Kehrt der Keynesianismus zurück?

Mit Claus Noé sprachen Ulrich Busch und Rainer Land

Ulrich Busch: Der 60. Todestag von John Maynard Keynes am 21. April 2006 war Anlaß für zahlreiche Rückblicke auf seine Theorie, aber auch für Fragen, inwieweit diese Theorie auf Probleme von heute eine Antwort zu geben vermag. War der Keynesianismus tatsächlich das tragende Konzept der Wirtschafts- und Finanzpolitik der 1960er und 1970er Jahre?

Claus Noé: Daß der Keynesianismus während der 1960er und 1970er Jahre das tragende Konzept der Wirtschafts- und Finanzpolitik gewesen sei, ist eine Mär - jedenfalls in Deutschland. Hier war er es nie. Die keynesianische Theorie war en vogue seit Anfang, Mitte der 1960er Jahre, insbesondere durch das Mitglied des Sachverständigenrates Wolfgang Stützel2. Auf die erste kleine Rezession 1966/67 wollte die Regierung Erhard in schöner Brüningscher Tradition reagieren - also nicht mit mehr, sondern mit weniger Schulden, kein Defizit-Spending. Das kostete sie den Kopf und brachte die große Koalition, die Sternstunde des Karl Schiller3 und seiner "aufgeklärten Marktwirtschaft". Unter den Wissenschaftlern outeten sich damals viele als Keynesianer. Aber schon Anfang der 1970er Jahre ging es im Sachverständigenrat wieder in die andere Richtung: Das Sachverständigenratsmitglied Olaf Sievert4 schrieb einen Aufsatz unter dem Titel "Angebotspolitik", in dem er in Wahrheit das vertrat, was heute "neoliberal" heißt: Der Staat macht alles schlecht, laßt die Märkte in Ruhe, laßt sie machen. Keynesianische Politik gab es in Deutschland also nur für eine sehr kurze Zeit. Heiner Flassbeck5 hat dieses Dilemma als Stabsmitarbeiter im Sachverständigenrat beobachtet.

In den angelsächsischen Ländern dagegen, in den USA und im Vereinigten Königreich, war und ist "Makropolitik", also antizyklische Konjunkturpolitik, sowohl über die Geldpolitik als auch über die Fiskalpolitik, nie strittig gewesen - bis zum heutigen Tag nicht. Insofern war die deutsche ökonomische Garde ein bißchen "hinterwäldlerisch", verglichen mit den USA und Großbritannien. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern ist, daß die deutsche Wirtschaftswissenschaft eine große Scheu davor hat, sich mit Empirie zu befassen. Die Deutschen sind ganz groß im "Glasperlenspiel". Aber auch innerhalb der Wissenschaft gibt es großen Streit: Hans-Jürgen Krupp, zum Beispiel, einer der großen Ökonomen der Nachkriegszeit, Präsident des DIW, Mitglied des Zentralbankrates der Bundesbank, Professor an der Universität Frankfurt am Main, hat zwei bemerkenswerte Aufsätze geschrieben6, worin er kritisiert, daß sich die Volkswirte nicht um Empirie kümmern, mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben wollen. Gleichwohl aber würden sie die Politik gern beraten.

Um hier erfolgreich zu sein, muß man sich aber der schwierigen Frage stellen, wie man Übergänge von einer Phase in eine andere instrumentell steuern, operationalisieren und organisieren kann. Anders ist dies politisch nicht durchsetzbar. Und deswegen sind die theoretischen Glasperlenspieler zur Politikberatung ungeeignet.

