Im Prozeß des Aufbaus einer neuen Linkspartei in Deutschland spielen Fragen der wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Strategie der neuen Formation eine herausragende Rolle.
Dies ist angesichts der wirtschaftspolitischen Stagnation in Deutschland und der Europäischen Union und der anhaltenden neoliberalen "Sozialstaatsreformen" auch angebracht und begrüßenswert. Hierin unterscheidet sich der Fusionsprozeß zur neuen Linkspartei deutlich von früheren Protestbewegungen, die in die Entstehung und den Aufschwung der Grünen in den 1980er Jahren mündeten und zunächst Ökologie, Frieden und Demokratie zum Ausgangspunkt hatten.
Für Oskar Lafontaine und die WASG scheinen die Dinge ganz einfach zu liegen: "Zunächst gilt es, über einen keynesianischen Ansatz mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Dieses Konzept ist selbst in der neoliberalen Ära überall in der Welt bestätigt worden. [...] Längerfristig muß die Frage aufgeworfen werden, inwieweit ein Wirtschaftsmodell, das immer noch auf Expansion orientiert ist, angesichts der damit verbundenen ökologischen Zerstörungen noch tragfähig ist. Die ökologische Orientierung der Wirtschaft muß hinzukommen" (2006: 6f.).
Diese Sichtweise ist breiten Kreisen in Attac Deutschland, dem Erfurter Sozialforum und einer Reihe von JungpolitikerInnen aus der Linkspartei.PDS zu schlicht. Sie bestreiten, daß ein "Wachstums- und Beschäftigungs-Keynesianismus" die ökonomischen Probleme lösen kann.
Idealtypisch hierfür ist die Argumentation von Daniela Dahn: "Eine Schätzung geht davon aus, daß ein jährliches (und unerreichbares) Wachstum von drei Prozent 600.000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Angenommen, dies sei real, dann bräuchten wir, um alle sieben Millionen Menschen ohne Arbeit zu beschäftigen, ein jährliches Wachstum von 35 Prozent. Wie würden wohl wir und die Natur danach aussehen? Wo doch schon bei drei Prozent Zuwachs die nächste Generation doppelt soviel konsumieren müßte, wie wir heute. Und die übernächste das Vierfache ... Wozu?" (2005) Zum anderen halten sie die zugrundeliegende "Etappentheorie" für verfehlt - erst Wachstum und Beschäftigung, dann langfristig ökologischer Umbau der Wirtschaft. Ähnliche Diskussionen gibt es auch auf der europäischen Ebene.
Die vorgenannten Strömungen streiten - allerdings mit deutlich verschiedenen Zielen und Akzentsetzungen - für eine andere Alternative: Vorrang einer Umverteilungspolitik von Reichen zu Armen, radikale Arbeitszeitverkürzung, sozial-ökologische Strukturreformen und Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Hierzu zitiere ich nochmals Daniela Dahn: "Ob es realistisch ist, drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu fordern, ist auch unter Gewerkschaftern umstritten. Da heute schon viele bereit sind, für weniger Geld länger zu arbeiten, wenn sie nur den Arbeitsplatz behalten, scheint es mir folgerichtig, daß sie unter dieser Bedingung auch nicht abgeneigt wären, erträgliche Geldeinbußen durch sehr viel weniger Arbeit auszugleichen. Ergänzend dazu müßte ein neuer Typ von natur- und menschenzugewandter Arbeit mit einem durch Steuergerechtigkeit finanzierten Bürgergehalt entgolten werden. Erst dieses unabhängig machende Grundeinkommen würde dazu berechtigen, von einem Bürgerstaat zu sprechen, in dem jeder in Würde leben kann." (Ebenda)
Alte Debatten neu aufgelegt
Mich überkommt angesichts dieser mit großem Eifer geführten Auseinandersetzungen eine gewisse Melancholie. Die "Neue Linke" führt den gleichen Streit, den Grüne und linke SPD schon in den 1980er Jahren quer zu den Parteifronten ausgetragen hatten - ohne sich dieser Tatsache bewußt zu sein oder die damalige Konfrontation kritisch zu bilanzieren. Ironischerweise führen Dahn und andere dabei Lafontaines Positionen von damals (Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, "Umverteilung innerhalb der Klasse") gegen seine heutigen robusten Ansichten ins Feld (Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit in der Primärverteilung; Verteidigung, Ausbau und Erneuerung sozialstaatlicher Leistungen in der Sekundärverteilung).
Auch die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen ist nicht neu. Sie wurde in den 1980er Jahren von Protagonisten wie Michael Opielka, Ilona Ostner, Helmut Wiesenthal, Fritz Vilmar, Georg Vobruba und anderen kontrovers im rot-grünen Spektrum geführt (vgl. Opielka/Ostner 1987) - ebenso wie heute im Umfeld der Linkspartei. Auch das ist den meisten WortführerInnen aus dem Umfeld von Attac und den JungpolitikerInnen der Linkspartei.PDS offenbar nicht bewußt!
