im o. g. Sinne zu erstellen. Will man sie dennoch auf einen Punkt bringen, so könnten sie z. B. lauten: „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz), „Dynamisierungs- und Beschleunigungs-Gesellschaft“ (Rosa), „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Lessenich), „Abstiegs-Gesellschaft“ (Nachtwey), „Anpassungs-Gesellschaft“ (Staab). Keine Frage, es handelt sich hier um markante Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen im heutigen Diskurs.

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Meines Erachtens sind diese heutige Zeit und diese heutige Gesellschaft aber mit „Zeit historischen Umbruchs“ und mit „Umbruch-Gesellschaft“ am adäquatesten zu erfassen, zu erklären und zu deuten. Denn der heutige Zustand von Zeit und Gesellschaft ist – um es auf einen Punkt zu bringen – wesentlich durch ein grundlegendes und so bislang nicht gekanntes historisches Umbruchszenario gekennzeichnet. Umbruch ist der kritische Punkt, das allgemeine, übergreifende und alles bestimmende Merkmal dieser heutigen Zeit, dieser heutigen Gesellschaft. Genau genommen ist es ein dreifacher Umbruchprozess, der die heutige Zeit und die Gegenwartsgesellschaften charakterisiert.

Zum einen befindet sich die globale Welt im Umbruch, die alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens erfasst. Es ist ein historischer Epochenbruch, -wechsel, der auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Mensch-Natur-Produktion basiert.

Unsere Gegenwart hat ihren Anfang in der industriell-fossilen Revolution und dieser Anfang ist an einen Wendepunkt gekommen. Nach der Neolithischen Revolution (Übergang zur Agrargesellschaft) und der Industriellen Revolution (Übergang zur Industriegesellschaft) geht es nun um die dritte große Transformation der Menschheitsgeschichte, um einen fundamentalen Wandel der Produktions- und Lebensweise, der mit „postfossiler“, „nachhaltiger“ Entwicklung allgemein beschrieben wird. Es handelt sich hier um einen Einschnitt im Evolutionszyklus, in langfristig-historische Epochenverläufe und -wechsel. Dieser historische Übergang ist heute zugleich mit einer „Produktivkraftrevolution“ (Digitalisierung, Kybernetik, KI) verbunden.

Zum anderen fällt dieser Epochenbruch gegenwärtig mit einem Wechsel im Modus sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen/-pfade zusammen. Für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lassen sich im Prinzip für alle westlichen Gesellschaften zwei solche aufeinander folgende Entwicklungszyklen/-pfade identifizieren. Zum einen der, der mit „Teilhabekapitalismus“ (Busch/Land) bzw. „Soziale Moderne“ (Nachtwey) charakterisiert wird; und der, der seit Mitte/Ende der 1970er Jahre sich durchsetzte und als „Marktradikaler/neoliberaler Pfad“ bezeichnet wird. Die heutige Zeit ist nun charakterisiert durch die Erosion des Jahrzehnte lang dominierenden neoliberalen Regulations- und Entwicklungspfades und die Herausbildung eines „Interregnums“ (Gramsci), in dem unterschiedliche Bewegungen mit unterschiedlichen Projekten um gesellschaftliche Hegemonie ringen.

Hier handelt es sich um einen Einschnitt, um einen Wechsel in den Entwicklungszyklen von Wirtschaft und Gesellschaft. Nach der „Teilhabe- bzw. Aufstiegsgesellschaft“, der neoliberalen „Marktgesellschaft“ befinden wir uns heute in einer umkämpften postneoliberalen Zwischenzeit bzw. einem Interregnum.

Und schließlich ist die heutige Zeit zugleich durch fundamentale geopolitische Umbrüche im Rahmen einer sich auflösenden alten Weltordnung, durch Prozesse der Ablösung und Neukonstitution hegemonial-politischer Machtpositionen charakterisiert. Dies ist ein Einschnitt in den geopolitischen Hegemonialzyklen.

Der Ukraine-Krieg zwischen Russland einerseits und den USA, der NATO andererseits ist das jüngste, verhängnisvolle Beispiel dieser weltpolitischen Auseinandersetzung um globale Hegemonie.