Bemerkenswert ist, daß die These von Krupp durch eine Umfrage, die die "Financial Times Deutschland" zusammen mit dem Verein für Socialpolitik bei dessen Mitgliedern gemacht hat, bestätigt wird. Da gibt es überraschende Thesen: So hätten 73 Prozent der Ökonomen gerne eine beratende Tätigkeit bei der Politik, aber nur 40 Prozent geben an, die eigene Forschung auf Politikberatung hin auszurichten. Die anderen meinen wohl, man könnte das "mit der linken Hand" machen, eben Theorie anbieten. Bemerkenswert ist in der gleichen Umfrage, daß die deutschen Ökonomen zu 85 Prozent Keynes für einen der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts halten. Aber nur knapp ein Viertel ist der Meinung, daß man dessen Theorie folgen solle. Man sieht daran: Der Keynesianismus ist alles andere als tot, denn 85 Prozent der Wissenschaftler halten Keynes für einen wichtigen Ökonomen. Aber man kommt auch zu dem Ergebnis, daß wirtschaftspolitische Instrumente nicht nach der Bedeutung ihrer Erfinder, sondern nach konkreten Verteilungsinteressen ausgewählt werden.

Rainer Land: Keynesianische Politik gab es nur in einer kurzen Phase. Erhard war also kein Keynesianer ...

C.N.: Nein!

R.L.: Â… auch wenn er den Verbrauch und das Lohnwachstum als Teil seines Konzepts gesehen hat. Aber nicht die Staatsausgaben.

C.N.: Nicht die Staatsausgaben! Vor allem aber hatte er eine eigenartige Vorstellung von Stabilitätspolitik. Er hielt die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung für Teufelszeug.

R.L.: Peter Bofinger7 hat nun aber gerade Ludwig Erhard als Zeugen gegen den neoliberalen Mainstream angeführt Â…

C.N.: Ja, aber das hat nichts mit Keynes zu tun. Erhard wollte mit seinem "Wohlstand für alle", daß die Masseneinkommen steigen. Karl Schiller trat dann mit dem Motto "aufgeklärte statt naive Marktwirtschaft" an. Das war die Antwort auf Erhard. Das Problem bestand in folgendem: Nachfragesteuerung mit dem Ziel, gesamtwirtschaftliche Gleichgewichte herzustellen, kann man leicht mißverstehen als "unkonditionierte Vollbeschäftigungspolitik". Das bedeutet, der Staat tritt immer in die Lücke, auch wenn die Lohnzuwächse zu hoch sind - sie also über dem Produktivitätsfortschritt plus Zielinflationsrate der Notenbank liegen. Als die Beschäftigung in Gefahr war, machte die Regierung Schmidt - Karl Schiller war da schon nicht mehr dabei - eine expansive Ausgabenpolitik. In Wahrheit war dies aber ein Mißbrauch einer "nichtkeynesianischen" Situation für ein Defizit-Spending.

Unkonditionierte Beschäftigungsgarantie plus Ausgabenprogramme plus Stagflation - der Staat gab Gas, die Bundesbank stand auf der Bremse - dies führte auf den Abweg. Es soll nicht verschwiegen werden, daß in der Politikanwendung das keynesianische Modell überstrapaziert wurde und deswegen die eh schon lauernde Reaktion dies zum Anlaß nahm, dagegen vorzugehen. Und zwar ziemlich schnell: Die konzertierte Aktion wurde von Wirtschaftsminister Friedrichs (FDP), später Vorstandvorsitzender der Dresdner Bank, in die Luft gesprengt. Und dann war es eigentlich auch schon vorbei.

R.L.: Es war also nicht nur eine ideologische Reaktion?

C.N: Nein, es wurde klar überzogen. Aber nicht nur. Man muß auch im Blick haben, daß die Anwendung der keynesianischen Theorie von ihren politischen Vertretern als ein Instrument begriffen wurde zur Herstellung von mehr Wachstum und Beschäftigung. Man muß erkennen, daß ein ökonomisches Konzept, das zu Vollbeschäftigung führt, die Arbeitgeberseite als Tarifpartner schwächt.

U.B.: Angesichts der Unmöglichkeit, mit den herkömmlichen Instrumenten die anstehenden Probleme (Wachstum, Beschäftigung usw.) zu lösen, stellt sich die Frage nach einem Strategiewechsel. Rechnen Sie mit einer Renaissance des Keynesianismus?

