Ideologie auf leisen Sohlen

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)

Tilman Brand

Ideologie auf leisen Sohlen
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist eine der zahlreichen so genannten Reforminitiativen, die seit Ende der 1990er Jahren gegründet worden sind. Die Gemeinsamkeit dieser Initiativen besteht im Werben für eine neoliberale Umgestaltung der bundesrepublikanischen Gesellschafts-ordnung. Durch ihre üppige finanzielle Ausstattung, gewährleistetet durch den Arbeitgeberverband Gesamtmetall, die Langfristigkeit ihrer Strategie, die Prominenz der Unterstützer und ihr professionelles Marketing ragt die INSM aus der Zahl der anderen Initiativen heraus. Aufgrund manch Aufsehen erregender Plakat- und Anzeigenaktion von der Zeit als "Lautsprecher des Kapitals" (Hamann 2005) bezeichnet, vollzieht sich das eigentliche Wirken der INSM jedoch auf leisen Sohlen. Die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle, der Einsatz von "Botschaftern" und "Kuratoren" als Multiplikatoren und Schleichwerbung dienen dazu, die INSM als Sender ihrer Botschaften verschwinden zu lassen. Die INSM bedient sich zudem in ihren Botschaften positiv besetzter Begriffe und ist bemüht, den Eindruck von Ü-berparteilichkeit und Ideologiefreiheit zu vermitteln. Auf diesen Schleichwegen versucht die INSM, neoliberales Gedankengut zum unhinterfragten Bestandteil der Wahrnehmung der Gesellschaft zu machen.
Die Aktivitäten der INSM werden im Folgenden vor dem Hintergrund der Theorie der symbolischen Gewalt von Pierre Bourdieu und dessen Auseinan-dersetzung mit dem Neoliberalismus analysiert. Bourdieu geht davon aus, dass alle Formen der Herrschaft der symbolischen Legitimation bedürfen. Letztere äußert sich in einer scheinbar freiwilligen Annerkennung der Herr-schenden durch die Beherrschten. In symbolischen Kämpfen versuchen ver-schiedene gesellschaftliche Gruppen ihre Definition der gesellschaftlichen Ord-nung durchzusetzen und zu generalisieren, so dass sie in die geteilten Wahr-nehmungs- und Bewertungsschemata der Mitglieder einer Gesellschaft, die do-xa, eingehen. Indem Grundsätze der Herrschaft zum Bestandteil der doxa wer-den, entfaltet sich die symbolische Gewalt in Form der scheinbar freiwilligen Anerkennung der Herrschaftsverhältnisse, da der Beherrschte, "um jenen [den Herrschenden] und sich selber zu denken, nur über die Erkenntnismittel ver-fügt, die er mit ihm teilt und die nichts anderes als die inkorporierte Form der Herrschaftsverhältnisse sind" (Bourdieu 1997: 164). Die im Grunde erzwun-gene Anerkennung wird demnach dadurch hergestellt, dass die Beherrschten in den symbolischen Kämpfen der kritischen Erkenntnismittel beraubt wer-den. Bourdieu benutzt das Konzept der symbolischen Gewalt, um die Trans-formation der Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen den Feldern der Ökonomie, der Politik und der Kultur sichtbar zu machen und diese zu kriti-sieren. Das Bourdieusche Konzept weist dabei starke Ähnlichkeiten zum He-gemonie-Konzept Antonio Gramscis auf und stellt thematisch wie konzepti-onell einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt für marxistische Herrschafts- und Ideologiekritik dar, auch wenn sich kritisieren ließe, dass Bourdieu keine ein-gehende Kritik der politischen Ökonomie vorlegt (vgl. Herkommer 2004: 25).
In Bezug auf den Neoliberalismus geht es um die Transformation ökonomischer Macht in symbolische Macht bzw. kulturelle Hegemonie. Die symbolische Gewalt vollzieht sich in der Jahrzehnte langen symbolischen Berieselung mit neoliberalen Ideen. Der angestrebte Übergang dieser Ideen in die gesellschaftliche doxa hat die Funktion, die "Reformbereitschaft der Bevölkerung" als eine Voraussetzung für die politische Umgestaltung der Gesellschaft zu stärken. In westeuropäischen Ländern und den USA haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Reihe von Think Tanks, Intellektu-ellen, Journalist/innen und sonstige Medienvertreter/innen als Propheten des Neoliberalismus daran gearbeitet, neoliberale Theoreme in der Zeit des keynesianischen Konsenses zunächst salonfähig zu machen, um den Neoliberalismus dann als neue Orthodoxie zu etablieren (vgl. Dixon 2000). Die Krise der keynesianisch orientierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den 1970er Jahren bereitete dabei den Nährboden dieses Umsturzes. Der Anschein der Modernität und Vernunft, welcher in den Wirtschaftswissenschaften durch die Mathematisierung und in der medialen Kommunikation durch positiv wirkende Begriffe wie "Flexibilität", "Mobilität" oder "Verschlankung" verbürgt wird, lässt den Neoliberalismus als pensée unique, als einheitliche, alternativlose Denkweise erscheinen. Das neoliberale Denken stellt daher nach Bourdieu in seiner scheinbaren Ausweglosigkeit eine Art rationale Religion dar (Bourdieu 1997a: 15).
Die Produktion des neoliberalen Diskurses in den Think Tanks und dessen Zirkulation in den Medien ist die Voraussetzung dafür, dass sich diese neue "Religion" in den Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der Individuen festsetzen konnte. Im Folgenden wird es daher um die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft als einen Think Tank gehen, dessen Strategie explizit darauf zielt, die Zustimmung in der Bevölkerung zu neoliberalen Konzepten zu stei-gern.

