Kein Frühling für Flüchtlinge

Ägyptische Behörden gehen gegen eritreische Opfer von Menschenhändlern vor

Der Fall erregte weltweit nur mäßiges Aufsehen: Einhundertachtzig junge eritreische Flüchtlinge werden im ägyptischen Nordsinai von Menschenhändlern gekidnappt. Sie werden in einem Camp nahe der israelischen Grenze festgehalten. Unter Folter werden sie gezwungen, ihre Familien anzurufen, um Lösegeld zu erpressen. Wenn ihre Angehörigen nicht zahlen, drohen ihnen nicht nur Torturen, sexuelle Misshandlungen und ein Dasein als SklavInnen, sondern auch die Entnahme von Organen und damit der sichere Tod.

Das Schicksal dieser Gruppe ist kein Einzelfall (siehe iz3w 323). Hunderte eritreischer und anderer vom Horn von Afrika stammender Flüchtlinge wurden seit Ende 2009 in der Sinai-Wüste von Schleppern gekidnappt. Das Ziel ist, Lösegelder von bis zu 50.000 US-Dollar zu erpressen. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres bestätigte Anfang 2012, dass einige der eritreischen Flüchtlinge einem kriminellen Netzwerk aus Menschenhändlern zum Opfer fielen, das am Handel mit ihren Organen gut verdient.

Im letzten Jahrzehnt fand geradezu ein Exodus aus Eritrea statt (siehe iz3w 327). Tausende vor allem junge Menschen flüchten jedes Jahr vor dem Regime von Isaias Afworki, das Oppositionsgruppen, zivilgesellschaftliche Organisationen und nicht registrierte Religionsgemeinschaften verboten hat und alle EritreerInnen zwischen 18 und 40 Jahren zu einem unbefristeten Wehrdienst verpflichtet. Viele Flüchtlinge versuchen, über die ägyptisch-sudanesische Grenze oder auf dem Seeweg nach Ägypten und schließlich nach Israel zu gelangen. Von hier aus können sie über die Türkei nach Europa reisen, wo es Hoffnung auf ein Leben mit Perspektive gibt.

Auf ihrer Flucht geraten einige jedoch in die Fänge von Menschenhändlern. Einige NGOs schlugen deswegen Alarm und machten die Flüchtlingstragödien publik. Sie fordern seither die Regierungen der involvierten Länder (Ägypten, Eritrea, Palästinensische Autonomiebehörde, Israel) sowie EU- und UN-Institutionen zum Eingreifen auf. Mehr als ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Verbrechen stellt sich die Frage, ob sich die Situation verbessert hat.

 

Polizisten verfolgen Opfer

Als in Ägypten Mubarak gestürzt wurde, keimte kurzzeitig die Hoffnung auf, die Demokratiebewegung könne die katastrophale Situation der Flüchtlinge verbessern. Doch zumindest bis dato hat der Wandel die Flüchtlingspolitik nicht erfasst. MigrantInnen droht auch weiterhin nicht nur Gefahr seitens der Schleuser, sondern auch durch das rigorose Vorgehen der ägyptischen Behörden. Im November 2011 informierte Human Rights Watch die Öffentlichkeit über 118 junge Flüchtlinge aus Eritrea, die in Aswan inhaftiert worden waren und abgeschoben werden sollten. Polizisten hatten sie unter Folter zur Unterzeichnung eines Dokuments über die ‚freiwillige’ Rückkehr gezwungen.

Im Laufe der letzten Jahre wurde nach Angaben von Amnesty International nicht einem der eritreischen Asylsuchenden Zugang zur Vertretung des UN-Hochkommissars (UNHCR) in Kairo gewährt, obwohl Ägypten als Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention und einer Absichtserklärung gegenüber dem UNHCR von 1954 hierzu verpflichtet ist. Auch die Berichte über Abschiebungen von eritreischen StaatsbürgerInnen mehrten sich im letzten Jahr, obwohl eine UNHCR-Richtlinie Rückführungen von im Ausland um Asyl suchenden eritreischen Staatsangehörigen untersagt. Ägyptische Polizisten verfolgten in vielen Fällen lieber Flüchtlinge, denen die Flucht aus den Camps der Schleuser gelang, statt ihre Peiniger zu bestrafen.