C.N.: Es gibt die Einsicht, daß die Politik der permanenten Lohnzurückhaltung falsch war, und es gibt eine heftige Debatte über die Geldpolitik. In dieser Debatte wächst die auf Keynes zurückgehende Einsicht, Wachstum sei am besten dadurch zu erreichen, daß der Realzins niedriger ist als die reale Wachstumsrate. Denn nur dann rentieren sich Sachinvestitionen mehr als Finanzanlagen.

Zum ersten Punkt: Es gibt eine massive Diskussion, die besagt, weitere Lohnzurückhaltung sei "dummes Zeug". Die Leute haben gemerkt, daß wir enorme Exportüberschüsse haben. Sie haben aber auch erkannt, daß unsere Exportüberschüsse im Euroraum unsere Nachbarn arm machen. Man muß sich mal die Entwicklung der Überschüsse gegenüber Italien, Frankreich und Spanien seit der Einführung des Euro anschauen. Wenn wir verschiedene Währungen hätten, würden diese Überschüsse nicht entstehen, denn dann wäre die deutsche Währung längst aufgewertet. Man kann Überschüsse nicht innerhalb von sechs Jahren vervierfachen, ohne daß die Wechselkurse reagiert hätten.

Wir verkaufen unsere Güter in diese Wirtschaftsräume, aber es handelt sich inzwischen um ein und dieselbe Währung. Der Wechselkurs kann nicht reagieren. Folglich gibt es in unserer Leistungsbilanz auch keine Folgen, keine Zuflüsse von Ansprüchen auf das Sozialprodukt anderer Länder. Auf der einen Seite ruinieren wir dadurch unsere Handelspartner, auf der anderen Seite verschenken wir unsere Produkte. Auf Dauer muß diese Entwicklung den europäischen Wirtschaftsraum mit seiner einheitlichen Währung zerreißen. Da es die Möglichkeit einer Aufwertung nicht gibt, müßten die anderen Länder - so sagt Gustav Horn8 - ihre Löhne um 20 Prozent senken, um wieder zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu kommen. 20 Prozent Lohnsenkung aber würde eine tiefe Rezession und Depression bewirken. Und wir hätten wieder ein Deflationsproblem im Euroraum.

Dies beginnt man inzwischen zu erkennen, sogar in der OECD. So wird öffentlich erklärt, daß die Deutschen falsch liegen und mit ihrer Politik der Lohnzurückhaltung, der Bündnisse für Arbeit, auf die sich törichterweise die sozialdemokratisch geführte Regierung Schröder und einige große Gewerkschaften eingelassen haben, die europäische Wirtschaft gefährden. Es wächst die Einsicht, daß man im Euroraum faktische Abwertungswettläufe vermeiden muß, da diese letztlich für alle Wohlstands- und Wachstumsverluste bedeuten. Das müßten wir eigentlich aus der Weltwirtschaftskrise gelernt haben.

Zweitens haben wir inzwischen eine massive Debatte um jeden Schritt der Geldpolitik. Es wird nicht mehr hingenommen, daß erklärt wird: "Wir müssen jetzt den Zins erhöhen, denn es könnten Inflationserwartungen erwartet werden." Auch hier gibt es eine Renaissance makroökonomischen Denkens!

Der entscheidende Unterschied zwischen Keynesianern und Neoliberalen ist ja nicht die Makropolitik als solche. Unsere deutschen Neoliberalen meinen: "Die Märkte richten es von allein, der Staat muß draußen bleiben, muß deregulieren und soll sich auch aus der Konjunktursteuerung heraushalten, denn das kann er auch nicht." Letzteres ist eine schlichte Behauptung.