Ulrich Busch (2005) und Daniel Kreutz (2005; 2006) haben zum bedingungslosen Grundeinkommen und dessen Unvereinbarkeit mit wichtigen Grundsätzen linker Theorie und Politik alles Nötige gesagt: "Das bedingungslose Grundeinkommen versteht sich als ,Konsumgeld‘ und nicht als ,Arbeitsgeld‘, egal wie Arbeit definiert wird. Seine Höhe ist ausgehend von den Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder und nicht von der Produktion her bestimmt. Seine Motivation entspringt dem ,Recht auf Konsum‘. Ein ,Recht auf Arbeit‘ dagegen kennt dieses Konzept nicht. Quelle des Grundeinkommens ist ein vermeintlicher ,Überfluß‘. Da offen bleibt, wie dieser sich reproduziert, ist dieses Konzept letztlich ein ,Umverteilungskonzept‘. Das literarische Leitbild hierfür ist Schlaraffenland. Damit ist das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens als eine sozialromantische Utopie klassifiziert. Berücksichtigt man zusätzlich die Akzeptanz- und Finanzierungsproblematik dieses Modells, so erscheint es zudem als unrealistisch und illusionär. Es ist daher als Lösungsansatz für eine Neugestaltung der Arbeits- und Verteilungsverhältnisse denkbar ungeeignet." (Busch 2005: 991)
Als völlig berechtigt erscheint mir allerdings die ökologische Kritik an einem simplen "Wachstums- und Beschäftigungs-Keynesinanismus" und die Orientierung auf eine drastische kollektive Arbeitszeitverkürzung.
Aber auch hier stellt sich ein "Déjà-vu-Gefühl" ein: Die Frontstellung im rot-grünen Lager vor und kurz nach dem Regierungswechsel von 1998 (vgl. Dräger et al. 2000) reproduziert sich erneut in der entstehenden Linkspartei und ihrem bewegungspolitischen Umfeld.
Das ist vielleicht insoweit unvermeidlich, als eine jüngere Generation sich nun erstmals in die politische Auseinandersetzung begibt. Im Hinblick auf die vielen gleichfalls in diesem Streit aktiven Älteren ist dies aber sowohl inhaltlich wie machtpolitisch ein beredtes Zeugnis, wie wenig über jüngere historische Erfahrungen nachgedacht wird.
Erinnern wir uns: In den konzeptionellen Debatten von breiten Teilen der linken Parteiflügel sowohl der französischen wie der deutschen Sozialdemokraten und Grünen lag in den späten 1990er Jahren das Augenmerk mehr auf "alternativen sozial-ökologischen Strukturreformen" denn auf makroökonomischen Überlegungen (Brüggen 1997; Schmidt/Wolf 1999; Mikfeld et al. 1999; Lipietz 1998).
Es ging um vielfältige Fragestellungen:
· ob das skandinavische Modell der "ausgehandelten Flexibilisierung" der erfolgversprechendere Weg in einen europäischen "Postfordismus" sein könne;
· ob und wie der Sozialstaat vom Versorgungs- zum Transferstaat umgebaut werden müsse, welcher soziale und ökologische Dienstleistungen am Markt und auf einem "Dritten Sektor" zwischen Markt und Staat einkauft und zu garantierten Qualitätskriterien den BürgerInnen zur Verfügung stellt;
· ob und wie "neue Selbständigkeit" und die Arbeitsbedingungen der "New Economy" emanzipatorisch gestaltet werden könnten.
Lafontaines "keynesianische Hydraulik" wurde von diesen Strömungen als altbacken und nicht auf der Höhe der Zeit empfunden.
Die linken Flügel der damaligen Regierungsparteien unternahmen aber auch keinen Versuch, ihre Agenda der "sozial-ökologischen Strukturreformen" mit Lafontaines makro-ökonomischer Strategie zu verknüpfen und sich so wechselseitig zu stärken. Die deutschen Gewerkschaften wiederum wollten die Veränderungen lieber langsam angehen lassen und nicht vorschnell die Tabus des Maastricht-Vertrags in Europa thematisieren. So geschah es, daß alle hier erwähnten Akteure - die französische Regierung, die Gewerkschaften, die linken Flügel der Regierungsparteien - im zentralen Machtkampf um die künftige Ausrichtung des europäischen und deutschen Mitte-Links-Projekts völlig unbeteiligt blieben.1 Sie ließen den Strategen des neu-sozialdemokratischen Dritten Weges (Blair, Schröder, Prodi usw.) freie Bahn und schufen damit die Grundlage für ihre Selbstmarginalisierung nur kurze Zeit später.
Seine EU-weite Isolation erkennend, warf Lafontaine am 11. März 1999 das Handtuch und trat von seinen Funktionen als deutscher Finanzminister und SPD-Vorsitzender zurück. Das Gespenst des "Eurokeynesianismus" - Lafontaine ist der "gefährlichste Mann Europas", titelte die britische Times damals - schien nun gebannt.
Natürlich brauchen strategische und programmatische Diskussionen Zeit. Die entstehende neue Linkspartei in Deutschland kann es sich aber nicht leisten, die notwendige Verbindung von makroökonomischer Steuerung und sozial-ökologischen Strukturreformen im Ungefähren zu lassen.
