»Wokeness ist ein Kampfbegriff«

Interview mit Veronika Kracher zum Kampf um Deutungshoheit

iz3w: Deutsche Kritiker*innen von Identitätspolitik behaupten oft, dass identitätspolitische Ideen ein Import aus den USA wären. Was ist da dran?

Veronika Kracher: Der identitätspolitische Diskurs wird primär mit den USA assoziiert, aufgrund der historisch-gesellschaftlich spezifischen Aspekte, wie zum Beispiel der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei. Aber das Grundproblem, dass Menschen durch gesellschaftliches Othering in eine Identität gepresst werden und sich dagegen wehren müssen, gibt es überall. Schon Hannah Arendt sagte einmal, dass es legitim ist, sich aus dieser zugeschriebenen Identität heraus zu wehren, wenn man wegen dieser angegriffen wird. In Deutschland gibt es aufgrund rassistischer Erfahrungen ähnliche Debatten. Aber man kann Theorien nicht eins zu eins übertragen. Man muss sich die Spezifika von Gesellschaftssystemen anschauen, in denen sich diese Identitäten bilden.

Die schärfste Kritik kommt gerade von Menschen, die sich selbst immens an ihrer Identität aufhängen. Nur ist diese eben weiß, hetero, cis-geschlechtlich und oft bürgerlich. Aber diese Identitäten gelten als ‚normal‘ und sind hegemonial. Marginalisierte Gruppen wie Frauen, People of Color, queere Menschen, Jüdinnen und Juden sowie proletarische Menschen hingegen zeigen auf, warum ihre Identität mit Unterdrückung verbunden ist. Identitätspolitik wird im hegemonialen Diskurs nur dann problematisiert, wenn das ‚Andere‘ sich positiv darauf bezieht und sagt: Unsere Kämpfe sind Ausdruck unserer Identität.

 

Immer wieder geht es dabei um den Begriff der Wokeness. Worum geht es dabei eigentlich?

Das ist ein Kampfbegriff und es ist umkämpfter Begriff. Der aktuelle Diskurs beschreibt die reaktionäre Angst vor der Emanzipation Marginalisierter und dass diese Emanzipation auch ausgefochten wird. Dabei greift man aber auf alte Muster zurück. Die bürgerliche Horrorvorstellung von einem sogenannten Kulturmarxismus, der die Gesellschaft in kommunistischer Absicht durchsetzt, gibt es schon lange. In den USA traf diese Hetze zunächst vor allem die Frankfurter Schule, also überwiegend jüdische Kommunist*innen, die vor den Nazis geflohen waren. Besonders der Theoretiker Herbert Marcuse avancierte zum Feindbild der Rechten. Das hatte immer schon verschwörungstheoretische Züge: die Vorstellung einer, oft jüdisch imaginierten, Linken, die großen Einfluss auf die kulturelle Sphäre, Hollywood und die Universitäten nehme. In den 1950er-Jahren wurde diese Panik vor der vermeintlichen kommunistischen Bedrohung als »Red Scare« bezeichnet. In Anlehnung daran wird mit Blick auf Homosexualität auch vom »Lavender Scare« gesprochen: der Angst, dass schwule Kommunisten Hollywoodfilme für ihre homosexuelle Propaganda benutzten. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Antifeminismus, Antikommunismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit eng miteinander verwoben sind. Wirklich definieren, was Wokeness ist, kann keiner der rechten Akteur*innen, die mit dem Begriff um sich werfen.

 

Wie würdest du Wokeness definieren?

Der Begriff kommt ursprünglich aus der Schwarzen antirassistischen Bewegung in den USA und beschreibt die Erkenntnis, dass man in einer strukturell rassistischen Gesellschaft lebt, der rassistische Gewalt auf allen gesellschaftlichen Ebenen – ökonomisch, kulturell, zwischenmenschlich – fest eingeschrieben ist. Und das nicht erst seit kurzem, vielmehr sind die USA auf brutalem Rassismus aufgebaut – ihre Entstehungsgeschichte ist eine Geschichte des Rassismus, von den genozidalen Verbrechen des Siedlerkolonialsmus über die Sklaverei bis zu den Jim-Crow-Gesetzen.

Wokeness meint wortwörtlich ‚aufgewacht sein‘, es geht darum, als von Rassismus betroffene Person aufzuwachen – also den Verblendungszusammenhang zu erkennen: Dieses Land ist rassistisch und ich habe diesen Rassismus auch internalisiert. Es ist ursprünglich ein Begriff, der die Realisierung von und die Auseinandersetzung mit struktureller Gewalt beschreibt

 

Die Debatten über das Thema sind von großer Aufregung gekennzeichnet. Warum werden die Menschen so emotional bei dem Thema?