Die Amerikaner und Briten sind viel wirtschaftspolitischer als der EZB-Rat und die deutsche Bundesregierung - die Schrödersche und die jetzige. Die Amerikaner sagen: "Natürlich brauchen wir eine makroökonomische Steuerung, aber nicht so viel Regulierung." Da ist ja durchaus etwas dran. Die Amerikaner wissen, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem zwei Schwächen hat: erstens die Krisenanfälligkeit, die Konjunkturschwankungen, die der Staat stabilisierend ausgleichen muß; und zweitens die Verteilung. Der Markt führt zu einer Verteilung, die gesellschaftspolitisch zu einer Explosion führt. Dies nicht nur unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten, sondern auch wirtschaftlich. Die Verteilung führt zu einer Verwendungsstruktur des BIP, die keine hinreichende Binnennachfrage ergibt. Die oberen Einkommensklassen sehen keine Verwendung für ihr Vermögen in der Realinvestition, weil die Nachfrage fehlt. So wird die Allokation massiv von der Verteilung beeinflußt. Dies mögen die Neoliberalen im Kern bestreiten. Sie wollen nur über Allokation nachdenken und glauben, Verteilung sei Gefühl und Wellenschlag, und eine Stabilisierung gelänge sowieso nicht ...

U.B.: Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, bemerkte kürzlich, daß die gegenwärtig zu verzeichnende "persistente Konsumschwäche in Deutschland einmalig in der Nachkriegsgeschichte" sei. Nun würde eine keynesianische Wirtschaftspolitik genau hier ansetzen und mit Hilfe des Staates für eine Steigerung der effektiven Nachfrage sorgen. - Das ist bekannt. Warum aber tut es keiner?

C.N.: Man muß wissen, daß eine expansive Haushaltspolitik heute in Deutschland massiv behindert wird durch die folgende, in Wissenschaftlerkreisen übliche Überlegung: Wenn wir das jetzt machen, nehmen wir den Druck von den Arbeitsmärkten und damit die Bereitschaft zu Strukturveränderungen, zu dem also, was man heute "Reformen" nennt.

Dazu gibt es einen wunderschönen Aufsatz von Gerd Wagner9, welcher schreibt: "Hingegen glauben in Deutschland viele marktliberale Ökonomen, eine beschäftigungsfreundliche Geld- oder Fiskalpolitik würde nur die Reformkräfte in der Politik schwächen, da der Abbau von Arbeitslosigkeit strukturellen Handlungsdruck wegnehmen würde." Das ist eine verheerende These, denn dies bedeutet in Wahrheit: Man muß erst den Laden zerstören, um ihn dann wieder aufbauen zu können.

R.L.: Gesundschrumpfen? Passive Sanierung?

C.N.: Nein. Die Amerikaner haben dafür einen viel besseren Ausdruck: "Starving the beast" - Das Biest aushungern. Deswegen wird die Staatsquote gesenkt, werden die Löhne runtergeprügelt. Man will "das Biest" aushungern, bis es weich ist.

R.L.: Also, es geht nicht so sehr um die Lohnhöhe an sich, sondern um den Druck auf die Politik und auf die Leute, um bestimmte Deregulierungen durchzusetzen?

C.N.: Ja, aber durch ein ökonomisch fatales Mittel: ich verzichte auf Wohlstand, ich verzichte auf Wachstum, ich verzichte auf eine höhere Güterausstattung, ich nutze fünf Millionen Arbeitskräfte nicht, ich belaste den Staat mit Transferzahlungen - und all dies nur, um politischen Druck auszuüben. Das Ziel besteht, rüde gesagt, darin, die politischen Einschränkungen der Vertragsfreiheit aufzuheben, so daß am Ende wieder jeder einzelne Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber seinen Tarifvertrag selber aushandeln muß. Das ist die radikale These hinter dieser Politik.

R.L.: Sie sagen, in den 1970er Jahren wurde der Keynesianismus überzogen, wurde in einer nicht-keynesianischen Situation expansive Haushaltspolitik gemacht. Erklärt dies die Wende zu einer neoliberale Strategie?