Die INSM als neoliberaler Think Tank

Think Tanks sind im Allgemeinen Organisationen, die sich an der Schnittstel-le zwischen wissenschaftlichem, politischem, wirtschaftlichem und medialem Feld befinden. Nach Gellner lassen sich dabei zwei grundlegende Typen un-terscheiden: "wahre" und "politische" Think Tanks (vgl. Gellner 1994: 18). Erstere werden auch als "Universitäten ohne Studenten" bezeichnet. Wie der Name schon sagt, steht hier die wissenschaftliche Forschung von Experten-gruppen im Vordergrund. Die INSM ist dem Typus des "politischen" Think Tanks zuzuordnen; dieser Typ wird von Dixon auch als "advocacy tank" be-zeichnet (Dixon 2000: 8). Das Wesen dieses Organisationstyps besteht darin, "Ideen als Produkte zu entwickeln, sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten und im Sinne einer strategischen Kommunikation einer bestimmten Klientel zur Verfügung zu stellen" (Gellner 1994: 18). Im politischen Prozess sind sie vor allem in den Phasen der Themenidentifikation (issue identification) und The-matisierung (agenda-setting) von Bedeutung (vgl. Gellner 1994: 27). Die Ad-ressaten sind politische Entscheidungsträger/innen, Verwaltungen und vor al-lem - und darauf liegt der Fokus der INSM - die Öffentlichkeit. Eine der The-sen Gellners besagt, dass von Nicht-Fachleuten der Wahrheitsgehalt einer an-gebotenen Information nicht eingeschätzt werden kann und es dadurch die nichtwissenschaftlichen Faktoren wie Rhetorik, Stilistik und Telegenität sind, die den Ausschlag für ihre Überzeugungskraft geben (vgl. Gellner 1994: 19).
Die INSM gehört zu den seit Ende der 1990er Jahre zuhauf gegründeten "Re-forminitiativen", die mit Namen wie "Deutschland packtÂ’s an", "Marke Deutschland", "BürgerKonvent", "Initiative D 21" u. ä. mehr oder weniger von sich Reden machen. Zwar möchten die Namen nahe legen, es handle sich bei den Initiativen um einen "zivilgesellschaftlichen" Aufbruch engagierter Bürgerinnen und Bürger. Doch treffen die Bezeichnungen "Krawatt-Attack" oder "APO für Reiche" eher zu (Baetz 2005). Zumal es sich bei den Gründer/innen durchgängig um illustre Personen aus Spitzenpositionen in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft handelt (vgl. Speth 2004: 10). Gemeinsam ist diesen Initiativen, die seit 2004 unter dem Dach der "Aktionsgemeinschaft Deutschland" lose zusammengeschlossen sind, das politische Ziel, das Image von Unternehmern und einer in ihrem Verständnis freien und dadurch angeblich sozialen Markwirtschaft im öffentlichen Bewusstsein aufzupolieren, um damit den Nährboden für neoliberale Reformen zu bereiten.
Die INSM wurde im Oktober 2000 gegründet, nachdem eine Studie des Al-lensbacher Instituts für Demoskopie ergeben hatte, dass nur 44 Prozent der Befragten im Westen und 22 Prozent im Osten eine gute Meinung von der Marktwirtschaft hatten und dass 42 Prozent der deutschen Bevölkerung einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus für wichtig hielten. Aufgerüttelt von diesem Ergebnis hielt Martin Kannegießer, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, die Gründung einer Initiative für geboten, um einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung herbeizuführen, da der Wert von Freiheit und persönlicher Verantwortung für die meisten verloren ge-gangen sei (vgl. Hamann 2005). Es wurde ein Ideenwettbewerb veranstaltet, bei dem sich die Werbeagentur Scholz & Friends (Kunden sind u. a. DaimlerChrys-ler, Coca-Cola, die Berliner Zeitung und die FAZ) durchsetzte. Das eigentliche Konzept der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft stammt also von Scholz & Friends, deren geschäftsführender Gesellschafter Thomas Heilmann auch gleichzeitig Internet-Sprecher der CDU ist. Insgesamt arbeiten bei Scholz & Friends und deren für den Internetauftritt zuständigen Tochterunternehmen A-perto rund 40 Mitarbeiter/innen an dem Projekt INSM (vgl. Speth 2004: 8f.).

"Sozial ist..."

