Angela Merkel, Fähnchen im Wind

Die CDU ist bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft nur drittstärkste Partei geworden und rangiert damit zum ersten Mal in ihrer Geschichte noch hinter den Grünen. Doch die eigentliche Krise der Union geht über dieses Phänomen weit hinaus und betrifft die Partei in Gänze. Seit dem „Wahlsieg“ 2009 verliert die Partei laufend Wahlen, Wähler und Koalitionspartner. In Baden-Württemberg hat sie vor kurzem ein Ergebnis wie die SPD in Bremen erzielt, aber – anders als die SPD in Bremen – auf einen Schlag zwei mögliche Koalitionspartner verloren. Mit der FDP reicht es nicht mehr, und die SPD braucht die CDU nicht mehr, wenn die Grünen stark genug sind – für Rot-Grün oder Grün-Rot.

Die Union steht damit ohne realistische Machtperspektive da. All das führt jedoch zu keiner Besinnung in der Partei, sondern die Parteivorsitzende versucht mit oberflächlichen Floskeln über die Tiefe der Krise hinwegzureden. Eine Analyse der Wahlniederlagen in Serie und ihrer Gründe findet dagegen nicht statt. Vorläufig „löst“ die CDU ihre Probleme noch mit Angela Merkels Devise „Kopf in den Sand“. Das kann jedoch nicht mehr lange gut gehen. Entweder kommt 2013 ein Ende mit Schrecken, wenn die CDU selbst als stärkste Partei nur noch zuschauen kann, wie SPD und Grüne die Bundesregierung bilden. Oder beide scheitern knapp, und es kommt zu einer weiteren „großen“ Koalition; auch in diesem Fall ist indes höchst zweifelhaft, ob der CDU unter Merkel noch Leben eingehaucht werden kann.

Dafür muss man sich nur das jetzt wieder viel diskutierte und als gescheitert befundene Projekt Großstadtpartei anschauen. In den letzten zehn Jahren gab es auf Bundesebene allein zwei Kommissionen „Große Städte“, die eine geleitet von Jürgen Rüttgers, die andere von Friedbert Pflüger. Beide Kommissionen hatten gemeinsam, dass sich die Parteivorsitzende nie wirklich für sie interessierte – und die Kommissionen sich nicht den wirklichen, für die CDU unbequemen Fragen widmeten.

Eine Partei wie die CDU muss sich auf allen zentralen Feldern der Politik erkennbar positionieren, so dass der rote Faden, das Profil der Partei sichtbar wird. Dabei gilt, dass man seine Kompetenz nicht wie einen Flickenteppich zusammennähen kann: heute Großstadtkompetenz, morgen auf der Suche nach der verlorenen Kontinuität in der Außenpolitik, übermorgen vielleicht wieder die traditionelle Familienphilosophie der CDU als „konservativem Markenkern“.

Worauf es für die Union heute ankommt, ist: Sie muss den Begriff der Volkspartei neu definieren, nicht soziologisch, sondern politisch. Eine Volkspartei denkt und gestaltet Politik für das ganze Volk und nicht nur für einen Teil, bestimmte Schichten oder Interessengruppen; Gemeinwohl ist dafür der altmodische, aber hochaktuelle Begriff. Dabei müssen ganz handfeste Probleme im Mittelpunkt stehen: Bildungsgerechtigkeit, soziale Kluft, Wirtschaft und Arbeit, Kinderbetreuung, die ökologischen und sozialen Lebensgrundlagen, Außenpolitik mit dem oder isoliert vom Westen (Stichwort Libyen). An diesen Punkten entscheiden sich heute die Wahlen – nicht primär am Thema „innere Sicherheit“, worauf es in der Union immer wieder reflexartig hinausläuft.

Nur in einem Punkt, bei der Familienpolitik, hat die CDU es geschafft, offensiv und gegen anfängliche Widerstände ein Bild der Familie zu vermitteln, das den alten Werten ebenso gerecht wird wie den veränderten Umständen. In der Bildungspolitik hingegen stand sie in Hamburg einem Kulturkampf von oben hilflos gegenüber, weil sie (anders als in der Familienpolitik) deutschlandweit nicht aus ihren alten Schützengräben herauskommt.