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Meiner Suche nach einer Zeitdiagnose heute liegt also ein doppelter Zeitbegriff zugrunde. Zeit als „Zeit historischen Umbruchs“ bzw. „Übergangszeit“ zu einer neuen sozialen Formation. Und Zeit als „Zeit des Wechsels sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen“ innerhalb einer Gesellschaftsformation. Heute geht es angesichts einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Moderne (Polykrise, Adam Tooze), speziell des fossilistisch-kapitalistischen Entwicklungsmodells mit seinem Zerstörungspotenzial für Natur, Mensch und Gesellschaft um einen historischen Umbruch, um ein neues gesellschaftliches Entwicklungsmodell (vgl. auch Reißig 2019, 2023). Das erfordert einen Übergang von der expansiven industriell-fossilen zu einer postfossilen, zu einer ökologischen, nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Produktions- und Lebensweise.

Auf die historische Agenda sind damit ein Umbruch und Wandel gesetzt, mit denen es Gesellschaften in dieser Art und Weise noch nie zu tun hatten. Darin offenbart sich das Besondere dieser Umbruch-Gesellschaft und ihre einmalige Herausforderung. Nur ist diese Zeit historischen Umbruchs als ein komplexer, evolutionärer und transformativ zu gestaltender sowie hart umkämpfter Prozess zu verstehen. Und auch, dass dessen Zukunft – wie Geschichte generell – offen bleibt.

Im gegenwärtigen post-neoliberalen Entwicklungsabschnitt ringen, wie gesagt, unterschiedliche Bewegungen mit unterschiedlichen und entgegengesetzten Projekten um gesellschaftliche Alternativen und letztlich um Hegemonie. Es ist hier nicht der Platz, um dies im Einzelnen zu beschreiben. Sie können – bezogen auf den hier betrachteten sozial-ökologischen Transformations- und Gesellschaftskonflikt – m. E. zum einen als regressive, zumeist populistisch-nationalistische Bewegungen und Konzepte mit der Verteidigung der fossilistischen Produktions- und Lebensweise, dem „Zurück in die Vergangenheit, in die gute alte Normalität“ charakterisiert werden. Zum anderen als Anpassungs- und reformerische Bewegungen und Konzepte mit grün-liberaler, sozialdemokratischer und konservativer Ausrichtung, die auf unterschiedliche Art mittels Anpassung und begrenzter Reformierung versuchen, die Krisen zu „managen“, auszutarieren und zugleich neue Akkumulationsfelder zu erschließen und so Zukunft als „konservativ-fossilistische Modernisierung“ oder als „Grünen Kapitalismus“, „Green Deal“ zu erschließen. Dabei setzen sie vor allem auf technologische und marktorientierte Krisenlösungen und Entwicklungswege.

Und schließlich als Transformative Bewegungen – in Gesellschaft, Wissenschaft und Teilen der Politik – mit den längerfristigen Konzepten einer an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit orientierten Transformation. Diese bilden gegenwärtig im politischen und gesellschaftlichen Raum jedoch eine Minderheit.

Generell ist festzuhalten, dass sich in den letzten Jahren die Blockaden für eine progressive Transformation bedeutend verstärkt haben – strukturell, institutionell, im politisch-strategischen Kräfteverhältnis und nicht zuletzt in der geistig-politischen Situation, die sich schrittweise nach rechts verschoben hat. Und der einst von der Ampel angekündete Gesellschaftsvertrag – „Grüne Transformation“ einerseits und „Anerkennung“, „Respekt“, „Individuelle Entfaltungsmöglichkeiten“ andererseits – der das Potenzial für ein hegemoniales Projekt grüner Transformation hatte, ist durch eine ganz andere Politik und Praxis unglaubwürdig und damit erst einmal hinfällig geworden. Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung geht auch deshalb ständig zurück. Inzwischen wird gar „Transformation“ durch (militärische) „Sicherheit“ und „Transformationsfähigkeit“ durch „Kriegsfähigkeit“ ersetzt.