Mit der Namensgebung Neue Soziale Marktwirtschaft wird Bezug genommen auf den bundesrepublikanischen Gründungsmythos von der sozialen Markt-wirtschaft als Erfolgsmodell des Wirtschaftswunders. Eng verknüpft wird die-ser Begriff bekanntlich mit der Person Ludwig Erhards. Im Gegensatz zu einem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft als "ausgewogenes" Verhältnis zwi-schen sozialen und marktwirtschaftlichen Elementen durch Tarifpartnerschaft und ein breites Netz sozialer Sicherung, legte das Verständnis Erhards und sei-nes Stichwortgebers und Erfinders des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft Alfred Müller-Armack einen deutlichen Schwerpunkt auf den Markt.
Mit der Namensgebung wird einerseits durch Bezug auf einen positiv besetz-ten und harmlos wirkenden Begriff auf breite "Anerkennungsprofite" (Bour-dieu) spekuliert. Andererseits soll das Verständnis des Begriffs im Sinne eines Zurück zum Erhardschen Verständnis gewandelt werden. Der Coup liegt dar-in, dass das Soziale begrifflich mit abgedeckt wird, so dass der Eindruck von Ausgewogenheit entsteht und damit ein möglicher begrifflich pointierter Ge-genentwurf vereitelt wird.
Der explizite Versuch einer Neudefinition des Begriffs "sozial" wird in der INSM-Kampagne "Sozial ist..." vorgenommen. In der Erläuterung dieser Kampagne, in welcher Prominente ihr Verständnis des Begriffs "sozial" of-fenbaren, führt die INSM aus, dass fast kein Begriff so eindeutig positiv be-setzt sei wie der Begriff "sozial". Das Problem liege darin, dass sich der Beg-riff des Sozialen von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt habe: "Statt gesellschaftlich vorteilhaftem Verhalten wurde staatlich organisierte Umver-teilung zum Prinzip des Sozialen erhoben. Diese Entwicklung hat jedoch nicht nur die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über die Grenzen des Erträglichen hinaus belastet. Auch Leistungsbereitschaft, Innovationsfähig-keit, Flexibilität und wirksame Unterstützung für die wirklich Schwachen der Gesellschaft sind zu kurz gekommen. Damit ist Vieles, was sozial genannt wird, in Wahrheit unsozial und unsolidarisch." In diesem Sinne definiert die INSM, dass das sozial sei, was der Allgemeinheit nütze und echte Hilfe für die wirklich Schwachen biete. "Wahrhaft" sozial sei daher, wer Eigeninitiative und Eigenverantwortung zeige, da dies die Voraussetzung für echte Solidarität sei. Sozial sei außerdem, was Arbeit schaffe, da diese die Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben sei. Weiterhin sei sozial, wer Wettbewerb zulasse, da Wettbewerb im Bildungssystem und Sozialstaat die einzige Möglichkeit sei, um mehr Effizienz und internationale Erstklassigkeit in diesen Bereichen zu erlangen. Schließlich sei sozial, wer fordere und fördere und wenn Leistung sich lohne. Anreize sollen demnach zum einen dahingehend geschaffen wer-den, dass sich Arbeitslose engagiert um einen Arbeitsplatz bemühen, und zum anderen sollen ein vereinfachtes Steuersystem und eine geringe Abgabenlast die Leistungsbereitschaft des einzelnen stärken.
Es wird deutlich, dass diesen Aussagen das harmonistische Modell der invi-sible hand des klassischen Liberalismus Smithscher Prägung zugrunde liegt: Wenn den Unternehmern bzw. dem Wettbewerb nur uneingeschränkte Frei-heit eingeräumt wird, profitiert auch die Allgemeinheit davon; daher sind die Unternehmer die eigentlich Sozialen. Dadurch wird auch gleichzeitig die Problemsicht bzw. Krisendiagnose der INSM deutlich. Aus Aussagen wie "Sozial ist, wer sich nicht nur auf andere verlässt" lässt sich die implizite Annahme, dass die Menschen in Deutschland sich zu sehr auf den Sozialstaat verlassen und sich nicht selber anstrengen wollen, unschwer herauslesen. Un-sozial und damit wesentliches Element der Krise im Sinne der INSM sind also einerseits diejenigen Bevölkerungsteile, die sich angeblich auf ihrem Status als Arbeitslose ausruhen, und andererseits der Staat, der auf Umverteilung und Regulierung setzt und dadurch verhindert, dass die Unternehmer ihre soziale Wirkkraft entfalten können. Diese Umkehrung des Begriffs des Sozialen zielt also nicht nur darauf ab, unternehmerische Aktivitäten auch als "sozial" zu qualifizieren, sondern diese in erster Linie als "sozial" darzustellen und, noch weitergehend, alle sozialstaatlichen Maßnahmen, die auf sozialen Ausgleich abzielen, als "unsozial" abzuqualifizieren.