All das sind im Kern eminent politische Fragen, die nicht nur in den großen Städten eine Rolle spielen – auch auf dem Land leben die Menschen im Zeitalter der neuen Medien und nicht mehr hinterm Mond. Wann aber hat die Merkel-CDU zum letzten Mal offen, ehrlich und glaubwürdig über diese und andere Themen diskutiert?

Eine leblose Partei – im Geiste des späten Kohl

Stammwähler allein bringen heute nirgendwo mehr Mehrheiten. Kirchengebundene Katholiken, auf die sich die CDU grundsätzlich immer noch verlassen kann, spielten etwa bei den Wahlen in Hamburg oder Bremen keine Rolle, weil es sie dort kaum gibt. Man kann deshalb eine moderne Volkspartei nicht mehr in den alten Schemata links und rechts denken, sondern muss die tatsächlichen Probleme anpacken, die Qualität der Politik verbessern – und eine Sprache sprechen, welche die Menschen verstehen. Politische Kommunikation, die sich nicht nur um die Verpackung kümmert, sondern von Inhalten her argumentiert und überzeugt, ist heute mehr denn je Voraussetzung für den politischen Erfolg.

Aber genau hier versagt die Union. Die CDU ist heute eine leblose Partei. Insofern hat Angela Merkle nahtlos an den späten Kohl angeknüpft – und fatalerweise gerade nicht an den jungen Parteireformer Kohl. Als Helmut Kohl 1971 gegen Rainer Barzel als Parteivorsitzender kandidierte und verlor, tat er dies auch gegen die alte Honoratiorenpartei Konrad Adenauers. Die erste große Niederlage der Union 1969 und die folgende Oppositionserfahrung bedeuteten für die ganze Partei einen gewaltigen Schock (plötzlich stand sie ohne Macht und Einfluss da) – und waren doch gleichzeitig ein kathartisches Erlebnis, das die erforderliche Wende und einen massiven Prozess der Erneuerung einleitete. Als junger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz holte Kohl eine Vielzahl fähiger junger Leute – Heiner Geißler, Hanna-Renate Laurien, Kurt Biedenkopf, Bernhard Vogel –, die neue Inhalte gedacht und einen neuen politischen Stil praktiziert haben. Merkel hat dergleichen nie gemacht, ihre Biedenkopfs und Geißlers heißen Gröhe und Pofalla.

Vielleicht konnte man aber auch gar nichts anderes erwarten. Merkel kam 1989 nach der Wende in ein ihr fremdes Land, vorsichtig, unsicher, ohne klare Orientierung, wie konnte es auch anders sein? Das alles kann man verstehen. Was man aber schwer verstehen kann, ist, dass sie gewaltige Volten hinlegt ohne jede inhaltliche Begründung. Zum ersten Mal 2003: Für die plötzliche neoliberale Wende von Leipzig hatte sie eine Kommission berufen, und diese hat wiederum eine Unternehmensberatungsagentur beauftragt, die natürlich weder den Ton der CDU noch ihren Traditionskern getroffen hat. Die Partei wurde nicht gehört, sie wurde hinterher von oben nach unten informiert. Und wie hinein, so auch wieder heraus: Als nach der Wahlniederlage 2005 in der großen Koalition der Rückzug von Leipzig angesagt war, inszenierte Merkel diesen erneut, ohne dafür in Partei und Öffentlichkeit gute Gründe anzugeben. Das Gleiche gilt für den Ausstieg aus der Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima: Er wurde einfach von oben dekretiert, ohne zu begründen, ohne abzuwägen.

Und hier liegt das eigentliche Problem: Merkel will oder kann ihre Politik nicht begründen, nicht in größere Zusammenhänge stellen. Sie kennt auch nicht die Traditionslinien der Partei, wo über Jahrzehnte mit einzelnen Themen gerungen wurde, mit großen Fehlern, aber auch mit großen Erfolgen.

So hat die CDU bereits Ende der 70er Jahre – nach dem Atomunfall von Harrisburg – unter Heiner Geißlers Federführung einen großen Kongress im Adenauerhaus in Bonn zu den „Optionen einer lebenswerten Zukunft“ durchgeführt, auch zu den möglichen Folgen und fatalen Konsequenzen der Atomkraft. Hier wie anderswo ist der parteigeschichtliche Argumentationszusammenhang völlig abgerissen. Die Politik wird nicht mehr begründet, die Richtung stattdessen abrupt gewechselt. Deshalb wissen die Leute heute buchstäblich nicht mehr, wo der CDU politisch der Kopf steht, und sie wissen daher auch nicht, woran sie mit der Union sind.

