Die neue Weltjustiz

Editorial

Von bürgerlicher Justiz hatte die Linke nie viel gehalten. Sie galt ihr als Klassen- und Siegerjustiz, die fast immer die Interessen der Herrschenden vollstreckt. ...

... Mit internationalen Rechtsinstitutionen wie etwa den Internationalen ad-hoc-Tribunalen der UN konnte sie sich nur selten anfreunden. Doch die Vorstellung, wahlweise Dritte-Welt-Diktatoren wie Saddam Hussein und Augusto Pinochet oder westliche Staatsoberhäupter wie George W. Bush und Ariel Sharon hinter Schloss und Riegel zu bringen, ließ nicht nur MenschenrechtlerInnen, sondern auch linke Gruppen immer öfter nach einer Weltjustiz rufen. In Belgien, dessen sehr weitreichendes Menschenrechtsgesetz nach dem "Weltrechtsprinzip" die Anklage ausländischer Personen zuließ, waren rund 30 Anzeigen gegen "Kriegsverbrecher" und "Völkermörder" eingegangen, unter anderem gegen Bush, Blair und Sharon. Nachdem das Gesetz auf Druck der USA entschärft wurde, konzentrieren sich nun die Hoffnungen von Menschenrecht-NGOs und Opfergruppen auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Kaum nahm er ab Mai 2003 seine Arbeit auf, gingen rund 500 Klagen gegen mutmaßliche Verursacher von Menschenrechtsverletzungen ein.

Ist mit der Etablierung des Strafgerichtshofs tatsächlich "ein bedeutsamer Fortschritt in dem Bemühen gelungen, die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen zu festigen", wie beispielsweise die Evangelische Akademie Iserlohn in ihrer Ankündigung der Tagung "Rule of Law - Herrschaft des Rechts" behauptet? Bekräftigt das dem IStGH zugrundeliegende Römische Statut tatsächlich "den Grundsatz individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit als Leitprinzip einer auf Frieden und Gerechtigkeit basierenden Weltordnung, in der schwere Völkerrechtsverletzungen vor einer unabhängigen internationalen Institution geahndet werden können", wie die Iserlohner glauben? Zweifel sind angebracht, und zwar grundsätzliche wie ganz konkrete. Aus herrschaftskritischer Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit die "Herrschaft des Rechts" überhaupt wünschenswert ist. Solange das "Recht" auf den hegemonialen Vorstellungen von Rechtsstaat, Repression oder Gewaltmonopol beruht, ist es keineswegs per se gerecht. Probleme bereitet auch das Rechtssubjekt des Völkerrechts: Es ist nicht in erster Linie das Individuum, das unmittelbar vor (staatlicher) Gewalt geschützt werden soll. Indem das Völkerrecht den Umweg über "Völker" und Nationalstaaten geht, schreibt es jene ethnischen und nationalen Identitäten fest, die es doch aufzulösen gilt.

Inwieweit die vom Internationalen Strafgerichtshof zu gewährleistende "Herrschaft des Rechts" partikularen politischen Interessen unterworfen ist, zeigen bereits die Auseinandersetzungen um sein Zustandekommen. Zwischen den USA und Israel einerseits und der EU sowie vielen Dritte-Welt-Staaten andererseits tobt bis zum heutigen Tag ein erbitterter Streit um Aufgabe und Reichweite des IStGH. Israel und die USA bestehen darauf, dass sie als demokratische Rechtsstaaten nicht wie diktatorische Regime behandelt werden wollen, weshalb sie den Strafgerichtshof in seiner jetzigen Form ablehnen. Aber auch die EU-Länder verhindern durch allerlei Regelungen, dass ihre Politiker und Soldaten beim IStGH vor Gericht stehen. Und so tritt prompt ein, was KritikerInnen schon im Vorfeld befürchteten: der Strafgerichtshof greift vor allem Fälle aus peripheren Staaten auf. Chefankläger Luis Moreno-Ocampo gab Mitte Juli bekannt, dass Uganda und der Demokratischen Republik Kongo Ermittlungen wegen der Ereignisse in Ituri bevorstehen. In dieser nordkongolesischen Provinz ermordeten ‚RebellenÂ’ tausende von Menschen und wurden dabei offensichtlich von den Regierungen beider Länder unterstützt.

Natürlich bereitet es Genugtuung, wenn Folterer, Mörder und Kriegsverbrecher für ihre Taten bestraft werden. Es ist ein Skandal, dass nicht nur viele Nazis, sondern auch die Schergen von Pinochet, Hussein, Pol Pot oder Taylor ungestraft davonkommen. Doch von einer gerechten "Weltjustiz" ist nicht nur der IStGH voraussichtlich weit entfernt, sondern aufgrund ihrer politischen Instrumentalisierung durch hegemoniale Interessen auch alle anderen bestehenden internationalen Institutionen wie der Internationale Gerichtshof, der Europäische Gerichtshof oder die diversen Ad-hoc-Tribunale der UN.
Die parallel zur ökonomischen Globalisierung voranschreitende Internationalisierung des Rechts hat ohnehin viel weniger mit der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen zu tun, als allgemein angenommen. Zu weiten Teilen besteht diese "Internationalisierung" in der globalen "Harmonisierung" von Handels- und Wirtschaftsrecht. Weitaus bedeutender als der IStGH ist daher beispielsweise die Welthandelsorganisation WTO, deren Regelungen und Schiedssprüche massive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen vieler Menschen in Nord und Süd haben. Die heutige Rechtsordnung ist eben auch auf internationaler Ebene vor allem ein Mittel, mit dem die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse durchgesetzt werden.

aus: iz3w 271