Hindenburg und die „Osthilfe“

Merkwürdigerweise verfügt Paul von Hindenburg bis zum heutigen Tag über eine große Anzahl energischer Verteidiger, die aber allesamt beim Versuch, seine Leistungen zu benennen, ins Stottern kommen. Dabei versuchen seine Fans schamhaft einen der wenigen politischen Schritte kleinzureden, den er kraft eigener Entscheidungen ging: die Ernennung Adolf Hitlers zum Kanzler des Deutschen Reiches am 30. Januar 1933. Die damit verbundenen Entschuldigungsverrenkungen gehen zuweilen soweit, dem Weimarer Ersatzkaiser die Zurechnungsfähigkeit absprechen. Das ist Unsinn. Der Mann wusste, was er tat.

Und er handelte durchaus in eigenem Interesse. Dass da etwas mit der „Osthilfe“ war, dem mit ihm versippten und verschwägerten Junker-Klüngel und dessen heruntergewirtschafteten Gütern, ist allerdings schon länger bekannt. Spätestens im Januar 1933 ging das durch die deutsche – nicht nur die linke! – Presse. Dazu kamen die höchstpersönlichen Probleme mit dem familieneigenen Gut Neudeck, das Papa Hindenburg aus Gründen der Steuerersparnis an den „in der Reichsverfassung nicht vorgesehenen Sohn“ Oskar übertragen hatte. Diese Affäre zerrte 1932 übrigens Erich Ludendorff, der eigentliche Sieger von Tannenberg und de facto-Militärdiktator des Reiches während des Krieges, ans Licht der Öffentlichkeit.

Die sogenannte „Osthilfe“ war ein großangelegtes Subventionsprogramm der Weimarer Republik, das bereits 1928 mit der Ostpreußenhilfe (dem „Hindenburgprogramm“) – also vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise – seinen Anfang nahm. Im Kern ging es darum, vor allem die ostelbischen Landwirtschaftsbetriebe zu stützen. Die waren einerseits von den Folgen der Versailler Bestimmungen stärker als die Landwirtschaft in den anderen Teilen des Reiches betroffen. Andererseits waren die junkerlichen Gutsbetriebe oftmals nicht in der Lage und auch nicht willens, die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen umzusetzen. Die Herren dachten nicht daran, ihren privaten Lebensstil der Kassenlage anzupassen und gingen immer noch davon aus, mit einer Audienz bei Majestät ihre Schuldenprobleme erledigen zu können. Majestät saßen allerdings in Holland, aber der Platzhalter war im Reichspräsidentenpalais zu finden …

Die eigentliche „Osthilfe“ setzte denn auch mit einer Verordnung Hindenburgs im Juli 1930 ein. Am 31. März 1931 wurde ein förmliches „Osthilfegesetz“ verabschiedet. Magnus von Braun – seit Juni 1932 bis zum Rücktritt des Kabinetts von Schleicher Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und Reichskommissar für die Osthilfe, er ist der Vater Wernher von Brauns – konstatierte in seiner Autobiografie, dass bis 1933 „ein undurchdringlicher Dschungel von 61 Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und 60 amtlichen Erlassen“ entstand, der förmlich eine Einladung zum Missbrauch war.

Das Volumen war beträchtlich. Bis Oktober 1932 umfasste das Programm – inklusive der teils erzwungenen Gläubigerverzichtsleistungen – rund eine Milliarde RM. Zum Vergleich: Der in diesem Krisenjahr aufgestockte Reichshaushalt umfasste insgesamt acht Milliarden RM …

Der Historiker Dieter Hoffmann beleuchtet in seinem Buch „Der Skandal. Hindenburgs Entscheidung für Hitler“ die Verstrickungen Hindenburgs in den „Osthilfe“-Skandal. Die von ihm geschilderten Beispiele müssen auch betriebswirtschaftlich weniger Belesenen noch nach 90 Jahren die Haare zu Berge steigen lassen. Da wurden fröhlich Betriebe bezuschusst, die deutlich überschuldet und als „nicht sanierungsfähig“ eingestuft waren – deren Eigentümer aber den Besitz anderer Immobilen, Güter, Kohlegruben etc.pp. verschwiegen. Andere Vermögenswerte wurden offenbar grundsätzlich nicht angegeben, ebenso weitere Schuldenberge, die eine Entschuldung zumindest zweifelhaft gemacht hätten. Freiherr Elard von Oldenburg-Januschau zum Beispiel besaß drei Güter in Ostpreußen, dazu zwei in Brandenburg. Dass Oldenburg-Januschau quasi als Schorfheide-Anrainer dem Reichspräsidenten bei dessen Jagdausflügen „freiwillige Gespannleistungen“, wie Hoffmann schreibt, zur Verfügung stellte, sei als Freundschaftsgeste ignoriert.