Wenn diese Diskussion die nötige Breitenwirkung entfalten soll, so kann sie auch nicht nur auf die bestehenden parteiförmigen Formationen von WASG und Linkspartei.PDS beschränkt werden. Im Wahlkampf 2004 haben sich breite Kreise von Aktiven aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, aus Kultur und Wissenschaft für ein Zusammengehen von PDS und WASG engagiert. Sie und darüber hinaus viele interessierte "normale BürgerInnen" müssen an der Diskussion um das programmatische und strategische Profil der neuen Linkspartei beteiligt werden.
Kurzum: die Debatte um einen "erneuerten Keynesianismus" und sozial-ökologische Strukturreformen geht viele an. Und sie hat eine europäische Dimension, die viel stärker als bisher herausgestellt werden muß.2
KeynesÂ’ sozial-liberales Gesellschaftsprojekt
Norbert Reuter (2004) bringt ein weit verbreitetes Mißverständnis über Keynes wirtschaftspolitische Konzeption auf den Punkt: "Gemeinhin wird Keynes mehr oder weniger unisono als Theoretiker abgehandelt, der vor allem mittels ,antizyklischer Fiskalpolitik‘ das kapitalistische Wirtschaftssystem dauerhaft stabilisieren zu können glaubte, wobei die Finanzierung der jeweils durchzuführenden staatlichen Investitions- und Konjunkturprogramme durch staatliche Kreditaufnahme (,deficit spending‘) erfolgen sollte. Da die Tilgung derart entstandener staatlicher Defizite jeweils einen neuerlichen Konjunkturaufschwung voraussetzt, hat sich die ,schier unausrottbare Fehlinterpretation‘ durchgesetzt, der Keynesianismus gelte nur für wirtschaftliche Phasen, die durch einen starken Wachstumstrend charakterisiert sind."
KeynesÂ’ wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ansatz ging aber deutlich über die heute vielfach belächelte "Hydraulik" schuldenfinanzierter Wachstums- und Beschäftigungsprogramme hinaus. Er wandte sich gegen den Monetarismus und die in der Zwischenkriegszeit vorherrschende Laisser-faire-Politik, die zu Deflation, Massenarbeitslosigkeit, Polarisierung der Einkommen und einer Rentiersökonomie geführt hatten. Statt dessen sei eine staatsinterventionistische makroökonomische Politik erforderlich, die Massenkaufkraft und Endnachfrage stärkt, dadurch produktive Investitionen anregt und die Wirtschaft auf ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht hin bewegt. Der Staat soll nicht zum Eigentümer der Produktionsmittel werden, sondern über makroökonomische Politik und Investitionslenkung in Perioden wirtschaftlicher Stagnation der Unterauslastung der Kapazitäten und Ressourcen entgegenwirken.
Auf diese Weise könne die kapitalistische Eigentumsordnung und die parlamentarische Demokratie gleichermaßen gerettet werden - gegen den Faschismus von rechts und den Bolschewismus von links. Vor diesem Hintergrund plädierte er für eine "gemischte Wirtschaft", die einen breiten öffentlichen Sektor mit einer dynamischen Privatwirtschaft verbindet. Damit war er einer der herausragenden Vertreter des polit-ökonomischen "Sozialliberalismus" der Zwischenkriegszeit. Sein Ziel war ein "regulierter Kapitalismus", der vor den ihm systemisch innewohnenden Tendenzen zur Selbstzerstörung gerettet werden müsse.
Lerntheoretisch gedeutet, läuft KeynesÂ’ Strategie auf die Erzeugung von "Win-Win"-Konstellationen hinaus: Staatsinterventionismus sichert den Unternehmen dauerhafte Profitchancen und den Arbeitnehmern höhere Einkommen und Vollbeschäftigung. Im Ergebnis dieses "Klassenkompromisses" gelinge die Sicherung der Leistungsfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaft bei relativem sozialem Frieden, verringerter Ungleichheit der Einkommen und verbesserter sozialer Sicherheit der Arbeitnehmer. Diese Grundphilosophie kam auch im Beveridge-Plan zur großen Sozialstaatsreform in Großbritannien zum Ausdruck. Sie wurde sowohl von bürgerlichen Parteien als auch von den reformistischen Parteien der Arbeiterbewegung aufgegriffen - wenngleich mit unterschiedlichen Akzentuierungen. In Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg waren es überwiegend bürgerliche Mehrheitsparteien, die einen Ausbau des Sozialstaates zum Wohlfahrtsstaat in Angriff nahmen.
Der "keynesianische Wohlfahrtsstaat" umfaßt nicht mehr allein Schutzvorkehrungen vor den klassischen sozialen Risiken einer kapitalistischen Erwerbsgesellschaft (Unfall, Invalidität, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Armut, Mutterschutz etc.), wie z.B. im rudimentären Sozialstaat Bismarckscher Prägung. Er übernimmt vielmehr erweiterte Aufgaben zur Stabilisierung der Gesamtwirtschaft (makroökonomische Politik) und zur Herstellung "sozialer und territorialer Kohäsion" (Bildungsexpansion, Frauen- und Gleichstellungspolitiken, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken, sozialer Wohnungsbau, Regionalpolitik zur Förderung gleicher Lebensbedingungen, Kulturförderung etc.). Kurzum: makro-ökonomische Globalsteuerung und ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat waren zwei sich gegenseitig bedingende Seiten des sozialliberalen Gesellschaftsprojekts.