Vision D

Die inhaltlichen Ziele der INSM, die sich in der Verwendung des Begriffs "sozial" schon andeuten, werden in der Broschüre "Vision D - Der Wohlstand hat Zukunft" umfassend dargestellt (Institut der Deutschen Wirt-schaft/Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2005). Die Broschüre beruht auf einer gleichnamigen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und wird vom IW und von der INSM herausgegeben. Es wird in der Bro-schüre eine "Reformagenda" für die nächsten 20 Jahre entworfen, deren End-ergebnis mehr Wohlstand für alle verheißt.
Als Ausgangspunkt wird dabei konstatiert, dass die Agenda 2010 der rot-grünen Regierung zwar ein Schritt in die richtige Richtung gewesen sei, doch dass diese Agenda noch längst nicht weit genug gehe. Bevor das im Erhardschen Sinne ge-zeichnete Bild vom "Wohlstand für alle" erreicht werden könne, müssten erst gra-vierende Einschnitte vollzogen werden. Schlüssel zum Erfolg stelle dabei das Wirtschaftswachstum dar. Dieses sei zwar kein Allheilmittel, wie konzediert wird, dennoch wird es als zentrale Größe für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme angesehen. Es werden drei Szenarien gegenübergestellt: Im Szenario "Stagnation" wird davon ausgegangen, dass der Abwärtstrend der letzten Jahre sich fortsetzt. Im Szenario "Gestoppter Abwärtstrend" wird angenommen, dass die aktuellen Werte konstant bleiben. Schließlich wird im Szenario "Deutsche Angebotspolitik" angenommen, dass durch den Einsatz von Wachstumskatalysatoren die Werte von vor 1990 wiedererreicht werden (ebenda: 19). Die Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre der Kohl-Regierung ist dabei das Modell für diese "Deutsche Angebotspoli-tik". Als weitere Erfolgsvorbilder der 1980er Jahre werden der "Thatcherismus" in Großbritannien und die "Reagonomics" in den USA angeführt (ebenda: 22). Im Laufe der Broschüre werden die Szenarien immer wieder effektvoll einander ge-genüber gestellt und es zeigt sich - als simpler Ausfluss der eben erwähnten Defi-nitionsweise - in allen Fällen, dass das Szenario "Deutsche Angebotspolitik" weitaus besser abschneidet als die anderen Szenarien. Die "Deutsche Angebotspo-litik" erscheint also als einziger gangbarer Weg.
Im Weiteren wird unter den Stichworten "Beschäftigung mobilisieren", "Hu-mankapital bilden", "Investitionen stimulieren" und "Staatsausgaben konsoli-dieren" ein Katalog von Maßnahmen vorgestellt, die zu dem im Szenario "Deutsche Angebotspolitik" dargestellten Ergebnis führen sollen. Die genann-ten Maßnahmen sind größtenteils typisch für eine angebotsorientierte Wirt-schaftspolitik. Es werden beispielsweise unbezahlte Mehrarbeit, Zurückhal-tung bei den Lohnforderungen, die Abschaffung von Mindestlohnregelungen in der Bauwirtschaft und die Aufweichung von Tarifverträgen gefordert. Um die Sozialabgaben zu verringern, wird vorgeschlagen, das Rentenalter zu er-höhen, das Rentenniveau zu senken und eine notfalls obligatorische private Altersvorsorge einzurichten, die mindestens auf Sozialhilfeniveau liegen soll. Weiterhin soll zur Finanzierung der Krankenversicherung eine einkommensu-nabhängige Prämie eingerichtet werden und der Leistungskatalog der Kran-kenkassen auf das medizinisch Notwendige gekürzt werden. Außerdem soll ein Niedriglohnsektor für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose einge-richtet werden. Diese sollen dabei durch einen Kombilohn oder durch eine negative Einkommenssteuer unterstützt werden. Nicht ganz so bruchlos lassen sich Vorschläge in die neoliberale Agenda einordnen wie die verstärkte Ein-richtung von staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen und von Ganztags-schulen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Getragen werden diese Vorschläge jedoch nicht von einer geschlechteremanzipatorischen Ab-sicht, vielmehr wird hier die oben genannte Mobilisierung der Beschäfti-gungspotentiale und eine verbesserte Bildung von "Humankapital" anvisiert. Dies gilt auch in puncto Zuwanderung. Diese sei so zu regulieren, dass sie den Erfordernissen des Arbeitsmarktes gerecht werde. Um Investitionen zu stimu-lieren und die Staatsausgaben zu konsolidieren, wird vorgeschlagen, die direk-ten Steuern zu senken, die Vermögenssteuer endgültig abzuschaffen, die Ver-einfachung des Steuersystems auf ein zwei- bis dreistufiges System, Bürokra-tie und Subventionen sollen ganz allgemein abgebaut werden und der Staat soll alle Aufgaben privatisieren, die er nicht zwangsläufig übernehmen muss.
Diese Vorschläge sollen immer wieder durch Beispiele aus so unterschiedli-chen Ländern wie einerseits den USA und Großbritannien und andererseits Schweden untermauert werden. In ähnlich "postmoderner" Weise und huma-nistisch anheimelnd wird am Ende sogar Erich Fromm mit einem Zitat heran-gezogen. Scheinbar pragmatisch und ohne ideologisch auf einen Weg festge-legt zu sein, sollen die erfolgreichen Aspekte aus den unterschiedlichen Vor-bildern übernommen werden. Zum einen besteht jedoch ein erhebliches Über-gewicht an Vorschlägen, die aus den marktliberalen Ländern übernommen werden. Zum anderen wirken die schwedischen Einsprengsel wie mehr staat-liche Kinderbetreuungseinrichtungen und ein verbessertes Bildungssystem wenig glaubhaft, da für die Finanzierung eben die Steuereinnahmen benötig würden, die nach den Vorschlägen der INSM wegfallen sollen. Mit der einsei-tigen Heraushebung der nach der Meinung INSM erfolgreichen ökonomi-schen Konzepte, verstellt sich der Blick auf die gesellschaftlichen Kosten, die in den angelsächsischen Ländern gezahlt werden müssen. Wenn die geringe Arbeitslosigkeit und die geringe Arbeitslosenunterstützung in den USA ge-rühmt wird, darf gleichzeitig nicht übersehen werden, dass nach Schätzungen von Freeman der Anteil der männlichen Inhaftierten in den USA dem Anteil der männlichen Langzeitarbeitslosen entspricht (vgl. Freeman 1996: 26). Be-trachtet man den Gini-Koeffizienten als Maß für die gesellschaftlich Un-gleichheit, zeigt sich, dass dieser sich in der von der INSM gerühmten Rea-gan-Ära von 0,365 im Jahr 1980 auf 0,445 im Jahr 1992 erhöht hat (vgl. Ker-bo 1996: 24). Dies bedeutet, dass die Ungleichverteilung des Reichtums in diesem Zeitraum erheblich zugenommen hat. Wenn die INSM mit volkswirt-schaftlichen Wachstumszahlen lockt und "Wohlstand für alle" verspricht, un-terschlägt sie, dass die Verteilung des neuen Reichtums recht einseitig verläuft und dass es langfristige Verlierer geben wird, wenn man sich am amerikani-schen Vorbild orientiert.
Mit ihren Vorschlägen befindet sich die INSM jedoch auf der Höhe des Dis-kurses. Viele der Schlagworte, Konzepte und Gedankengänge finden sich in der Antrittsrede der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder (vgl. Hebel 2005). Unter dem Slogan "Mehr Freiheit wagen" fordert Merkel auf, die Wachstumsbremse zu lösen, Bürokratie abzubauen, den "Steuerstandort Deutschland" wettbewerbsfähiger zu machen und das Rentenalter anzuheben. Ähnlich wie bei der INSM wird der Staat als Hindernis der Freiheit angesehen und der Begriff der Freiheit mit Unternehmertum assoziiert. In diesem Sinne formuliert Merkel: "Mehr Freiheit möglich machen, das heißt: Wir können den Schwachen etwas abgeben, wenn wir mehr Starke haben, die alle anderen mitziehen" (ebenda). Dies entspricht der oben erläuterten Verwendung des Begriffs "sozial" der INSM sehr genau. Ebenso emphatisch wie die INSM setzt sich auch Merkel für die "wirklich Schwachen" ein. Zu den Schwachen zählen nach Merkel die Kranken, Kinder und Alten. Dies klingt, wie Hebel anmerkt, fast so als sei der Begriff Schwäche eher physisch als gesellschaft-lich zu verstehen (vgl. ebenda). Über die vom Gesellschaftssystem Benachtei-ligten äußert sich Merkel lediglich im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Hinter dem richtungslosen Pragmatismus scheint, so Hebel, die Idee eines moralisch aufgewärmten Wirtschaftsliberalismus durch (ebenda). Bei Merkel wie bei der INSM verbirgt sich die neoliberale Grund-haltung hinter dem Anstrich der Ideologiefreiheit und des Pragmatismus.