Auch bei den 118 EritreerInnen handelte es sich um geflohene Geiseln, die von der Polizei aufgegriffen und anschließend unter inhumanen Bedingungen in einem Gefängnis festgehalten wurden.

Von Fällen, in denen ägyptische Sicherheitskräfte Geiselnahmen beendeten, wurde bisher selten berichtet. Es ist zuallererst das Verdienst von Menschenrechtsorganisationen wie der italienischen EveryOne Group sowie der Agenzia Habeshia per la Cooperazione allo Sviluppo oder der ägyptischen New Generation Foundation for Human Rights, dass die Standorte einiger Lager sowie Identitäten der Geiselnehmer nach Telefonkontakten mit den Geiseln ermittelt wurden. Ihre Recherchen ergaben, dass es sich bei den Tätern nicht nur um lokal ansässige Beduinen, sondern vorwiegend um palästinensische Schmuggler und bekannte Mitglieder terroristischer Organisationen handelt (etwa Abu Khaled, Abu Ahmed, Abu Mahmoud).

Obwohl die MenschenrechtlerInnen den ägyptischen Behörden in mindestens einem Fall alle notwendigen Informationen für die Befreiung der Geiseln übermittelt hatten, unternahmen diese nichts. Schlimmer noch – ein Sprecher des ägyptischen Außenministers behauptete noch Ende 2010, es gebe keine Gefangenen. Die Vorwürfe seien lediglich ein Versuch, Ägypten zu diskreditieren. Dass Ende 2011 plötzlich hunderte afrikanischer Geiseln im Sinai zum Teil ohne Lösegeldzahlungen freikamen und 650 von ihnen laut UN-Flüchtlingshilfswerk Israel erreichten, ließ das Außenministerium in Erklärungsnot geraten.

Der Grund für die spontanen Freilassungen liegt in dem unermüdlichen Engagement einiger NGOs sowie des US-amerikanischen Senders CNN. Dieser strahlte am 5.11.2011 die Reportage »Death in the Desert« aus, die der Lage der Flüchtlinge partielle Aufmerksamkeit verschaffte und die Geiselnehmer unter Druck setzte. In Kooperation mit einem NGO-Netzwerk initiierte CNN auch ein Projekt gegen den globalen Menschenhandel, das Freedom Project.

Früchte trägt auch der Einsatz der New Generation Foundation for Human Rights mit Sitz in El-Arisch, der Hauptstadt des Gouvernement Nordsinai. Ihr Vorsitzender Hamdy Al-Azazy berief Mitte Februar eine Konferenz ein, auf der sich MenschenrechtsaktivistInnen und wichtige Vertreter der Beduinen auf Lösungsvorschläge für das Problem des Menschenhandels einigten. Die ägyptische Regierung soll dazu gedrängt werden, neue berufliche Perspektiven für die Bevölkerung im Grenzgebiet zu schaffen. Drogen- und Waffenschmuggel sowie Menschenhandel soll sie nicht nur gesetzlich verbieten, sondern auch de facto stoppen.

 

Rechtsfreier Raum Sinai

Ein Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse lässt diese Ziele utopisch erscheinen. Seit Beginn des Arabischen Frühlings entgleitet der ägyptischen Regierung zunehmend die Kontrolle über den Nordsinai. Die Sicherheitskräfte haben sich gezwungenermaßen aus der Region zurückgezogen, nachdem im Juli 2011 Islamisten eine Serie von Anschlägen auf Polizeistationen verübt hatten. Die Halbinsel, die schon zuvor als nahezu rechtsfreier Raum galt, wird seither verstärkt von weltweit agierenden kriminellen Netzwerken und militanten islamistischen Bewegungen als Rückzugsort genutzt.

Wie sehr sich die Sicherheitslage verschärft hat, verdeutlicht auch die Stationierung von weiteren 800 ägyptischen Soldaten im Südsinai, um die Staatsgewalt wieder durchzusetzen. Aufgrund des Friedensvertrags mit Israel dürfen die ägyptischen Streitkräfte in der demilitarisierten Zone entlang der israelischen Grenze nur mit Zustimmung Israels operieren. Doch dass das ägyptische Militär, das nicht einmal die Rechte der eigenen Bevölkerung wahren will, sich in naher Zukunft für Flüchtlingsschutz stark machen wird, ist unwahrscheinlich.

