Globale Sozialpolitik

Call for Papers

In den meisten Staaten des Nordens werden Sozialleistungen und Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats, die in der Phase des fordistischen oder rheinischen Kapitalismus der Nachkriegszeit von starken Gewerkschaften und sozialdemokratischen Kräften ausgehandelt werden konnten, systematisch abgebaut, vorgeblich um die Konkurrenzfähigkeit der Standorte zu verbessern. Die Entwicklung in einer Reihe von Ländern des Südens und bei globalen entwicklungspolitischen Institutionen läuft angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und neuer Armutsformen wie der "working poor" in die entgegengesetzte Richtung. Hatte die neoliberale (neoklassische) Doktrin spätestens seit den 1980er Jahren soziale Sicherungssysteme als markt-verzerrend kritisiert, machen sich nicht nur die ILO, sondern auch prominente Stimmen selbst aus der Weltbank dafür stark, eine neue Grundsicherungspolitik einzuführen. Bisher ist jedoch keine Verringerung der Privatisierungen zu beobachten, und das Verhältnis dieser neuen sozialpolitischen Anstrengungen zu Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik bleibt genauer zu bestimmen und kritisch zu hinterfragen.

Das Prinzip der Zielgruppenorientierung und Bedürftigkeit (targeting) wird neuerdings zunehmend durch eine Rückbesinnung auf universalistische Prinzipien in sozialpolitischen Maßnahmen in der Entwicklungspolitik abgelöst. Nicht mehr Nothilfe für Extremfälle, sondern breite gesamtgesellschaftliche Absicherung scheint im Süden zunehmend als Antwort auf neue soziale Polarisierung und Armut zu gelten. Die EU und die USA versuchen in ihre neuen bilateralen Freihandelsabkommen soziale Mindeststandards, vor allem die Kernarbeitsnormen der ILO, einzuschließen. Manche vermuten bereits ein post-neoliberales Szenario: Im "Post-Washington Consensus" sei der Glaube an die optimalen Allokationskräfte des Marktes erschüttert und es habe sich Einsicht in die Notwendigkeit durchgesetzt, den Staat als starken Regulator eben auch in Fragen sozialer Sicherung einzubinden. Vermehrte sozialpolitische Pilotprogramme ebenso wie die Einführung flächendeckender Beschäftigungs- und Grundsicherungssysteme deuten auf ein Umdenken auch in der politischen Praxis in einigen Ländern des Südens hin, also auf nationalstaatlicher Ebene. Kritische Stimmen sehen die Erweiterung des Washington-Konsensus durch regulierendes und flankierendes Staatshandeln keineswegs als Revision der neoliberalen Grundprinzipien, sondern primär als Unterstützungs- und Entlastungsmaßnahmen für die krisenhaften Märkte. Die Einführung von sozialpolitischen Mindeststandards wird als Abwendung vom Umverteilungsprinzip durch Maßnahmen der sozialen Abfederung kritisiert. Globale Sozialpolitik erscheint aus dieser Perspektive als eine Politik der sozialen Friedenssicherung zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung - ökonomisch wie politisch.

Das seit einigen Jahren diskutierte neue Paradigma der "Globalen Sozialpolitik" bietet sich dazu an, diese Fragestellungen unter die Lupe zu nehmen. Sozialpolitik - im weiteren Sinne - garantiert im Geist der Menschenrechte den universellen Zugang aller Gesellschaftsmitglieder zum Lebensnotwendigen und zur Daseinsvorsorge wie Bildung, Gesundheit, Wasser- und Energieversorgung etc. Soziale Sicherung - im engeren Sinne - sichert Individuen gegen Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Alter, Tod von Angehörigen etc. ab. Als solche war Sozialpolitik nicht nur lange ein Stiefkind der Entwicklungszusammenarbeit, sondern wurde außerdem als interne Angelegenheit von souveränen Nationalstaaten begriffen. Die Diskussion um die Entwicklung von sozialpolitischen Standards und um globale sozialpolitische Interventionen muss die Frage aufwerfen, ob es sich um einen Bruch mit dem neoliberalen Dogma und eine Neuformulierung internationaler Verantwortung handelt. Dies wird jetzt nicht mehr nur von sozialen Bewegungen, etwa auf den Weltsozialgipfeln und in weiten Teilen der globalisierungskritischen Bewegung gefordert, sondern von ExpertInnen, internationalen Organisationen, think tanks und Regierungsmitgliedern aus Ländern des Nordens.