Schwerer ins Gewicht fiel allerdings, dass Freund Elard dafür sorgte, dass dem Generalfeldmarschall des Kaisers 1927 das in der Nachkriegskrise abhanden gekommene Familiengut Neudeck entschuldet – und mit einem Neubau des Herrenhauses – geschenkt werden konnte. Hier kommt Sohn Oskar ins Spiel … Das Gut Januschau lag nur 20 Kilometer entfernt, man pflegte gute Nachbarschaft. Die zahlte sich für den Freiherrn aus. Nachdem er wirtschaftlich ins Schlingern geriet, erhielt er großzügige 621.000 RM Osthilfe. Die steckte er in den Ankauf eines weiteren Gutes. Und Oldenburg-Januschau war kein Einzelfall. Das war übliche Praxis, wie Hoffmann belegen kann.

Um die Jahreswende 1932/1933 spitzte sich die Situation zu. Die Medienberichte überschlugen sich und ließen sich auch nicht mehr ignorieren. Mit Ausnahme der Konservativen brachten sich alle Parteien in Stellung – sicher aus unterschiedlichen Motiven heraus. Der Reichstag setzte aber dennoch einen Untersuchungsausschuss ein. Die Luft um den tief in den Skandal verstrickten Reichspräsidenten und seine Kamarilla wurde immer dünner. Die diversen Aktivitäten hinsichtlich des Drucks auf Paul von Hindenburg, seinen Widerwillen gegen den „böhmischen Gefreiten“ aufzugeben, sind im Wesentlichen bekannt. Vermutlich wirkten die im Bündel. Eine entscheidende Rolle spielte mit Gewissheit der Reichslandbund, die Interessenvertretung der Groß-Agrarier. Und in der letzten Januarwoche 1933 suchte Elard von Oldenburg-Januschau seinen Nachbarn Paul von Hindenburg auf Neudeck zu einem längeren Gespräch auf. Dessen Wirkungen auf die Entscheidungsfindung des Reichspräsidenten sah Hindenburgs Staatssekretär Otto Meissner in den Nürnberger Prozessen für die Entscheidung vom 30. Januar als wesentlich an. Der neue Kanzler sorgte nachdrücklich dafür, dass in Sachen „Osthilfe-Skandal“ Ruhe einzog. Sein Vorgänger Kurt von Schleicher hatte durchblicken lassen, den Sumpf trockenlegen zu wollen.

Der Untersuchungsausschuss stellte seine Arbeit ein. Auch der Rechnungshof des Deutschen Reiches zog sich zurück: „Mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretene politische Entwicklung legt er den nachstehenden Bericht dem Herrn Reichskanzler vor.“ So zitiert Dieter Hoffmann die Einleitung des Rechnungshofberichtes. Der „Herr Reichskanzler“ hieß Adolf Hitler … Der Autor nahm die „Denkschrift“ des Rechnungshofes in den Anhang seines solide recherchierten Buches auf. Die Hindenburg-Legende ist wirklich nicht mehr zu halten. Adolf Hitler hatte sich einen Reichspräsidenten auf Gegenseitigkeit gekauft. Oder der Präsident einen Kanzler?

Dieter Hoffmanns Buch gehört in jede deutsche Bibliothek, die etwas auf sich hält. Vor allem ist es den Stadtbibliotheken dringend zu empfehlen, deren kommunale Regierungen immer noch meinen, sich Hindenburgstraßen, -dämme, -plätze oder gar Ehrenbürgerschaften leisten zu müssen.

Dieter Hoffmann: Der Skandal. Hindenburgs Entscheidung für Hitler, Donat Verlag, Bremen 2020, 208 Seiten, 18,00 Euro.