Mit Nazis reden?

Müssen wir an jedem Mülleimer schnuppern?

Editorial Graswurzelrevolution Nr. 489, Mai 2024
 

Liebe Leser*innen,

 

die sogenannte Brandmauer wird löchrig. Am 11. April 2024, dem 79. Jahrestag der Befreiung des KZs Buchenwald in Thüringen, bot der Thüringer CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke in Springers „Welt TV“ die Chance, sich vor einem Millionenpublikum als „normaler“ Politiker zu präsentieren. Dabei ist Höcke ein Faschist und der Inbegriff des braunen Wolfs im blauen Schafspelz (1).

Mit Nazis reden? Der britische Philosoph, Mathematiker und Atheist Bertrand Russell (1872-1970) hatte dazu eine klare Position. 1962 erhielt der Literaturnobelpreisträger Anfragen „zum intellektuellen Austausch“ von Oswald Mosley (1896-1980), dem Faschisten und Hitler-Fan, der dreißig Jahre zuvor die „British Union of Fascists“ gegründet hatte. 

Russell antwortete freundlich und bestimmt:

„Verehrter Sir Oswald,

vielen Dank für Ihren Brief und Ihre Beilagen. Ich habe über unsere jüngste Korrespondenz nachgedacht. Es ist immer schwierig zu entscheiden, wie man auf Menschen reagieren soll, deren Ethos dem eigenen so fremd und sogar abstoßend ist. Es ist nicht so, dass ich Einwände gegen die von Ihnen vorgebrachten allgemeinen Punkte habe, sondern dass ich jedes Quäntchen meiner Energie dem aktiven Widerstand gegen den grausigen Fanatismus, die zwanghafte Gewalt und die sadistische Verfolgung gewidmet habe, die Philosophie und Praxis des Faschismus seit jeher geprägt haben. Ich fühle mich verpflichtet zu sagen, dass die emotionalen Universen, in denen wir leben, so unterschiedlich und auf tiefste Weise gegensätzlich sind, dass aus der Verbindung zwischen uns nie etwas Fruchtbares oder Aufrichtiges entstehen kann.

Ich möchte, dass Sie die Intensität dieser Überzeugung meinerseits verstehen. Das sage ich nicht aus Unhöflichkeit, sondern wegen all dem, was ich an der menschlichen Existenz und am menschlichen Fortschritt schätze. Mit freundlichen Grüßen

Bertrand Russell“ (2)
 

Russell war nicht nur Antifaschist, sondern auch „Rebell wider den Krieg“. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde zu einem tiefen Einschnitt in seinem Leben. Das staatlich verordnete Massenmorden löste Entsetzen bei ihm aus. Die um sich greifende nationalistische Massenhysterie des Hasses und des „Patriotismus“ empörte ihn. Ebenso der „Verrat der Intellektuellen“, die in den kriegführenden Ländern zu Kriegspropagandist*innen wurden. Gegen dies begehrte er mit antimilitaristischen Artikeln und Vorträgen auf. Russell engagierte sich in der Organisation der englischen Kriegsgegner*innen, verlor deshalb sein Lehramt an der Uni Cambridge, wurde einer der „meistgehassten Männer Großbritanniens“ und erhielt 1918 eine mehrmonatige Gefängnisstrafe.

Ein radikales Umdenken über Staat und Gesellschaft erschien ihm unabdingbar, wenn die Weltkriegskatastrophe sich nicht wiederholen sollte. „In drei für sein politisches Denken grundlegenden Schriften skizzierte er seine Systemveränderung im freiheitlich-sozialistischen Sinne: die Vision einer von autoritären Strukturen und kapitalistischer Ausbeutung freien Ordnung mit einer Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ (3), schreibt Achim von Borries.

Russell bleibt aktuell. Heute würde er sich sicher an der u.a. von Connection e.V., GWR und DFG-VK getragenen #ObjectWarCampaign beteiligen, gegen Krieg und Militarisierung, für Asyl für alle Deserteur*innen und Kriegsdienstverweigerer*innen. In dieser Ausgabe findet Ihr dazu nebenstehenden Aufruf und eine Kampagnenzeitung (Seite 5 ff.).

Aufgrund kurzfristiger Artikelabsagen sieht die GWR 489 anders aus als geplant. So wird der angekündigte vierte Teil von Anne S. Respondeks Artikelserie über KZ-Bordelle voraussichtlich erst für die GWR 490 fertig.

Ich hoffe, die vielen Filmbesprechungen und Concert-for-Anarchy-Beiträge (S. 18 ff.) in dieser GWR gefallen Euch. Besonders ans Herz legen möchte ich Euch neben der Foto-Reportage „Starke Frauen in Rojava“ (S. 1, 16 f.) auch die Interviews mit Swetlana Nowoshenowa von den Palestinians and Jews for Peace (S 3 f.) und mit dem ukrainischen Anarchisten Wjatscheslaw Asarow über den „Kriegsalltag in Odessa“ (S. 1, 11).

Zum Schluss noch ein Zitat aus der Contraste Nr. 460 vom April, über das wir uns gefreut haben: „Die seit 1972 erscheinende ‚Graswurzelrevolution‘ ist mit die letzte, wenn nicht gar die letzte, anarchistische Zeitschrift im Print-Format. Aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht wird monatlich kompetent über Politik und Kultur berichtet. Daneben erscheint zweimal jährlich eine kostenfreie Beilage zur jeweiligen Buchmesse – die Libertären Buchseiten. Antimilitarismus, Ökologie und Feminismus sind wichtige Themen, die aus einer anarchistischen Perspektive beleuchtet werden.“(4)

 

Viel Spaß beim Lesen, Anarchie und Glück,
 

Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

 

Anmerkungen:

1) Andreas Kemper hat vor Jahren aufgedeckt, dass der Neonazi-Autor Landolf Ladig und Björn Höcke ein und dieselbe Person sind. Er wird den gegen Höcke laufenden Prozess wegen Verwendung von NS-Parolen im Juni in der GWR 490 unter die Lupe nehmen. Sein Artikel erscheint als Teil eines GWR-490-Schwerpunkts zum Thema „Rechte Gewalt“. Siehe auch: „Madagaskarplan 2024 – Faschistische Deportationsstädte. Das AfD-Geheimtreffen mit Neonazis in Potsdam und der Masterplan“ von Martin Sellner, Artikel von Andreas Kemper, in: GWR 486, Feb. 2024, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/02/madagaskarplan-2024-faschistische-deportationsstaedte/

2) Engl. Originaltext: https://www.openculture.com/2017/02/bertrand-russells-artful-letter-refusing-to-debate-british-fascist-leader-oswald-mosley-1962.html

3) Leider vergriffen: Achim von Borries, „Rebell wider den Krieg. Bertrand Russell 1914-1918“, Verlag Graswurzelrevolution, https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/rebell-wider-den-krieg

4) https://www.contraste.org/linke-medien-in-deutschland-retten
 

Editorial aus: Graswurzelrevolution Nr. 489, Mai 2024, www.graswurzel.net