C.N.: Wie kam der Neoliberalismus, wie kam die Deregulierung nach Europa? Wir kam die Globalisierung nach Europa? - Diese Fragen werden selten richtig beantwortet. Sie kamen aus Europa! Entscheidend dafür war, daß man in den späten 1970er Jahren einen offenen gemeinsamen Binnenmarkt wollte. Da war die erste politische Ansage: Wir brauchen gemeinsame Regeln, eine Harmonisierung der Regeln. Dann stellte man fest, daß dies ewig dauern würde, man es nicht so schnell hinbekommen wird. Dann kam die These auf: "Wettbewerb der Systeme". Das bedeutete: "Wir machen die Grenzen auf, ohne gemeinsame Regeln zu setzen." Die Öffnung der Grenzen, ohne daß der ausländische Anbieter verpflichtet wird, irgendwelche Regeln - und schon gar nicht die des Ziellandes - einzuhalten. Damit begann die Globalisierung.

Es war für die Bildung des größeren Binnenmarktes durchaus richtig, auf den "Wettbewerb der Systeme" zu setzen. Extrem falsch war aber, nicht auf einem Minimum an Regeln zu bestehen. Also in eine regelrechte Deregulierungssucht zu verfallen und dann zu vergessen, daß man nicht nur für die Umsatzsteuer gemeinsame Regeln braucht, sondern auch für die Einkommensteuer. Und daß man es nicht so machen kann, daß die einen Unternehmen per Gesetz Sozialverpflichtungen haben und die anderen nicht - im gleichen offenen Wirtschaftsraum. Man hätte ein Minimum an Regulation benötigt. Dies wurde auch immer wieder gefordert, aber nicht durchgesetzt.

Wir sehen: Die Deregulierung begann in Europa, die Globalisierung, die Aushebelung der staatlichen Souveränität durch Öffnung der Grenzen. All das begann nicht bei den bösen Amerikanern und nicht bei den Angelsachsen, sondern hier in Europa in den 1970er Jahren. Wirtschaftliche Freiheiten sind richtig, aber inzwischen haben viele begriffen, daß es verkehrt ist, wirtschaftliche Freiheiten zu geben, ohne zugleich eine staatliche Einhegung dieser Freiheiten zu beschließen. Oder noch kruder: Man macht die Grenzen auf und beschließt eine verbalerotische Sozialcharta ohne Verbindlichkeit. Dies zeigt, daß das Problem erkannt worden ist, aber nur die kleinste denkbare Lösung, die Deklamation, verwirklicht wurde.

Der EU-Verfassungsentwurf ist in Frankreich und Holland nicht nur an nationalen Ressentiments gescheitert, sondern ebenso und vielleicht vor allem am Mangel an Arbeitnehmerschutzrechten, am Mangel an sozialen Sicherungen. Die Linke in Europa wäre gut beraten, wenn sie sich zusammenfände, um nicht nur den alten Entwurf zu kritisieren, sondern für einige Schlüsselbereiche einen eigenen Entwurf vorzulegen. Dieser müßte soziale Rechte definieren, ebenso aber auch institutionelle Pflichten der EU-Organe, die diese zu makroökonomischer Zusammenarbeit und Analyse verpflichten. Denn richtig ist, daß es im einheitlichen Euroraum keinen Sinn hätte, wenn jeder seinen nationalen Keynesianismus praktiziert. Die Wahrheit ist, daß dieser einheitliche Wirtschaftsraum eine zentrale makroökonomische Führungsstruktur braucht. Und das kann keine extrem autonome Notenbank sein, die über Stabilität redet, sich aber mit niemandem abstimmen muß und keinerlei Verpflichtung für Wachstum und Beschäftigung unterliegt. Und es kann auch kein Stabilitäts- und Wachstumspakt sein, der an keiner Stelle definiert, wie in einer Rezession die gemeinsame Fiskalpolitik der Euroländer aussehen soll und welche Rolle die Kommission mit ihrem Haushalt in einer solchen Politik spielen soll. Wichtig wäre auch eine Einigung der Gewerkschaften in Euroland über Kriterien einer richtigen Lohnpolitik. Dafür bietet sich die beschäftigungsförderlichste Formel an, die nicht "Lohnzurückhaltung" lautet, sondern: "Lohnwachstum gleich Produktivitätsfortschritt plus Zielinflationsrate". Darauf müßten sich die Gewerkschaften einigen, sonst zerbricht Euroland an der Einkommensentwicklung.

