Standortverlagerung als politische und gewerkschaftliche Herausforderung

Dass sich Unternehmen anpassen, Produktionsketten verändern und neue Märkte erschließen, ist nicht neu. Neu sind im Kontext der Globalisierung die Schnelligkeit und das Ausmaß des Wandels.

Von Thorben Albrecht und Felix Wolf
Thorben Albrecht ist Referatsleiter Europäische Gewerkschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand und Mitglied der spw-Redaktion. Felix Wolf studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Das Szenario findet sich fast täglich im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen und bei einer besonders hohen Anzahl betroffener Arbeitsplätze gelangt die Meldung auch mal in die Abendnachrichten: Eine Fabrik in Deutschland soll geschlossen, die Produktion ins Ausland verlagert werden. Der Betriebsrat kämpft um den Erhalt des Standorts, bietet längere Arbeitszeiten und Lohnverzicht an, erreicht vielleicht eine Arbeitsplatzgarantie, die dann am Ende womöglich das Papier nicht Wert ist, auf dem sie geschrieben ist.
So aktuell bei der Reifenproduktion von Continental in Hannover, wo der Konzern bei Rekordergebnissen und trotz Betriebsvereinbarung die profitable Fabrik im Jahr 2007 schließen und die Produktion nach Osteuropa verlagern wird. Im monatelangen Arbeitskampf konnte die Belegschaft lediglich erreichen, dass die Arbeitsplätze stufenweise abgebaut werden und die restlichen Beschäftigten in eine Qualifizierungsgesellschaft übernommen werden. Die Schließung des Standortes konnte aber letztendlich nicht verhindert werden.
Allein wegen der Anzahl der Fälle angekündigter und auch vollzogener Standortverlagerungen und der davon betroffenen Arbeitsplätze sind die Gewerkschaften, über die betroffenen Betriebsräte hinaus, beim Thema Standortverlagerungen gefordert. Dazu muss dieses Phänomen aber im Kontext der sich beschleunigten Tendenz zu
grenzüberschreitenden Unternehmensumstrukturierungen gesehen werden. Bei diesen verschwinden nicht einfach Arbeitsplätze in Westeuropa und entstehen in gleichem Maße in Mittel-, Osteuropa und Asien.
Kostensenkungen zur kurzfristigen Gewinnmaximierung sind bei diesen Umstrukturierungen nicht das einzige Motiv, aber eines mit besonders problematischen Folgen - daher lohnt ein genauerer Blick auf Ursachen, Strukturen, Folgen und mögliche Gegenstrategien. Nicht zuletzt müssen die Auswirkungen der permanenten Standortkonkurrenz innerhalb von Unternehmen auf Arbeitsstandards betrachtet und gewerkschaftliche Gegenstrategien entwickelt werden. Gleiches gilt auf politischer Ebene für die Reduzierung des staatlichen Selbstverständnisses auf einen in globaler Konkurrenz stehenden Wettbewerbsstaat mit der Folge einer Reduzierung von Sozialstandards. Dieser Artikel will dazu einige Gedanken entwickeln und so zu einer strategischen Debatte beitragen, die erst in den Anfängen steckt.
Beschäftigungseffekte
Dass sich Unternehmen anpassen, Produktionsketten verändern und neue Märkte erschließen, ist nicht neu. Neu sind im Kontext der Globalisierung die Schnelligkeit und das Ausmaß des Wandels, wobei vorher bestehende Korrektive wie regulierende nationalstaatliche Politik und die Ethik einer sozialen Verantwortung der Unternehmen weg zu brechen drohen.
Mit dem Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen wird der Mobilität von Unternehmen neuer Spielraum gegeben. Am Standort Deutschland haben EU-Binnenmarkt und Osterweiterung dieser Entwicklung eine zusätzliche Dynamik verliehen.
Standortverlagerungen und Flexibilisierung der Wertschöpfungsketten betreffen daher heute nicht mehr nur große multinationale Unternehmen. Grenzüberschreitende Standortüberlegungen und Umstrukturierungen sind vermehrt auch für kleine und mittelständige Unternehmen (KMU) von existenzieller Bedeutung. Gerade die Region Mittel- und Osteuropa entwickelt sich dabei zum Testfeld für deutsche KMU, die international bisher noch wenige Erfahrungen hatten.
Unter der angespannten Arbeitsmarktsituation in Deutschland werden Standortverlagerungen vor allem in Hinsicht auf Beschäftigungsverluste diskutiert.
Arbeitsplatzverlust ist die unmittelbarste und für die betroffenen ArbeitnehmerInnen dramatischste Folge von Standortverlagerungen. Auf der Positivseite kann aber gleichzeitig die durch Standortverlagerungen und Umstrukturierungen ausgelöste Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Sicherung vorhandener Beschäftigung verbucht werden. Zu kurz wäre es jedenfalls gegriffen, würde man die Krise des deutschen Arbeitsmarktes mit Standortverlagerungen und der Abwanderung der Produktion ins Ausland erklären. Auslandsinvestitionen und Produktionsverlagerung tragen nach wie vor auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei.