Gerade reaktionäre Ideologien sind ja keinesfalls rational, sondern von Gefühlen und Affekten geprägt. Ein Beispiel ist der Begriff Cancel Culture: Es wird behauptet, dass es eine bedrohliche, übermächtige linke feministische Agenda gibt, die bei jedem kleinen Fehltritt Karrieren zerstört. Aber: Würden Sexualstraftäter wirklich politische Ämter bekleiden oder Filmpreise gewinnen, wenn es eine solche Gesinnungspolizei tatsächlich gäbe? Das Aufbauschen dieser Bedrohungsszenarien dient oft dazu, dass diejenigen, die von einer bürgerlichen, patriarchalen und weißen Vorherrschaft profitieren, sich als Unterdrückte und Rebellen fühlen können. Das Verbrennen von Regenbogenfahnen wird als Akt der Revolte dargestellt. Tatsächlich ist es eine aggressive Handlung gegen die queere Community. Die Kritische Theorie spricht in diesem Zusammenhang von pathischer, also autoritärer, Projektion. Volker Weiß hat das in seinem gleichnamigen Buch als »autoritäre Revolte« bezeichnet.

 

Identitätspolitik hat auch Floridas rechter Gouverneur Ron de Santis zu seinem Feindbild erklärt. Wie ordnest du ihn ein?

De Santis ist brandgefährlich. Er vertritt einen christlichen, weißen, patriarchalen Nationalismus, in dem es nichts geben darf als eine auf patriarchaler Herrschaft aufgebaute heteronormative Kleinfamilie. Seine Gesetze umfassen etwa das Verbot von Büchern an Schulen. Nicht nur dort soll das Sprechen über Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit komplett verboten werden. Das sind gruselige Entwicklungen in Florida und solche Gesetzgebung kann man als faschistisch bezeichnen – mit furchtbaren Folgen für die queere Community und alle anderen Menschen. Er sagte einmal: »Florida ist der Staat, wo Wokeness hingeht, um zu sterben.« Queere Menschen haben für ihn kein Recht zu existieren. Er verbietet ihnen geschlechtsangleichende Maßnahmen und erlässt Gesetze, die sie ins Gefängnis bringen können, wenn sie die ‚falsche‘ Toilette benutzen. Zugleich versucht er, die Kontrolle über weibliche Körper zu erlangen, indem er Abtreibungsverbote einführt. Nun will er Präsident werden und die ganzen USA nach dem Vorbild Floridas umbauen.

 

Manches an Identitätspolitik kann man auch von links kritisieren: Es gibt Tendenzen zum Essentialismus und auch liberale Verkürzungen von Gesellschaftskritik. Wie kann man nötige Kritik üben, ohne die rechten Narrative zu stärken?

Eine linke Kritik muss das wechselseitige Verhältnis von eigener Unterdrückungserfahrung und gesellschaftlich vermittelter Herrschaft sinnvoll bestimmen. Wichtig ist, dass Identität nicht allein nur durch Diskurse entsteht, sondern aus gesellschaftlicher Herrschaft und Unterdrückung resultiert. Gleichzeitig sind die Zwänge von Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit wechselseitig mit ökonomischer Ausbeutung verknüpft. Das eben begreifen auch manche linke Kritiker*innen von Identitätspolitik, wie etwa Sahra Wagenknecht, nicht. Sie machen da einen Strohmann auf und behaupten, dass antirassistische und queere Identitätspolitik die Klassenfrage vernachlässige. Das ist Unsinn. Sind nicht auch proletarische Menschen von Rassismus und Sexismus betroffen? Diese Behauptungen delegitimiert die Kämpfe mehrfach marginalisierter Menschen. Leider gibt es in sozialistischen und kommunistischen Bewegungen eine lange Tradition, in der linke Frauen daran gehindert wurden, sich feministisch zu organisieren. Auch hier greift die Angst, patriarchale Vorherrschaft zu verlieren. Die Befreiung der Frau geht auch nicht automatisch mit dem Eintritt des Sozialismus einher, sondern sie ist ein Kampf im Hier und Jetzt.

 

Also lieber auch die linke Kritik der Identitätspolitik kritisieren?

Ja. Einige linke Aversion gegen Identitätspolitik kommt auch daher, dass es schmerzhafte Prozesse sind, sich mit der eigenen Verstrickung in Unterdrückungszusammenhängen auseinanderzusetzen. Denn ich sehe mich ja als eine der Guten! Und dann zu realisieren: Veronika, da sind so ein paar Sachen, die du gemacht hast, die sind nicht cool. Das ist schwierig! Ebenso ist es bei den linken Männern, denen es weh tut, sich mit patriarchaler Gewalt – und ihrer eigenen Gewalt – zu beschäftigen. Sie haben ja einerseits dieses Selbstbild als progressive Typen. Aber andererseits wollen sie die Vorteile der patriarchalen Vorherrschaft nicht verlieren. Das ist eine schwierige Diskussion. Aber wenn wir emanzipatorisch kämpfen wollen, müssen wir uns dem stellen, egal wie weh es tut.

 

 

Das Interview führte Kathi King (iz3w).