Angela Merkel schweigt, und wenn sie spricht, findet sie oft nicht den richtigen Ton. Zum Beispiel im Fall bin Laden. Eine christliche Partei freut sich nicht über den Tod eines Menschen, allenfalls darüber, dass die Terrorgefahr nun geringer ist. Oder das Beispiel Guttenberg: Merkel redet von bürgerlichen Werten und schaut doch einfach zu, wie ein konservativer Minister diese Werte über Wochen und Monate verrät („Ich habe keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen, sondern einen Verteidigungsminister“). Oder die Vorgeschichte des Machtverlusts in Baden-Württemberg: Nach der Wahl 2006 war Ministerpräsident Oettinger drauf und dran, eine schwarz-grüne Koalition zu bilden, die für Baden-Württemberg schon damals sinnvoll gewesen wäre. Doch der damalige Fraktionsvorsitzende Mappus verhinderte dies, die CDU-Vorsitzende blieb still – unterstützte dafür dann später Mappus: Als dieser seine konservativen Muskeln spielen ließ, erklärte sie den Gedanken an Schwarz-Grün zu einem „Hirngespinst“. Nein, das waren keine Beiträge zur Politik, die aus einem eigenen Profil, aus einem inneren Kompass zu erklären sind.

Merkels Dilemma

Das ist der entscheidende Punkt: Man weiß nicht so recht, in welche Richtung Merkels innerer Kompass zeigt, ja, ob sie überhaupt einen hat. Daraus resultiert die Orientierungslosigkeit der Partei. Wenn aber der eigene Kompass kaputt ist, und man meint, er funktioniert, dann ist das schlimmer, als wenn man weiß, dass man keinen hat – und sich entsprechend verhält. Denn dann würde man wenigstens fragen, woher man kommt, wohin die Reise gehen soll – und wo die Abgründe lauern. „Metis“ nennt man diese Tugend vorsichtiger Umsicht in unübersichtlichem Gelände.

Merkel aber fragt niemanden. So führt man eine Partei ins Niemandsland. Es sind vor allem zwei strategische Fehlentscheidungen, die die CDU in die Sackgasse geführt haben: Sie hat die schwarz-grüne Option nicht vorbereitet, sondern diskreditiert („Hirngespinst“), und sie hat die schwarz-gelbe Koalition ohne Grund idealisiert („Traumkoalition“).[1]

Niemand kann Angela Merkel vorwerfen, dass sie 2009 die sogenannte bürgerliche Koalition eingegangen ist. Das war für die CDU damals selbstverständlich. Was Angela Merkel aber bereits damals hätte merken können, ist: Die alten bürgerlichen Koalitionen (von 1949 bis 1966 und von 1982 bis 1998) waren nicht wiederholbar, weil CDU und FDP sich verändert haben. Die CDU ist nach Leipzig wieder zurückgerudert, wieder mehr eine soziale Partei geworden, während sich die FDP zu einer Ein-Themen- und bloßen Steuersenkungspartei radikalisiert hat. So haben wir es heute mit einer Koalition zu tun, bei der sich beide Seiten wechselseitig behindern: Die einen können nicht sozial, die anderen nicht richtig liberal sein. Kein Wunder, dass diese „Behinderungskoalition“ gemeinsam schrumpft. Schwarz-Gelb war eine Mesalliance von Anfang an.

Merkels Fehler war es daher, von einer „Traumkoalition“ zu reden, ohne die absehbaren Probleme wenigstens in Ansätzen zu thematisieren und so auch den Übergang von Schwarz-Rot zu Schwarz-Gelb wenigstens ein bisschen zu erklären. Es ist ja keineswegs schlimm, dass Merkel eine Kanzlerin der wechselnden Partnerschaften ist. Man kann mit wechselnden Partnern – mal mit der SPD, dann mit der FDP, danach mit den Grünen – durchaus produktive Koalitionen bilden, wenn man denn weiß, was man selber will – und dem anderen auch Raum lässt, das durchzusetzen, was ihm wichtig ist. Erfolgreich sind künftig „Lernkoalitionen“, die sich mit Blick auf die Zukunftsfragen ergänzen. Auch unter diesem Aspekt hat Schwarz-Grün einen ganz anderen Appeal als die schwarz-gelben Farben der Vergangenheit.