Globalisierungskritische Bewegung: keynesianische Versatzstücke
Wie schon erwähnt, äußern sich viele in Attac und der globalisierungskritischen Bewegung skeptisch bis ablehnend gegenüber einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. Ironischerweise fußen aber die meisten Forderungen und Konzepte dieser Bewegungen auf dem tradierten keynesianischen Paradigma. Lediglich die auch in diesen Kreisen kontrovers diskutierte, theoretisch aber nicht fundierte Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen sprengt diesen Rahmen.
Das von Attac Deutschland vorgestellte Konzept der solidarischen Einfachsteuer basiert hingegen auf keynesianischen Vorstellungen der Nachfragestabilisierung und Verteilungsgerechtigkeit. Nicht minder gilt dies für die Lidl-Kampagne gegen Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung.
Die diversen Attac-Kampagnen gegen die (Teil-)Privatisierung von Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Gesundheitsreform, Börsengang der Deutschen Bahn AG, Wasserwirtschaft usw.) beruhen in ihrer Argumentation vollends auf dem keynesianischen Paradigma der "gemischten Wirtschaft", wonach öffentliche Güter dem Primat der Marktkräfte entzogen und primär nach dem Vorrang des öffentlichen Interesses durch die öffentliche Daseinsvorsorge bewirtschaftet werden müssen.
Auch in der internationalen Arena liegen die Dinge ähnlich. Die zentrale Forderung nach einer Tobinsteuer gründet auf der Keynesschen Idee der Eindämmung von Finanzmarktspekulation und eines regulierten Kapitalismus. Ein Teil der Bewegungs- und NGO-Szene orientiert sich an Vorschlägen von Ann Florini und Dani Rodick, eine an KeynesÂ’ ursprünglichen Vorschlägen von 1945 zum Bretton Woods-System orientierte Reform von WTO, IWF und Weltbank in Angriff zu nehmen. Der Alternativvorschlag von Walden Bello - De-Globalisierung - bewegt sich ebenfalls innerhalb des Keynesschen Paradigmas, indem er auf globale Kooperation wirtschaftlicher Großregionen (Asien, EU, Lateinamerika usw.) setzt, welche im Innern wieder Handlungsspielräume im Sinne keynesianischer Globalsteuerung zurückgewinnen.
Wohin man also blickt - die im Brustton tiefster Überzeugung vorgetragene Abneigung gegen keynesianische Wirtschaftspolitik findet in den Konzepten der globalisierungskritischen Organisationen und Bewegungen keine Entsprechung. Eher ist das Gegenteil der Fall.
Der halbierte Antikapitalismus der "alternativen Linken"
Auch die alternative und antikapitalistische europäische Linke bedient sich überwiegend im konzeptionellen Arsenal des wachstums-orientierten Keynesianismus: Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, expansive Haushaltspolitik, Lockerung der Geldpolitik, Erhalt und Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, ein Programm großer öffentlicher Arbeiten, hier und da auch drastische Arbeitszeitverkürzung und stärkere Besteuerung von Unternehmen und Vermögen.
So versucht z.B. die sich als "anti-kapitalistisch" begreifende französische Ligue communiste révolutionnaire (LCR), populäre "Gegenpositionen" (gegen das Europa von Maastricht etc.), erste Reformschritte innerhalb des "Systems" (Renten, Bildung usw.) mit "Übergangsforderungen" (z.B. Verbietet die Entlassungen!) pädagogisch zu einem programmatischen Ensemble zu verknüpfen und damit eine politische Alternative zu Neo- und Sozialliberalismus zu verdeutlichen.3 Im Gegensatz zu ihrem umfassenderen Ziel der Überwindung des Kapitalismus bleibt sie damit im wesentlichen auf der Ebene "alternativer Wirtschaftspolitik". Die Euromemo-Gruppe (alternative WirtschaftswissenschaftlerInnen) liefert entsprechende Rezepte in der Regel stringenter und konsistenter. Die Logik von "Verbietet die Entlassungen" bleibt subaltern. Denn für sich genommen ist sie ein Appell an "die da oben", es so einzurichten, daß Umstrukturierungen ohne Arbeitsplatzverluste vonstatten gehen. Welche alternativen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und institutionellen Arrangements dazu nötig sind, bleibt im dunkeln.
Der heutige Sozialdemokrat und ehemalige Trotzkist Henri Weber hat in einem Beitrag für die Tageszeitung Liberation (2003) auf diesen eklatanten Widerspruch zwischen Anspruch und realer politischer Programmatik hingewiesen: Die radikale Linke "scheint den Kritik-Teil (des Marxismus) beibehalten zu haben - den radikalen Antikapitalismus - aber nicht dessen Alternativvorschläge, das kommunistische Programm".