Lohnpolitik als Abwertungsstrategie dagegen führt zum Auseinanderfliegen des Euroraums - das kann fünf, sechs Jahre dauern, aber je länger es dauert, desto größer werden die Spannungen.

R.L.: Sie sagen, an einigen Stellen wächst die Einsicht, und verweisen auf die Debatten über Lohn- und Geldpolitik. Sehen Sie unter der neuen Regierung Merkel Entwicklungen, die aus der Krise heraus zu mehr Beschäftigung und Wachstum führen könnten?

C.N.: Wenn man von "Ersatzarbeitsmärkten" absieht, die nur die Statistik durch Umdefinieren von Arbeitslosigkeit manipulieren, wird es zu keiner Verbesserung der Beschäftigung kommen.

U.B.: Gibt es nicht doch wenigstens einige keynesianische Versatzstücke in der gegenwärtigen Regierungspolitik?

C.N.: Wenn es der Regierung gelänge, die EZB zu einer Notenbankpolitik zu bewegen, die von weiteren Zinserhöhungen absieht, und wenn die Einsicht steigt, daß man Reallöhne im Maße des Produktivitätszuwachses erhöhen muß, dann ja, dann hätte die gegenwärtige Regierung eine Chance. Aber nur dann.

Aber ich will noch eines deutlich machen: Das Zurückbleiben der Löhne kann durch ein Defizit-Spending nicht repariert werden. Unser Exportüberschuß, der durch das bemerkenswerte Zurückbleiben der Löhne hinter der Produktivitätsentwicklung entstanden ist, entspräche quantitativ einem Konjunkturprogramm von mehr als 80 Milliarden Euro. Es ist überhaupt nicht vorstellbar, daß aus den Haushalten der Bundesrepublik ein Konjunkturprogramm von 80 Milliarden Euro auf Kredit finanziert dargestellt würde. Und zwar nicht, weil dies praktisch unmöglich wäre, sondern weil die Psychologie dagegen ist. Es wäre unter den gegebenen Umständen unmöglich, weil die Leute dann wirklich glaubten, die Zinsen stiegen ins Aberwitzige, und ihre eigene Verschuldung zurücknähmen. Dann hätten wir ein Nullsummenspiel: Der Staat verschuldet sich zusätzlich, und die anderen gehen aus der Verschuldung raus. Dies zeigt, die Lösung liegt bei der Geldpolitik und bei den Löhnen, nicht oder kaum aber bei der Fiskalpolitik; sie darf nicht prozyklisch bleiben, das ist das Mindeste.

R.L.: Aber wie könnte die Politik auf die Lohnpolitik einwirken? Über die Löhne im öffentlichen Dienst?

C.N.: Nein, so herum nicht, das würde schiefgehen. Als Tarifvertragspartner kann man das nicht machen. Man müßte erklären: "Die Lohnmoderation des Staates, die zu dieser massiven Lohnzurückhaltung geführt hat, wird nicht fortgesetzt. Sie war falsch." Frau Merkel könnte das Herrn Schröder sagen. Oder Herr Steinbrück müßte es verkünden. Vielleicht auch der Bundeswirtschaftsminister, Herr Glos, falls es ihm einer glaubt. Er hat es ja bereits gesagt, wurde aber sogleich zurückgepfiffen.