Die Ressourcenausstattung der INSM

Nach Bourdieu ist einer der wichtigen Faktoren für die Durchsetzung in sym-bolischen Kämpfen die Ausstattung mit Ressourcen in Form von ökonomi-schem, sozialem und kulturellem Kapital, das als symbolisches Kapital einge-setzt werden kann. Die reichliche Ressourcenausstattung ist einer der Aspekte, welche die INSM aus der Vielzahl der Reforminitiativen herausragen lässt. Die INSM verfügt über ein Jahresbudget von 8,8 Mio. EUR, bereitgestellt vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Die Finanzierungszusage läuft vorerst bis zum Jahr 2010. Aus diesem Budget werden Anzeigen geschaltet, Studien und Expertisen erstellt oder in Auftrag gegeben, Publikationen veröffentlicht, Kongresse, Events, Diskussionsveranstaltungen (z. B. die "Ludwig Erhard Lectures") veranstaltet u. ä.
Als noch wichtiger in den symbolischen Kämpfen erweist sich das "soziale Kapital" der INSM, welches durch einen weiten Kreis von meist ehrenamtlich tätigen "Kuratoren" und "Botschaftern" bereitgestellt wird. Zu diesen zählen z. B. Lord Ralf Dahrendorf (Mitglied des Britischen Oberhauses); Prof. Dr. Hans Tietmeyer (ehemaliger Bundesbankpräsident, "Hohepriester der D-Mark" (Bourdieu 2004: 64) und Vorsitzender des Kuratoriums); Randolf Ro-denstock (Vorsitzender des Aufsichtsrates der Rodenstock AG, Präsident der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft und Mitglied der berüchtigten Société du Mont-Pèlerin) ; Roland Berger (internationaler Unternehmensberater); Dr. Arend Oetker, Unternehmer (Präsident des Stifterverbandes der Deut-schen Wissenschaft und Vizepräsident des BDI) und noch viele andere mehr. Diese Personen fungieren als Multiplikatoren, indem sie die von der INSM vertretenen Ideen und Konzepte unter Nutzung ihres gesellschaftlichen Ansehens und Einflusses weiterverbreiten und als Identifikationsfiguren für diese Ideen auftreten. Um die Verbreitung der Ideen in unterschiedlichen so-zialen Kreisen zu bewerkstelligen und um den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei den Konzepten nicht um die Desiderate einer partikularen Wirtschaftslobby, sondern einer breiten, dem Allgemeinwohl verpflichteten "Bürgerbewegung", setzt die INSM darauf, Botschafter und Kuratoren aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu gewinnen. Mit Michael Hampe und Erwin Straudt befinden sich z. B. ein Theaterintendant und der Präsident eines Fußballvereins unter den Botschaftern.
In dem Bestreben neutral und ideologiefrei zu wirken, wird der Anspruch der INSM auf Überparteilichkeit dadurch untermauert, dass abgesehen von der PDS bzw. Linkspartei Mitglieder aller Bundestagsparteien zu den Unterstüt-zern der INSM gehören oder gehörten. Von der CDU sind Friedrich Merz, Prof. Dr. Dagmar Schipanski und Marie-Luise Dött involviert. Ehemals ge-hörten auch Edmund Stoiber und Michael Glos von der CSU zu den Botschaf-tern. Doch wegen allzu harscher Kritik der INSM an den Agrarsubventionen traten beide zurück. Von der SPD waren der kürzlich verstorbene Peter Glotz, Rainer Wend und eine lange Zeit auch Wolfgang Clement beteiligt. Silvana Koch-Mehrin und Carl-Ludwig Thiele von der FDP sind dabei sowie Oswald Metzger und ehemals Christine Scheel von den Grünen. Das Engagement ein-zelner Parteimitglieder für die INSM bedeutet zwar nicht, dass sich die allge-meine Parteiausrichtung mit den Zielen der INSM deckt, doch ist der symbo-lische Effekt beträchtlich, wenn Mitglieder der Grünen oder der SPD, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dem linken Parteienspektrum zugeord-net werden, für neoliberale Gesellschaftskonzepte eintreten. Der symboli-sche Effekt besteht darin, dass die klare Zuordnung des Neoliberalismus im Rechts-Links-Schema der Parteienlandschaft und damit auch die politische Konfliktlinie zu schwinden scheint. Die breite Streuung neoliberaler Konzepte und deren Unterstützer im politischen Feld verstärkt den Eindruck der Allge-genwärtigkeit und Unhinterfragbarkeit.
Einen weiteren Block bilden die Unterstützer der INSM aus dem wissen-schaftlichen Feld. Es handelt sich dabei vor allem um Hochschulprofessoren der Wirtschaftswissenschaften. Der Prominenteste unter diesen wissenschaft-lichen Botschaftern ist der für den Wahlkampf ins Merkel-Kompetenzteam berufene Paul Kirchhof, Professor für öffentliches Recht an der Uni Heidel-berg und ehemaliger Bundesverfassungsrichter. Diese Unterstützer liefern wie im Fall Kirchhof ausgearbeitete Konzepte und Gutachten und verbürgen die wissenschaftliche Reputierlichkeit der Initiative. In ihrer Funktion als Multi-plikatoren können diese Botschafter neben der persönlichen Prominenz auch ihre wissenschaftliche Autorität einsetzen, um "Anerkennungsprofite" für ihre Äußerungen zu finden. Über die Botschafter bietet sich für die INSM zudem die Möglichkeit, Kontakte zu anderen Instituten herzustellen, z. B. durch Thomas Straubhaar zum Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv und durch Prof. Dr. Ulrich van Suntum zum Centrum für angewandte Wirtschaftsfor-schung Münster.
Eine besonders enge Zusammenarbeit besteht zwischen der INSM und dem IW. Das IW begleitet die INSM wissenschaftlich, indem es Daten liefert, beim Erstellen von Studien hilft und den hauseigenen Institutsverlag zum Publizieren nutzt (vgl. Speth 2004: 31). Zusammen mit dem IW hat die INSM ein "Reformbarometer" erstellt, welches monatlich in der Zeitschrift Wirt-schaftswoche veröffentlicht wird. Die Aktivitäten der Regierung werden dabei an wirtschaftspolitischen Zielen, wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Sen-kung der Sozialabgaben, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, gemes-sen, die wiederum auf Vorschlägen der Herzog-Kommission und Friedrich Merz" Steuerreformkonzept basieren (vgl. Speth 2004: 32). Weitere Medien-partnerschaften bestehen zu den Magazinen impulse und Prinz. Zusammen mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung werden die "Reformer" und "Blockierer des Jahres" gekürt. Außerdem ergeben sich noch indirekte Ver-bindungen zu anderen Medien über die Kuratoren und Botschaftern, z. B. über Kolumnen von Tietmeyer und Metzger im Handelsblatt.
Daneben liefert das Allensbacher Institut für Demoskopie der INSM kontinu-ierlich Daten zu politischen Stimmungen und Themenkonjunkturen. Mittels dieser Umfragedaten soll abgeschätzt werden, wann es sinnvoll ist eine Kam-pagne zu starten. Professionelles Timing soll die Effektivität der Aktionen si-cherstellen. Gleichzeitig dienen die Umfragedaten als Auswertung der bishe-rigen Aktivitäten. Es muss sich schließlich zeigen, ob es tatsächlich zu einem Bewusstseinswandel kommt oder nicht.