Diese strategische und konzeptionelle Leerstelle teilt die antikapitalistische Linke mit den globalisierungskritischen Bewegungen in ihrer Gesamtheit. Teillösungen werden inzwischen zu den verschiedensten Fragen angeboten (von Umwelt bis zur Entschuldung des Südens). Dies geschieht heute oft reichhaltiger und differenzierter als zur Blütezeit der sozialistischen Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, welche den "Sozialismus" teleologisch und eschatologisch einfach als Zauberformel für die "Erlösung von den Übeln des Kapitalismus" auffaßte. Der "Sozialismus" hat mit den Erfahrungen der Sowjetunion und Chinas, mit Pol Pot in Kambodscha und Kim Il Sung in Nordkorea jedoch seine Unschuld eingebüßt. In entwickelten kapitalistischen parlamentarischen Demokratien läßt sich die Mehrheit nicht so leicht auf solche Großexperimente ein, wenn ihr nur die schmissige Formel Napoleons und Lenins On sÂ’engage et après on voit angeboten wird - also zunächst der Umsturz der alten Ordnung, und dann sieht man weiter.
Wie die Konturen der unisono geforderten "anderen Welt" und des "anderen Europa" in bezug auf eine alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu zeichnen wären, wie die verschiedenen Teillösungsideen zu einem schlüssigen Ensemble verknüpft werden können, bleibt gegenwärtig eine offene und weitgehend unbearbeitete Frage. Das war in den 1970er und 1980er Jahren einmal anders - erinnert sei an André GorzÂ’ "Strategie antikapitalistischer Strukturreformen" (1968). Oder an das (nur als Projekt mittlerer Reichweite angelegte) Programm der bundesdeutschen Grünen zum ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft von 1986, das zumindest in der von Ökosozialisten durchgesetzten Präambel auf eine alternative Wirtschaftsordnung mit demokratischer Rahmenplanung verwies.
Alternative europäische Linke und die "Idee Europa"
Tiefgreifende Differenzen in der Haltung zur europäischen Integration kommen zum Vorschein, sobald man den Mantel der gemeinsamen Beschwörungsformel vom "anderen Europa" lüftet. Die einen begründen ihre EU-Gegnerschaft mit dem Argument, Volkssouveränität und Demokratie seien nur auf der nationalstaatlichen Ebene möglich (z.B. griechische und portugiesische KP, skandinavische EU-Kritiker). Eine Teilmenge von ihnen (insbesondere aus dem ökologischen Spektrum) hält demokratische Kontrolle ohnehin eher nur auf der lokalen und regionalen Ebene für realisierbar. Weiterhin: Es gebe eben keinen europäischen Souverän, der einem europäischen Gebilde demokratische Legitimität verleihen könne. Denn es gebe ja nicht einmal eine gemeinsame Sprache, in der sich die normalen Einwohnerinnen Europas verständigen könnten. Dies wird verbunden mit eindringlichen Warnungen vor einem "europäischen Superstaat" und weiteren Integrationsfortschritten.
Die anderen sind durchaus offen für ein Projekt der europäischen Integration an sich, aber eben gegen die derzeitige Maastricht-EU. Sie wollen eine andere Entwicklungsrichtung der Integration. Was folgt aber aus dieser EU-Kritik? Soll der Euro abgeschafft, die EU aufgelöst werden, um das andere Europa zu schaffen? Wie käme danach Europa wieder zusammen, auf welcher Grundlage und mit welchen demokratischen Institutionen? Auch bei den linken Kräften bleibt ein nebulöses Spannungsverhältnis zwischen dem Vorrang "nationalstaatlicher Souveränität" und einem europäischen Föderalismus oder Konföderalismus erhalten, dessen unterschiedliche Prämissen und Entwicklungslogiken ungeklärt bleiben.
Selbst mit Bezug auf die tradierten Formen der Nationalstaatlichkeit (inklusive des nationalen Wohlfahrtsstaats) erweisen sich die Argumente der nationalstaatlich orientierten EU-Kritiker als schwach. Ein föderatives Europa brauche eine einheitliche Sprache, um demokratisch sein zu können? Ist dann der schweizerische Nationalstaat keine Demokratie, weil er auf vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) beruht? Und ist es nicht ureigenste Aufgabe demokratischer Medien, die EinwohnerInnen Europas in ihrer jeweiligen Sprache umfassend über Politik und Debatten auf europäischer Ebene zu informieren und so das Ihre dazu beizutragen, eine europäische politische Öffentlichkeit zu schaffen?
Zivilgesellschaft ist "ein Handlungsraum, in dem sich die Beteiligten als pluralisierte demokratische Akteure, als Citoyens mit verschiedenartigen Interessen und Herkünften wechselseitig anerkennen" (Demirovic 2000: 56). Konstitutiv für den Prozeß der demokratischen Revolution ist zivile Konfliktfähigkeit, nicht der Rekurs auf eine vorpolitische Identität oder die onto-theologische Zugehörigkeit zu einer "Gemeinschaft". "Dieses Niveau öffentlicher Konfliktaustragung ist auf alle Fälle zugänglicher als das sehr viel abstraktere der angenommenen tieferliegenden Primärerfahrungen eines nationalen Kollektivs" (ebd.: 57). Es könnte perspektivisch also auch durchaus gelten: "Staatsbürgerschaft gleich Europa gleich Souveränität".