Die Umbruch-Gesellschaft hat sich auch hierzulande bislang also nicht in eine Transformations-Gesellschaft, die sich den neuen sozial-ökologischen Herausforderungen stellt, entwickelt. Trotz der nicht zu übersehenden Kräfteverschiebungen und Transformationsblockaden schreibt der Club of Rome in seinem jüngsten Bericht („Welt für Alle“ 2022) zum globalen Umbruch: „Wir stehen an einem Scheideweg […] doch es ist noch nicht zu spät“, wenn im nächsten Jahrzehnt zumindest die Weichen in Richtung eines sozialen und ökologischen Entwicklungspfades gestellt werden. Das alles gehe nicht ohne Eingriffe in das kapitalistische Wirtschaftssystem.

Im Kontext eines komplexen evolutionären Entwicklungsprozesses gewinnen heute, so jüngst auch der Weltklimarat (2023), das gesellschaftliche Handeln und der politische Wille entscheidende Bedeutung. Denn, so kann man feststellen, es ist sowohl bekannt, wo die Probleme liegen und wie Lösungen in Gang zu setzen wären. Auch die materiell-technischen und selbst die finanziellen Mittel sind weltweit (z. Z. 454 Billionen US-Dollar privates Kapitalvermögen) vorhanden. Nur passiert in der Praxis des Handelns von Gesellschaft und Politik wenig, zumindest viel zu wenig, um die Weichen in o. g. Richtung zu stellen. Das Zeitfenster schließt sich damit immer weiter.

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Ein Blick auf die gegenwärtige Umbruch-Gesellschaft zeigt: Vorerst sind eine Koexistenz und Auseinandersetzung unterschiedlicher Bewegungen, gesellschaftlicher Projekte und auch sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungspfade wahrnehmbar. Letzteres vor allem in Gestalt der Verteidigung und Fortführung „Fossilistischer Produktions- und Lebensweise“ und Ansätzen einer „Grün-kapitalistischen Entwicklung“ (Green Deal). Zugleich vollziehen sich systemische Anpassungsprozesse an die Produktivkraftrevolution durch Übergänge zu einer dekarbonierten und digitalen Betriebs- und kybernetischen Produktionsweise (u. a. Komlosy 2022) unter Nutzung der Künstlichen Intelligenz.

Die Frage nach dem hegemonialen Entwicklungspfad ist in der heutigen Umbruch-Gesellschaft noch nicht entschieden. Trotz der überwölbenden und sich verstärkenden Transformations-Blockaden und Gegenbewegungen sind noch nicht alle Tore verschlossen. Angesichts der heutigen Konfliktstruktur und Interessen sowie Kräftekonstellationen sind verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten denkbar. Chancen einer postfossilen, nachhaltigen Entwicklung können unter veränderten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen längerfristig ebenso noch gesellschaftliche Praxis werden wie – bei Überschreiten der ökologischen Kipppunkte und bei Vertiefung und Zuspitzung der globalen Konflikte und Auseinandersetzungen – Katastrophen und Niedergangsprozesse.

Abwarten und Passivität wären gerade für die progressiven Kräfte in diesen Zeiten historischen Umbruchs und historischer Wendepunkte die falsche Antwort. Erforderlich scheint z. B., dass die Transformationsakteure auch in den ambivalenten Tendenzen postfossiler, grün-kapitalistischer Entwicklung nach Anknüpfungspunkten suchen, um diese nach Möglichkeit schrittweise in Richtung einer weiterführenden, eben öko-sozialen Transformation zu verschieben. Und gleichzeitig gilt es, das Ringen um eigene praktisch-transformative Projekte und um sozio-politische Machtpositionen Unten und Oben mit einem glaubwürdigen Zukunftsnarrativ von einem „Guten Leben in einer solidarischen Gesellschaft“ und einer „Sicheren Zukunft“ zu verbinden. Denn so oder so dürfte feststehen, dass ein zukunftsfähiger Entwicklungspfad eine nachhaltige und sozial gerechte Transformation erfordert.