Die Strategie

Die wesentlichen Charakteristika der Strategie der INSM bestehen im profes-sionellen Marketing, welches sich auch nicht vor negative campaigning scheut, dem Einsatz von Multiplikatoren, dem Anschein der Überparteilich-keit und der Langfristigkeit der Zielverwirklichung.
Die Führung der INSM durch eine Werbeagentur (Scholz & Friends) garan-tiert ein professionelles Marketing. Speth nennt hier das Konzept der "Integ-rierten Kommunikation", welches in den letzten Jahren in der Kommunikati-onsbranche für Aufsehen gesorgt hat (vgl. Speth 2004: 24). Darunter ist zu verstehen, dass bei der Analyse, Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle von Kommunikation auf eine einheitliche Linie geachtet wird und die verschiedenen Instrumente inhaltlich und zeitlich auf einander abgestimmt werden (ebenda). Bevor eine Aktion gestartet wird, werden demoskopische Daten eingeholt und an diesen der Erfolg der Maßnahmen überprüft. Die ver-schiedenen Kommunikationskanäle (Anzeigen, Studien, Veranstaltungen, Beiträge von Kuratoren oder Botschaftern) werden aufeinander abgestimmt und zeitlich koordiniert. So beschreibt Oswald Metzger: "Die fragen mich, ob ich Interesse hätte, bei einer Kampagne gegen Kohlesubventionen oder beim Agrarthema etwas zu machen. [...] Dann sage ich o.k., das Thema liegt mir besonders, da kenne ich mich aus, da will ich mich positionieren. Und dann kommt es zu einer Abstimmung" (Metzger, zitiert nach Speth 2004: 29).
Die INSM setzt in ihren Aktionen gezielt negative campaigning ein: durch bewusste Verstöße gegen den "guten Ton" versuchen sie, auf sich aufmerk-sam zu machen. Bei der aus dem amerikanischen Wahlkampf stammenden Methode des negative campaigning geht es darum, den politischen Gegner in möglichst drastischer und medial sehr eingängiger Weise als Versager und auch sonst in jeder Hinsicht als völlig inakzeptabel darzustellen. Da sich die Aussagen oder Darstellungen an der Grenze des Tabubruchs bewegen oder diese überschreiten, provozieren sie Resonanzen, auch wenn diese nicht posi-tiv sein müssen. Die INSM setzt diese Methode ein, wenn sie z. B. den "Blo-ckierer des Jahres" kürt. Die negative Resonanz hat jedoch dazu geführt, dass die INSM mittlerweile weniger Gebrauch von negative campaigning macht. So wurde in diesem Jahr bei der Wahl des "Reformers des Jahres" darauf ver-zichtet, auch den "Blockierer des Jahres" zu wählen. Ein weiteres Beispiel für das negative campaigning der INSM ist eine Anzeige zur Pflegeversiche-rung, auf der ein strahlender Norbert Blüm zu sehen ist, wie er einen Bume-rang namens Pflegeversicherung loswirft, der ihn am Ende fast selber trifft. Daneben werden die finanziellen Defizite der Pflegeversicherung aufgelistet, während der Bumerang weiter fliegt und Blüm weiter grinst, so dass jeder so-fort weiß, dass Blüm ein, sit venia verbo, Depp ist. Zu einem Konflikt führte eine andere Anzeige mit dem Titel "Agrarsubventionen kosten uns ein Schweinegeld". Daraufhin traten Glos und Stoiber (CSU) von ihren Bot-schaftertätigkeiten zurück (vgl. Speth 2004: 39). Diese Konflikte und zuneh-mend negative Presse haben dazu geführt, dass der INSM-Geschäftsführer Tasso Enzweiler, der für diese aggressive PR-Methode verantwortlich zeich-net, Anfang 2006 seinen Platz räumen wird.
Nach Einschätzung des Vorsitzenden des "Netzwerk Recherche" Thomas Leif hat die INSM jedoch auf der gesamten Klaviatur der medialen Instrumente Er-folge vorzuweisen und liegt mit ihrer Strategie voll auf der Höhe der Zeit, die durch die Durchsetzung eines PR-Journalismus gekennzeichnet ist (vgl. Baetz 2005). Nach Angaben Michael Hallers, Professor für Journalismus, sind in Deutschland ungefähr 30.000 Informationsjournalisten beschäftigt. Dem ste-hen 15.000 bis 18.000 PR-Journalisten gegenüber, wobei die Tendenz stei-gend ist. Während die Aufgabe der Informationsjournalisten die Recherche ist, ist die Aufgabe der PR-Journalisten die medien- und auftragsgerechte Aufbereitung der Informationen (ebenda). Die Personaleinsparungen bei den "Qualitätszeitungen" in den letzten Jahren haben, so Leif, dazu geführt, dass viele der Themen, die die INSM lanciert, von den Redaktionen bruchlos über-nommen werden, ohne dass die INSM als Quelle der Informationen ausgewie-sen wird. Die INSM hat dadurch eine relative Freiheit bei der Wahl der the-matischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung der Studien, die wissen-schaftliche Qualität für sich reklamieren. Bei den verschiedenen von der INSM durchgeführten Rankings (Bundesländer-Ranking, Städte-Ranking) wird "Wirtschaftsfreundlichkeit" ganz selbstverständlich als Maßstab heran-gezogen. Die bereits medial aufbereiteten Ergebnisse bedürfen keiner weite-ren Überarbeitung. Der Effekt ist, dass die Grenzen zwischen Information, Werbung und PR verschwimmen.