Soziale Solidarität ist nur im Rahmen des nationalen Sozialstaats möglich? Doch dieser organisiert soziale Sicherheit längst nach dem Prinzip einer "Solidarität unter Fremden" (Habermas 2001: 16), die nicht nur untereinander fremde Staatsbürger der "eigenen Nation", sondern auch schon legal niedergelassene ImmigrantInnen aus Drittstaaten einschließt. Was spricht also vor diesem Hintergrund gegen die Konstruktion einer europäischen Sozialstaatlichkeit, welche auf unteilbaren Bürger- und Menschenrechten und insbesondere der Garantie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte aufbaut?
Politische Ökonomie des sozialen Europa
Ähnlich umstritten ist die Frage der politischen Ökonomie Europas im globalisierten Kapitalismus. Schon bei der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus hat die Linke so ihre Schwierigkeiten: Leben wir im "Postfordismus" (welcher Art auch immer), im High-Tech- oder Turbokapitalismus, in der entstehenden "Wissensgesellschaft" oder in einem "finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime"? Geht es darum, den wie auch immer flexibilisierten und globalisierten Kapitalismus erst einmal adäquat "formationstheoretisch" zu bestimmen, um ihn dann (wie im "Fordismus" nach dem Zweiten Weltkrieg) auf neuer Grundlage durch Re-Regulierung sozial zu zähmen - also einen neuen "Klassenkompromiß" auszuhandeln? Oder gilt es (alternativ oder darüber hinaus), den Kapitalismus zu überwinden - was tritt dann an seine Stelle (Subsistenzökonomie, eine erneuerte demokratische Planwirtschaft, Ökosozialismus)?
Welche Politik auf mittlere Sicht (unmittelbare Reformperspektive) ist richtig? Das Wirtschaftswachstum wiederbeleben, um so mehr Arbeitsplätze zu schaffen - auf Pump, durch Ausweitung der Staatsverschuldung oder durch konsequente Besteuerung gemäß der ökonomischen Leistungsfähigkeit, also Reichtumsumverteilung? Oder geht es um eine Nachhaltigkeitsperspektive, in deren Mittelpunkt umweltgerechter Wohlstand für alle steht und Wirtschaftswachstum kein sinnvolles Ziel mehr sein kann? Sollen die Politiken vorrangig regional und nationalstaatlich angelegt werden oder sind sie sinnvoller anzugehen mit einer europäischen Perspektive?
Die Strategie der traditionell wachstumsorientierten "Keynesianer" ist für breite Arbeitnehmerschichten sicher vorteilhafter als der Neoliberalismus. Allerdings - staatliche Defizite wurden auch von George Bush, von Rot-Grün in Deutschland und von Chirac in Frankreich extensiv ausgeweitet, um in Kombination mit Steuersenkungen "mehr Wachstum" in der Zukunft zu erzeugen. Wie die historischen Erfahrungen zeigen, kann mit Ausgeben statt Sparen einiges erreicht werden: Halbierung der Erwerbslosenraten unter Roosevelts New Deal in den USA der 1930er Jahre und im gleichen Zeitraum in Schweden; immerhin ein "deflationäres Gleichgewicht" mit vergleichsweise niedriger Arbeitslosigkeit in Japan auf Grundlage von Redkorddefiziten Ende der 1990er Jahre bis heute. Doch eine dauerhafte Stabilisierung stellte sich dadurch nicht ein.
In den USA brachte erst die Kriegsökonomie in Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs "Vollbeschäftigung" - von 1936 (15 Mrd. US-$) waren die "öffentlichen Investitionen" in den 1940er Jahren auf 103 Mrd. US-$ emporgeschnellt. Auch wenn Investitionen unter anderem stärker als früher in Bildung, Soziales und Kultur flossen, mußte der Warenstrom aus der erhöhten Produktionskapazität in den angestammten industriellen Produktlinien im weiteren Zeitverlauf seinen Absatz finden. Hierin lagen die Schwierigkeiten.