Es ist heute aber nicht mehr so wie bei der sozialdemokratisch geführten Vorgängerregierung, daß diese Bundesregierung jede Woche dreimal erklärt, Lohnzurückhaltung sei eigentlich das Notwendige. Jetzt herrscht eher Schweigen; ein Zeichen dafür, daß die Einsicht gewachsen ist. Unter der Vorgängerregierung wurde den Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit ein Kommuniqué abgetrotzt, in dem zu lesen war, daß Lohnabschlüsse unter der Produktivitätssteigerung zu mehr Beschäftigung führen würden.

R.L.: Warum haben die Gewerkschaften das mitgemacht?

C.N.: Weil sie es geglaubt haben. Offensichtlich. Auch dort hatte man nicht begriffen, daß Lohnzurückhaltung nicht zu mehr Beschäftigung führt. Ich habe versucht, die Gewerkschaften daran zu hindern, diesen Stuß der Lohnmodulation mitzumachen. Die oberen Fachfunktionäre hatten den Fehler durchaus begriffen. Aber da wirkte der Druck der Betriebsräte - die nach dem Motto handelten, wenn wir die Löhne senken, dann werden von uns weniger entlassen. Und das ist ja betriebswirtschaftlich korrekt, solange es um einen einzelnen Betrieb geht. Nur wenn dies alle machen, klappt es nicht. Das ist wie im Kino. Erst sitzen alle, dann steht einer auf, um besser zu sehen. Weitere folgen, und am Ende stehen alle und der Vorteil ist dahin. Wenn alle die Löhne senken, ist der betriebswirtschaftliche Effekt weg. Steigt die volkswirtschaftliche Lohnsumme nicht im Maße der Produktivität plus Zielinflationsrate, so gehen die Umsätze zurück, die Gewinne werden nicht investiert, und in der Folge geht die Beschäftigung noch weiter zurück ...

Das Falscheste vom Falschen in der Rezession ist eine negative Lohnpolitik. Falsch ist auch, zu glauben, man müsse dann die Löhne erhöhen, weil die Unternehmen dann pleite wären, bevor sie sich erholt haben. Die Löhne sinken doch sowieso. Es fallen die Überstunden weg, die Zuschläge usw. Die reale Kaufkraft der Löhne sollte in der Rezession möglichst gleichhoch bleiben, nicht um die Konjunktur anzukurbeln, sondern um einen weiteren Abfall zu verhindern.

R.L.: Nun schädigt eine neoliberale Lohnpolitik nicht nur die Arbeitnehmer, auch viele Unternehmen leiden unter der Nachfrageschwäche.

C.N.: Man darf drei Machtpunkte nicht vergessen: Diejenigen, die in der Wirtschaft neoliberal denken, haben kein Interesse an einem Beschäftigungsstand, der sie auf dem Gebiet der Tarifpolitik schwächt. Die Mehrheit von ihnen hat auch kein Interesse daran, daß der Sozialstaat den Druck auf die Beschäftigten mindert. Und sie hat auch kein Interessen daran, daß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Gleichgewicht besteht. Ihnen liegt allein an der Vorherrschaft.

Die Orientierungen der Unternehmer ha-ben sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Zu Karl Schillers Zeiten machte man eine Politik, die Sachinvestitionen begünstigte und die Beschäftigung stärkte. Die höheren Sachinvestitionen führten zu höherer Güterproduktion und höheren Gewinnen der Unternehmen, und die hohe Kapazitätsauslastung sorgte für mehr Beschäftigung. Die Unternehmen wuchsen, teilweise mit einer Rate von jährlich fünf Prozent und mehr. Insofern waren auch die Unternehmen in das Wachstumsmodell integriert. Daher konnten sie hinnehmen und haben hingenommen, daß es auf den Arbeitsmarkt für sie eng wurde. Das ist heute anders: Finanzanlagen bringen in der Regel mehr Erträge als Sachanlagen. Dies wieder umzukehren, ist ganz schwer.