In der Anfangszeit war die Strategie der Initiative zunächst darauf ausgerich-tet, durch spektakuläre Aktionen wie Anzeigen und Plakataktionen auf sich aufmerksam zu machen. Doch weist die langfristige Strategie der Initiative der Rolle der Kuratoren und Botschafter eine wesentlich wichtigere Bedeu-tung zu. Zumal die finanziellen Ressourcen der INSM zwar üppig sind, aber gewiss nicht ausreichen, um einen Bewusstseinswandel in der gesamten Ge-sellschaft herbeizuführen. Durch die Aktivitäten der Kuratoren und Botschaf-ter multiplizieren sich die Bemühungen der Initiative jedoch. Dass die INSM bei Stellungnahmen ihrer Unterstützer selbst ungenannt bleibt, ist durchaus beabsichtigt. Dies ist eine Strategie zur Lösung des Problems der Glaubwür-digkeit, die sich nach Angaben des Publizisten Albrecht Müllers vor allem dann einstellt, wenn verschiedene Absender dieselbe Botschaft formulieren (vgl. Baetz 2005). Die INSM setzt dabei auf die Breite ihres Angebots. Sie veranstaltet, der Sendung Monitor zufolge, Kinder-Uni-Vorlesungen zum Thema "Wozu brauchen wir Geld?", in denen sie ihre Botschaft "Mehr Markt, weniger Staat" platziert, sie stellt Unterrichtsmaterialien im Internet zur Ver-fügung und sie finanziert Workshops an der Kölner RTL-Journalistenschule zum Thema "Welche Reformen braucht Deutschland?" (Müller u.a. 2005). Im September 2005 wurde zudem bekannt, dass die INSM im Jahr 2002 für 58 670 Euro in sieben Folgen der ARD-Serie "Marienhof" ihre Botschaften zu den Themen "Flexibilisierung des Arbeitsmarktes", "Wirtschaft in der Schu-le" und "Steuern runter" platzieren ließ (vgl. LobbyControl 2005). In einer Stellungnahme gegenüber der NGO LobbyControl verteidigte sich die INSM gegen den Vorwurf der Schleichwerbung mit dem Verweis, es sei lediglich um die Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse gegangen, die sich auch bei kritischer Betrachtung als ideologiefrei erweisen würden. Die Botschaften hätten also dem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag entsprochen. Es wurde jedoch eingeräumt, dass die "Kooperation" mit "Marienhof" ein Fehler gewe-sen sei (ebenda). Die Analysen der Szenen aus "Marienhof" durch Lobby-Control zeigen dagegen recht deutlich, dass es sich bei Sätzen wie z. B. "Das ist ja Wucher" in Bezug auf das Abgabensystem keineswegs um neutrale Aus-sagen handelt (ebenda). Die INSM hat dementsprechend den Anspruch auf Ideologiefreiheit und Verwirklichung des Bildungsauftrages in ihrer Online-Stellungsnahme nicht wiederholt.
Die INSM wahrt den Eindruck der Neutralität auch dadurch, dass sie sich nicht zu konkret mit Vorschlägen in das politische Geschäft einmischt, da so Konflikte (siehe den Fall Kirchhof) mit einzelnen Parteien vorprogrammiert wären. Der von der Mutterorganisation Gesamtmetall gegenüber der INSM praktizierte Eindruck der Unabhängigkeit wird ebenfalls verstärkt durch die "Politik der langen Leine" (vgl. Speth 2004: 38). Gesamtmetall macht der INSM im Einzelnen wenig inhaltliche Vorgaben. Diese Strategie geht kon-form mit der Annahme Bourdieus, dass Legitimation nur dann wirksam wird, wenn sie nicht als Selbst-Legitimation bzw. Selbstbeweihräucherung vor- und wahrgenommen wird, sondern als scheinbar unabhängige und freiwillige Bes-tätigung von anderen gewährt wird. Insofern ist die Transformation der Macht im ökonomischen Feld in symbolische Macht beispielsweise im Feld der Wis-senschaft notwendig, um wirksame Legitimation zu erlangen (Bourdieu 2001: 132).
Herauszuheben ist schließlich die Langfristigkeit der Strategie der INSM. Die vorläufige Festlegung der Förderung auf zehn Jahre ist für eine solche Initiati-ve eine lange Zeit. Sie ist der Erkenntnis geschuldet, dass ein kollektiver Be-wusstseinswandel Zeit braucht (vgl. Speth 2004: 39). Diese Einsicht der För-derer geht wiederum konform mit Bourdieus Annahme, dass die doxa tief in den Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata sowie der Praxis verankert ist und diese nicht spontan durch mentale Einsicht, befördert durch Aufklärung oder Propaganda, umgekehrt werden kann.