Nicht, dass sie mit etwas Glück durch die gesamte Parteienlandschaft navigiert und koaliert, kann man der CDU-Vorsitzenden deshalb vorwerfen, sondern dass sie ihre Koalitionsreise mit einer irrlichternden Rhetorik begleitet oder aber so tut, als sei das alles buchstäblich nicht der Rede wert. Kommen dann noch grobe Fehleinschätzungen in der Sache dazu, dann weiß endgültig niemand mehr, wohin die Reise geht. Niemand hat die Regierung Merkel gezwungen, die Laufzeiten erst zu verlängern und dann ansatzlos aus der Atomenergie auszusteigen. Niemand hat die Bundeskanzlerin gezwungen, die Wahl in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung über Stuttgart 21 auszurufen. Sie hat im einen wie im anderen Fall die epochale Dimension nicht erkannt, die hier wie dort hinter den Emotionen und Konflikten stehen.

Mit Stuttgart 21, der Schlichtung durch Heiner Geißler und, für jeden sichtbar, mit der Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten ist ein anderes Modell der Politik attraktiv und notwendig geworden: mehr Bürgerbeteiligung und neue Formen der Demokratie. Diese Evolution der Demokratie kann man durchaus aus der Kontinuität der bundesdeutschen Geschichte ableiten.

In der ersten Phase galt es, die junge Demokratie in der Bundesrepublik gegen die Gefahren der Vergangenheit zu schützen. Die Stabilität der repräsentativen parlamentarischen Demokratie war der oberste Wert, das Grundgesetz auch „ein Misstrauensvotum gegen das Volk“ (Rüdiger Altmann). Jetzt aber kommt es zusätzlich darauf an, die Demokratie zu stärken angesichts der Gefahren der Zukunft, angesichts der wachsenden Gleichgültigkeit, des Vertrauensverlustes von Parteien und Parlamenten. Es geht um eine Revitalisierung der repräsentativen Demokratie, und zwar durch ihre intelligente Kombination mit Formen der direkten Demokratie.

Alternativen nach Merkel

Angela Merkel hat die Union, das ist ihre bleibende Leistung, politisch-kulturell geöffnet – familienpolitisch, integrationspolitisch, frauenpolitisch. Die CDU ist unter ihrer Führung eine andere Partei geworden. Das gilt jedoch im Positiven wie im Negativen. Heute ist die Union eine Partei, deren Muskeln erschlafft sind.

Dennoch sollten die Gegner der Union nicht voreilig jubilieren: Die CDU wird, auch wenn es schwer werden dürfte, eine Chance nach Angela Merkel haben. Denn Angela Merkel ist keineswegs alternativlos in der Union.

Hinter ihr gibt es bereits heute zumindest ein starkes Quartett: zum Ersten den Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, der die konservative Richtung verkörpert; daneben Umweltminister Norbert Röttgen für die ökologische Strömung; aber auch Verteidigungsminister Thomas de Maiziere, der zu Recht ob seiner Sachlichkeit großes Vertrauen in der Öffentlichkeit genießt, und schließlich, obgleich sie nicht von allen gemocht wird, Ursula von der Leyen, die bereits bewiesen hat, dass sie eine Sache vertreten und sich in der Öffentlichkeit durchsetzen kann.

Es gibt also Alternativen in der Union – auch zu Angela Merkel. Wer deshalb die Union jetzt schon abschreibt, tut dies voreilig. Es wird neues Leben aus den Ruinen der Union blühen, wenn diese Ruinen eines – vielleicht nicht mehr ganz so fernen – Tages für jeden sichtbar geworden sind.

 


[1] Vgl. Warnfried Dettling, Schwarz-Grün? Das ist nicht mehr die Frage. Aber was wird aus der CDU? In: Volker Kronenberg (Hg.), Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden 2011 [i.E.].

 

(aus: »Blätter« 7/2011, Seite 5-9)