U.B.: Die Deutsche Bundesbank denkt momentan über ein Gesetz zum Schuldenstopp in Deutschland nach. Dies würde den Staat zwingen, sein Defizit zu reduzieren und seinen Schuldenstand abzubauen. - Was wären die volkswirtschaftlichen Wirkungen eines solchen Gesetzes, wenn es denn eingeführt würde?

C.N.: Ein Gesetz zur Schuldenbegrenzung ist idiotisch. Das ist naive Finanzwirtschaftstheorie, keine aufgeklärte, keine dynamische. Es würde dazu führen, daß die Leute keine Investitionen mehr tätigen. Man sollte die Bundesbank fragen, ob sie will, daß der Staat seine Investitionen aus laufenden Einnahmen bezahlt und die Vermögensbildung künftig beim Staat erfolgen soll. Das Realvermögen wäre dann beim Staat. Wenn der Staat dagegen seine Investitionen über Kredite finanziert, sind die Ansprüche auf dieses Vermögen beim Bürger, bei den Privaten ...

Diese Idee gehört in das Kapitel "Wie entmachtet man die Politik". Hinter der Formel "Mehr Markt, weniger Staat" steht eine Verlagerung politischer Entscheidungen auf die Privaten. Die verräterische Formel lautet: "Die Finanzmärkte stimmen über die Politik ab." Es wären aber nicht die Finanzmärkte, sondern die Akteure auf den Finanzmärkten, die Politik machen. Und wenn sie über die Politik abstimmen und abstimmen sollen, dann darf man nach ihrer Legitimation fragen. Die ist dann plutokratisch und nicht demokratisch.

R.L.: Herzlichen Dank für das Interview.

Anmerkungen

1 Claus Noé, Dr. phil., Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen 1998/99, Staatsrat in Hamburg 1987-1994.

2 Wolfgang Stützel (1926-1987), Prof. Dr., Volkswirt, 1966-1968 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

3 Karl August Fritz Schiller (1911-1994), Prof. Dr., Volkswirt und SPD-Politiker. Von 1966 bis 1972 Bundesminister für Wirtschaft und 1971/72 zusätzlich Bundesminister der Finanzen. Er war federführend an der Entstehung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes mit seinen im magischen Viereck dargestellten Zielen beteiligt; http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Schiller

4 Olav Sievert, Prof. Dr., Volkswirt, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von 1970 bis 1985.

Vgl. Olaf Sievert: Vom Keynesianismus zur Angebotspolitik. In: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), Vierzig Jahre Sachverständigenrat 1963-2003, 2003, S. 34ff.; Ders.: Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik des Sachverständigenrates. Das Konzept für die achtziger Jahre? In: O. Vogel (Hg.), Wirtschaftspolitik der achtziger Jahre. Leitbilder und Strategien, Köln 1982, S. 37ff.

5 Heiner Flassbeck, 1971-1976 im Assistentenstab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.;1986-1998 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, zuletzt als Leiter der Abteilung "Konjunktur"; 1998/99 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, derzeit Chef-Volkswirt bei der UNCTAD mit Sitz in Genf; http://de.wikipedia.org/wiki/Heiner_Flassbeck

6: Vgl. Hans Jürgen Krupp: In the long run weÂ’re all dead. In: die tageszeitung Nr. 7446 vom 27.06.2004, S. 11.

7 Peter Bofinger: Wir sind besser als wir denken, München 2005, S. 20ff.

8 Gustav Horn, Dr., Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.

9 Gert G. Wagner: Linke Wirtschaftspolitik oder gute Wirtschaftspolitik? Eine Betrachtung wirtschaftspolitischer Positionen. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 44 (2005) 3/4 (Dezember), S. 86-93.

Dr. Claus Noé, Staatssekretär a.D., Berlin

Dr. Ulrich Busch, Redaktion Berliner Debatte INITIAL

Dr. Rainer Land, Redaktion Berliner Debatte INITIAL

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 4, S. 4-10