Um zu demonstrieren, dass sie Flüchtlinge nicht länger der Willkür von Menschenhändlern überlassen wollen, haben dreitausend ägyptische Beduinen im September 2011 an einer Kundgebung teilgenommen. Ihr Einsatz ist umso bemerkenswerter, als nicht wenige ÄgypterInnen Ressentiments gegen schwarze AfrikanerInnen hegen, insbesondere wenn sie ChristInnen sind. Die Sensibilisierung der örtlichen Bevölkerung konnte die New Generation Foundation for Human Rights als Erfolg verbuchen. Das Ziel, in den ersten Monaten 2012 alle Lager der Geiselnehmer ausfindig zu machen, scheint aber zu hoch gesteckt, selbst wenn nach den Angaben der NGO Ende 2011 nur noch drei Camps bekannt waren.

Durch die Arbeit von Hamdy Al-Azazy konnten die eingangs erwähnten 180 eritreischen Geiseln im Januar befreit werden. Israelische Behörden bestätigten gegenüber ägyptischen Sicherheitsbeamten, dass die EritreerInnen in Israel erneut in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden. Afrikanische Flüchtlinge wie die EritreerInnen werden von Israel nicht mit offenen Armen aufgenommen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete sie jüngst als «ernsthafte Bedrohung für den Charakter und die Zukunft des Staates Israel”. Als Reaktion auf die zunehmenden Asylgesuche hat die Knesset ein »Anti-Infiltrationsgesetz« verabschiedet, das nicht nur in Israel für Empörung sorgte. Es erlaubt, Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung bis zu drei Jahre ins Gefängnis zu stecken. FlüchtlingshelferInnen sollen gar mit Gefängnis von bis zu fünf Jahren bestraft werden können. Seit November 2010 baut die israelische Regierung zudem einen 240 km langen »Sicherheitszaun«, der dem Andrang an der Südgrenze einen Riegel vorschieben soll.

Obwohl ägyptische Grenzposten teils durch gezielten Schusswaffeneinsatz versuchen, MigrantInnen am Passieren der Grenze zu Israel zu hindern, gelangen laut israelischem Innenministerium jeden Monat zwischen 1.500 und 2.000 meist sudanesische und eritreische Flüchtlinge nach Israel. Laut der israelischen NGO Hotline for Migrant Workers (HMW) werden die eritreischen Asylsuchenden zwar nicht abgeschoben, aber die Behörden weigern sich, ihre Asylanträge zu bearbeiten, um sie nicht als Flüchtlinge im Sinne der UN-Statuten anzuerkennen. Der daraus folgende ungeklärte Aufenthaltsstatus macht ein geregeltes Leben schwierig und soll andere Flüchtlinge abschrecken. Eine Mitarbeiterin des Außenministeriums bestätigte bereits 2007 gegenüber HMW politische und wirtschaftliche Interessen in Eritrea und gute diplomatische Beziehungen zum dortigen Regime als Gründe für das strikte Vorgehen gegen eritreische Flüchtlinge in Israel.

 

Abschreckende Wirkung

Die eritreische Regierung würde den Exodus ihrer Staatsangehörigen gerne stoppen. Doch statt die Repression gegen die eigene Bevölkerung aufzuheben, nutzt das Regime die abschreckende Wirkung der Übergriffe auf eritreische Flüchtlinge für sich. Der Fernsehsender eri-tv, der wie alle Medien in Eritrea in staatlicher Hand ist, berichtete bereits über die Gefahren einer Flucht.

Der Beitrag der EU zur Beendigung der Geiselnahmen erschöpft sich in einer Resolution des Europäischen Parlaments vom Dezember 2010, in der die ägyptische Regierung halbherzig zur Einhaltung des Flüchtlingsschutzes aufgefordert wurde. Hingegen scheint sich das UNHCR ernsthaft um den Schutz eritreischer Flüchtlinge zu bemühen. Dem weltweit vernetzten Menschen- und Organhandel soll durch Kooperation auf internationaler Ebene begegnet werden, etwa indem eritreische Asylsuchende bereits in den sudanesischen Flüchtlingscamps vor den Menschenhändlern geschützt werden. Hierzu strebt das UNHCR eine Zusammenarbeit mit sudanesischen Behörden und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) an.

 

 

Meena Federer ist in der Solidaritätsarbeit mit eritreischen Flüchtlingen aktiv.