Wachstumsorientierte Keynesianer haben die Analysen ihres Lehrmeisters bezüglich der Sättigungstendenzen reifer kapitalistischer Ökonomien verdrängt: "Die Keynessche Langfristanalyse [...], die für die hoch entwickelten Volkswirtschaften nachlassendes Wachstum (Stagnation) prognostizierte, so daß Vollbeschäftigung nicht mehr auf dem traditionellen Weg hoher Wachstumsraten zu erreichen sein würde, mündete denn auch nicht in einer ausgetüftelten Neuauflage wachstumsstimulierender Politik, sondern Keynes empfahl vor mehr als einem halben Jahrhundert, mitten im Zweiten Weltkrieg (1943!) für die für ihn damals bereits absehbare Stagnationsepoche schrittweise Arbeitszeitverkürzungen. Dieser Weg zurück zur Vollbeschäftigung wird durch die jüngere ökologische Problemdiskussion zusätzlich gestützt: Letztlich schadet jede Art von Wachstum der Umwelt, so daß es künftig darauf ankommen wird, die Beschäftigungs- und Sozialprobleme auch ohne (hohe) Wachstumsraten zu lösen" (Zinn 2003).4
Zinns Vorschlag eines "qualitativen Keynesianismus" bringt einen deutlichen Zugewinn für die wirtschaftspolitische Strategie einer alternativen Linken. Er hat zumindest als Übergangsprogramm in mittlerer Perspektive (20-30 Jahre) einige Plausibilität. Mit Marx und der Politischen Ökologie stellt er die Veränderung "des Stoffwechsels mit der Natur" in den Mittelpunkt: ökologischer und sozialer Umbau für eine nachhaltige Entwicklung. Zinn beantwortet eine zentrale Frage: Wohin sollen die schulden- oder steuerfinanzierten erhöhten Investitionen fließen, die von den traditionellen Wachstums- und Beschäftigungs-Keynesianern stets als Instrument zum Ausbruch aus der "Stagnationsfalle" gefordert werden? So könnten die von einer keynesianischen Makropolitik eröffneten Spielräume zumindest mittelfristig sinnvoll und zukunftsfähig genutzt werden.
An den Rändern von Gewerkschaften und Umweltbewegung ist bereits ein grundlegender Rahmen für eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie (ökologisch, ökonomisch, sozial-kulturell) entwickelt worden (Hans-Böckler-Stiftung 2000; Spangenberg 2003). Die einzelnen Instrumentenvorschläge sind sicher diskussionswürdig (vgl. Brie 2002), doch die grundlegend alternative Entwicklungslogik weist in die richtige Richtung.
Weil die EU der 25 eine relativ geschlossene Ökonomie bildet - ihr Offenheitsgrad gegenüber der Weltwirtschaft beträgt nur rund zehn Prozent - ist es richtig, mit einer europäischen binnenwirtschaftsorientierten Strategie hier anzusetzen (Kampf für ein "soziales Europa": alternative Europäische Wirtschafts- und Sozialverfassung, demokratische Europäische Wirtschaftsregierung, Europäische Nachhaltigkeitsstrategie; vgl. Wolf 1999; Brie/Dräger 2001; Kaufmann 2002). Ökologische Innovation auf breiter Front führt zu einer Vielzahl neuer Produkte und Dienstleistungen: Solar-Wasserstoff-Wirtschaft, Brennstoffzellen, drastische Energie- und Ressourceneinsparung, ökologischer Landbau, pflanzenbasierte Chemie, Bionik, Ethnobotanik, grüne Informationstechnik, Mobilitäts- und Energiedienstleistungen (vgl. Scheer 1999; Rifkin 2002). Es wird einige Zeit dauern, bis auf diesem Weg neue Sättigungsgrenzen erreicht sind.
Die ökologische ist eng mit der sozialen Innovation verzahnt: ökoeffiziente Dienstlei-stungen, Ausbau sozialer und kultureller Dienstleistungen, sozialer und wirtschaftsdemokratischer Bürgerrechte, Bildung und Qualifikation, drastische kollektive Arbeitszeitverkürzung, ein neuer europäischer Arbeitszeitstandard und "Gute Arbeit" (vgl. Bosch 1998; Peters/Schmidt-henner 2003). Im Mittelpunkt stehen nicht die Rückkehr zu hohen Wachstumsraten, sondern eine weitgehende Dematerialisierung der Ökonomie und die gezielte Verbesserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung. Langfristig stellt sich bei einem erfolgreichen ökologischen und sozialen Umbau die Frage der Suffizienz - der dauerhafte Erhalt umweltgerechten Wohlstands für alle weitgehend ohne Wirtschaftswachstum durch Verteilungsgerechtigkeit.
Mit Marx und Keynes geht es gleichzeitig um Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen wie auch um die "Sozialisierung der Investitionen". Dem stehen die Interessen der Finanziers, der Shareholder und Vermögensbesitzer entgegen. Deshalb hatte Keynes für die "schleichende Euthanasie des Rentiers" plädiert. Das klingt einfacher, als es ist: "Doch selbstverständlich können die Zinsen nicht auf Null gebracht, noch kann der Rentier euthanisiert und die finanzielle Innovation ausgelöscht werden, ohne den Kapitalismus in deutlich radikalerer Weise zu transformieren als Keynes sich dies je vorstellte" (Henwood 1998: 214). Worin diese Transformation bestehen könnte, ist die Gretchenfrage für die alternative Linke: "Wenn Leute für sozialistische Politik gewonnen werden sollen, werden sie imstande sein müssen vorauszusehen, was Sozialismus sein könnte. [...] Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der europäischen Linken ist ihr Unvermögen, in ausreichendem Detail zu spezifizieren, was ihre alternative Vision beinhaltet und wie sie mit den mannigfaltigen Komplexitäten des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften umgeht" (Breitenbach et al. 1990: IX).