Dies ist sicher kein Anlass zu Euphorie, sondern zu kritischer Analyse. Welche sozialpolitischen Ansätze mit welcher dahinter stehenden Philosophie werden propagiert? Geht es um die Einführung von Sozialversicherungen für ArbeitnehmerInnen, staatliche Grundsicherungsprogramme oder die Stärkung gemeinwesenorientierter Programme zur lokalen Selbsthilfe? Investitionen in soziale Grundsicherung machen sich durch Sekundäreffekte wie Bildung, Humankapital und geringere Folgekosten mehr als bezahlt. Sozialpolitik ist nicht einfach als gesamtgesellschaftliche - oder im neuen Paradigma: globale - moralische Verpflichtung zu sehen, die Ärmeren zu unterstützen. Sie ist in andere Politikfelder eingebunden und deshalb in ihren Wirkungen nicht quantitativ durch Indikatoren(gruppen) angemessen zu erfassen, bedarf der historischen Einordnung, auch in soziale Kämpfe, zur Erschließung von Kausalitäten. In Bezug auf globale Sozialpolitik ist weiter zu fragen: Wer sind die zentralen AkteurInnen, strategisch Planenden und Implementierenden globaler Sozialpolitik? Wie verhalten sich Globales, Nationales und Lokales zueinander? Auch stellt sich die Gretchenfrage aller Sozialpolitik, die Finanzierbarkeit, was auf die Bereitschaft zur Umverteilung und deren Grenzen hinausläuft. Der Widerspruch zwischen weitreichenden Zielen und Normen (Millennium Development Goals; ökonomische und soziale Menschenrechte) und der äußerst begrenzten Bereitschaft des Nordens, auf Privilegien zu verzichten und finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, wird immer wieder sichtbar.

Wir wünschen uns Beiträge besonders zu folgenden Themen:

- Allgemein zum Paradigma der "Globalen Sozialpolitik", zur Systematik des Begriffs, zu den Veränderungen und Entwicklungen in Diskursen und Institutionen; Analyse und Verortung der beteiligten AkteurInnen

- Globale Sozialpolitik als Bruch mit Neoliberalismus? Kennzeichen eines Post-Neoliberalismus? Letzter Versuch einer globalen Herrschaftsabsicherung ("Feuerwehr")? Wie ordnet sich Sozialpolitik in das allgemeine Ensemble nationaler, und internationaler Politik, in finanz- und wirtschafts-, innen-, sicherheits- und außen-, entwicklungspolitische Zusammenhänge ein?

- Universalistische Prinzipien der Sozialpolitik (z.B. in Rentensystemen) als Bruch mit dem bisherigen Effizienzkriterium der Treffsicherheit (targeting), als Bruch mit gezielter Förderung v.a. von Frauen, also als Verringerung des Gender-Mainstreaming?

- Fallstudien zu sozialpolitischen Initiativen in verschiedenen Bereichen (Mutterschutz, Sozialhilfe, Gesundheit, Bildung, Grundsicherung, Rentensysteme, Arbeitslosigkeit, Arbeitsschutz usw.)

- Die Verortung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und informeller und gering bezahlter Arbeit (working poor) in sozialpolitischen Ansätzen.

- Das Verhältnis informeller (sogenannter "traditioneller") und formeller Sicherungssysteme

- Transformationen und Aufbau sozialer Sicherungssysteme in Ländern des Südens (in LLDC ebenso wie in Schwellenländern)

- Das Verhältnis von nationalstaatlicher Sozialpolitik und globalen Bestrebungen

- Globale Sozialpolitik als Versuch internationaler Integration (z.B. Völkersozialrecht) und Regulation (z.B. Migration)

 

 

Redaktionsschluss: 29. 1. 2009