Fazit

Die Frage, die noch zu beantworten bleibt, ist, ob und wie erfolgreich die INSM bisher tatsächlich war. Dies ist schwierig zu sagen, da kaum herausge-filtert werden kann, welche Einstellungen und Einstellungsveränderungen di-rekt auf die Aktivitäten der INSM zurückzuführen sind, zumal es zur Strategie der INSM gehört, als Organisation im Hintergrund zu bleiben. Umfrageergeb-nisse des Berufsverbandes der deutschen Banken scheinen jedoch zu bestäti-gen, dass es so etwas wie einen Bewusstseinswandel gibt: Auf die Frage, ob die soziale Marktwirtschaft mehr Markt oder Sozialstaat brauche, antworteten der Umfrage zufolge im Jahr 2004 43 Prozent mit "mehr Markt", während dies vor elf Jahren noch ca. 25 Prozent waren (vgl. Hamann 2005). Dieses Er-gebnis ist sicherlich nicht allein auf die Aktionen der INSM zurückzuführen. Nach Meinung von Thomas Leif vom "Netzwerk Recherche" hat es in den letzten Jahren in den Medien eine Diskursverschiebung gegeben, in der der wirtschaftspolitischen Kehrtwende des Spiegels eine besondere Bedeutung zukommt. Dieser habe früher zusammen mit dem Stern in Fragen der Wirt-schaft den Widerpart gegenüber den Mainstream-Medien eingenommen. Seit-dem sich auch der Spiegel für neoliberale Ideen begeistere, gebe es in Deutschland kein einflussreiches Medium mehr, welches den neoliberalen Konsens infrage stellen würde (vgl. Baetz 2005).
Durchsetzung und Stabilität eines neoliberalen Konsenses in der Gesellschaft hängt freilich nicht nur von der medialen Durchdringung mit neoliberaler Ideo-logie ab. Denn die neoliberalen Konzepte müssen auch in der gesellschaftli-chen Alltagspraxis als "wahr", "richtig" und "gerecht" empfunden werden, um als "rationale Religion" Anerkennung zu finden. Sichtbar werdende Sys-temwidersprüche wie massenhafte Entlassungen trotz steigender Gewinne be-dürfen schon einer ausgeklügelten Theologie, um dem Entlassenen als ge-rechtfertigt zu erscheinen. Die Debatten um Managergehälter oder Franz Münteferings "Kapitalismuskritik" und auch der erfolgreiche Einzug der Linkspartei in den Bundestag zeigen, dass der neoliberale Konsens keines-wegs umfassend ist.
Die Sichtbarmachung von Widersprüchen liegt zudem keineswegs allein in medialer Hand. Eine bedeutende Rolle spielen auch die Ressourcen der von den Widersprüchen Betroffenen hinsichtlich der Fähigkeit, in den Medien Re-sonanz zu erzeugen. Dazu gehört die Organisation der Interessen durch Ge-werkschaften, die durch Streiks wie z. B. im Fall des Opel-Werkes in Bochum auf sich aufmerksam machen können. Fehlen allerdings diese Organisationen und sonstige Handlungsressourcen, wird es für die Betroffenen schwer, sich in den symbolischen Kämpfen Anerkennung zu verschaffen.

Literatur
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