Lediglich eine relativ kleine Gruppe linker Intellektueller diskutiert die mit einer solchen Transformation verbundenen Fragen alternativer Wirtschaftsordnung: "Erweiterte demokratische Regulierungsformen braucht es auf besonderen Märkten ebenso wie in den stets umkämpften Grenzbereichen des Markts (in denen der folgenreiche Unterschied zwischen einer Ware, einem Gemeingut und einem öffentlichen Gut bzw. einer Nicht-Ware stets aufs neue etabliert werden muß). Wer sich darauf einläßt wird die altbekannten (und in liberaler Tradition auch gewollten) Grenzen der repräsentativen Demokratie neu definieren und verlegen müssen, ebenso wie die seit jeher politisch institutionalisierten Marktgrenzen" (Krätke 2002: 64).
Der Streit geht um Marktsozialismus, Sozialisierung des Marktes und partizipatorische Planung sowie um Vergesellschaftung als individuelle Teilhabe am Eigentum (vgl. z.B. Roemer 1994; 1996; Elson 1990; Adaman/Devine 1997; Blackburn 1991; Wainwright 1994; Vilmar 2002; Bischoff/Menard 1990; Creydt 2001). Als bloße Kraft der Negation (Anti-Kapitalismus), des Protests und des Widerstandes wird die europäische alternative Linke kaum zukunftsfähig sein können. Will sie künftig auch als politischer Impulsgeber wirken, so muß sie sich einerseits der konzeptionellen und strategischen Debatte um "qualitativen Keynesianismus", Marktsozialismus und partizipatorische Planung zuwenden. Dies gilt in gleichem Maße für die entstehende neue Linkspartei in Deutschland. Ihre Defizite vor allem im Hinblick auf Politische Ökologie und Feminismus sind offenkundig. Lafontaine hat recht: "Heute [...] haben die Auswüchse des Kapitalismus derart negative Konsequenzen für die Menschen, daß der Moment gekommen ist, einen neuen linken Gesellschaftsentwurf zu präsentieren" (2006: 6). Dies ist natürlich eine Debatte "über den Tag hinaus", welche kaum in kurzer Frist abgeschlossen werden kann.
Sie erschließt aber eine hinreichende Bandbreite an Themen, die auch für die Tagespolitik der neuen Linkspartei fruchtbar gemacht und in einem Aktionsprogramm für eine integrierte Nachhaltigkeitsstrategie (ökologisch, sozial, wirtschaftlich) im deutschen wie im europäischen Kontext konkret und verständlich zugespitzt werden kann.
Anmerkungen
1 Mir ist bewußt, daß dies ein hartes Urteil über die damaligen linken Strömungen von Sozialdemokraten und Grünen und über die Gewerkschaften darstellt. Wenn Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen aber nicht einmal erkennen, daß Machtfragen (im Sinne der künftigen strategischen Orientierung der rot-grünen Bundesregierung und der Mitte-Links-Mehrheit in der EU) gestellt sind, und daß man sich deshalb bei allen Unterschieden zusammenraufen muß, dann sagt dies alles über ihre Ernsthaftigkeit als gesellschaftsverändernde Kraft aus. Das kollektive Versagen von damals hat uns die neoliberale Lissabon-Strategie der EU, die Agenda 2010, Hartz IV und die Folgen beschert. Die entstehende neue Linkspartei muß daraus ihre Lehren ziehen. Sie braucht ein weitgehend gemeinsam getragenes Konzept, das makro-ökonomische Steuerung und sozial-ökologische Strukturreformen verbindet. Denn die Frage der politischen Macht wird sich irgendwann wieder stellen - und dann gilt es, geschlossen und gemeinsam zu kämpfen.
2 Die damalige PDS hatte im Europawahlkampf 2004 ein weitgehend "eurokeynesianisches" Wahlprogramm vorgelegt. Mir scheint aber, daß dessen strategische Grundlinien in der Mitgliedschaft weitgehend unbekannt sind. Auch die Parteiführung scheint sich schwer zu tun, diese in der Öffentlichkeit zu erläutern.
3 Gemeint ist hier nicht der "klassische" Sozialliberalismus in der Tradition von Keynes und Beveridge, sondern die Politik des Regierungsbündnisses der "pluralen Linken" in Frankreich unter Jospin 1997-2002 und vergleichbarer Mitte-Links-Koalitionen in Europa. Diese akzeptiert die Ergebnisse der "neoliberalen Revolution" als Grundlage ihres politischen Handelns und versucht nur noch im Rahmen einer Marktliberalisierungspolitik eine "gerechte Balance zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit" zu erreichen.
4 Norbert Reuter (2004) beleuchtet die Zusammenhänge zwischen KeynesÂ’ "Allgemeiner Theorie", seiner Langfristprognose zur Stagnation reifer kapitalistischer Volkswirtschaften und seinen diesbezüglichen Problemlösungsvorschlägen sehr ausführlich und systematisch; vgl. dazu auch Bischoff u.a. (2006).
Literatur
Adaman, Fikret/Devine, Pat (1997): On the Economic Theory of Socialism; in: New Left Review 221 (old series), 54-80
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Klaus Dräger, Mitarbeiter der Fraktion Vereinigte Europäische Linke / Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament
aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 4, S. 80-89