Zwar ist es ausgesprochen schwierig, ein Saldo der verlorenen und gewonnen Arbeitsplätze für den deutschen oder westeuropäischen Arbeitsmarkt aufstellen zu wollen. Jedoch weisen Untersuchungen generell auf eine positive Korrelation zwischen den Beschäftigungseffekten im In- und Ausland durch Investitionen hin. So wird laut Schätzungen der ILO und unter Einbeziehung gesamtwirtschaftlicher Effekte mit einem Arbeitplatz im Ausland durch ausländische Direktinvestitionen (ADI) ein neuer Arbeitsplatz im Inland geschaffen (Madeuf, 1995, S. 41 - 65.). Das Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) geht davon aus, dass in der Automobilbranche drei im Ausland geschaffene Arbeitsplätze einen zusätzlichen Arbeitsplatz in Deutschland schaffen. (Böckler Impuls 5 / 2005) Die Verbesserungen der Unternehmenssituation durch Mischkalkulation von Standorten im In- und Ausland wirkt sich meist positiv auf die Beschäftigung aus. Oft sichern beispielsweise kostengünstige Zulieferer aus Osteuropa den Automobilbau an deutschen Standorten.
Die Auswirkungen von Standortverlagerungen auf die Beschäftigungsentwicklung müssen also im Einzelfall, besonders in Hinsicht auf die verschiedenen Branchen und die unterschiedlichen Gruppen von Beschäftigten untersucht werden. Während arbeits- und damit lohnintensive Bereiche an Standorte mit geringeren Lohnkosten verlagert wurden, wuchs der Bedarf an höher qualifizierten Mitarbeitern in eher dienstleistungsorientierten Bereichen wie Forschung, Entwicklung und Management. Die Tendenz der zunehmenden Verlagerung auch besser qualifizierter Arbeitsplätze macht aber zugleich deutlich, dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und sich die Gewerkschaften auf eine Europäisierung der Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte einstellen müssen.
Die Erweiterung der EU, oftmals als Beschleuniger des Arbeitsplatzabbaus in Deutschland empfunden, hat den deutschen Arbeitsmarkt bisher befördert. Nicht nur im Groß- und Einzelhandel sind deutsche und westeuropäische Firmen in den neuen Mitgliedstaaten omnipräsent. Die Ausweitung der Märkte, besonders der Bedarf an technologieintensiven Produkten, von Automobilbau bis zu Industrieanlagen, war und ist besonders für die deutsche Industrie ein Wachstumsmotor.
Nehmen in den neuen Mitgliedstaaten der EU die ADI zu, so wird ein Großteil in kapital- und technologieintensive Produktion investiert. Dies trägt einerseits zu Qualitäts- und Produktivitätsverbesserungen bei, hat gleichzeitig aber den Nachteil, dass anteilig weniger Arbeitsplätze als gewünscht entstehen. Dies ist umso bedeutender, als gerade die neuen EU-Staaten im Rahmen des Transformationsprozesses in den letzten 15 Jahren dramatisch Arbeitsplätze verloren haben.
Motive für Verlagerungen
Deutsche Unternehmen verlagerten in den vergangenen Jahren Teile ihrer Produktion vor allem in die Region Mittel- und Osteuropa. Dies betrifft zum einen die neuen EU-Mitgliedsstaaten, zum andern die östlichen EU-Anrainerstaaten. 45 % der Produktionsverlagerungen der deutschen Metall-, Elektro- und Chemieindustrie hatten die neuen EU-Mitgliedstaaten zum Ziel. Darauf folgt Asien mit 29%, Westeuropa mit 28 % und die osteuropäischen Nicht-EU Staaten mit 19 %. Die Region Mittel- und Osteuropa insgesamt war also unter Berücksichtigung von Mehrfachnennungen in 64 % der Fälle Ziel von Produktionsverlagerungen der deutschen Industrie. (Mitbestimmung 3/2005, S.31)
Der Kostenvorteil der mittelosteuropäischen Länder ist jedoch rückläufig. In den frühen neunziger Jahren standen die jungen Marktwirtschaften in dem Ruf, mit besonders kostengünstigen, aber gut ausgebildeten und produktiven Arbeitskräften aufwarten zu können. Besonders in den neuen EU-Mitgliedstaaten wird Arbeit durch steigende Sozialabgaben und einen wachsenden Lebensstandard jedoch zunehmend teurer, der Kostenvorteil ist in der Tendenz rückläufig.
Stellt man der Anzahl der Standortverlagerungen den Umfang der Direktinvestitionen gegenüber, so ergibt sich ein differenzierteres Bild. Lediglich 7 % aller deutschen Auslandsinvestitionen gehen in die klassischen Niedriglohnländer Mittelosteuropas. 86% der deutschen Auslandsinvestitionen gingen 2002 hingegen in die westlichen Industrieländer. (Böckler Impuls 5 / 2005)
Die Relevanz von Lohnkostendifferenzen ist demnach zu relativieren. Entscheidend für die Standortpolitik ist vielmehr eine große Anzahl von Kriterien. Fertigungskosten sind dabei nur ein, wenn auch herausragender Aspekt. Qualifikation, Bildung und Motivation der Arbeitnehmer, Infrastruktureinrichtungen und Investitionspolitik des Staates sowie die Markterschließung und Kundennähe sind weitere wichtige Teilaspekte, die die unternehmerische Entscheidung für oder gegen einen Standort beeinflussen.
Die Frage nach dem Motiv von Standortverlagerungen ist daher entscheidend. Zwei Szenarien von Standortverlagerungen sind vorstellbar, wenngleich die Unterscheidung - wie bei jedem Modell - in der Realität nicht trennscharf ist.
Fall 1 - Proaktive Standortverlagerung:
Das Ziel der Verlagerung ist in erster Linie die Reorganisation der Produktionsstruktur. Dazu gehören beispielsweise die Konzentration auf Kernkompetenzen des Unternehmens, Standortverlagerungen zur Erschließung neuer Märkte oder die begleitende Verlagerung, bei der ein Zulieferbetrieb dem Abnehmer folgt.
Fall 2 - Reaktive Standortverlagerung:
Diese Variante von Verlagerungen ist eher als Reaktion auf die Verschlechterung der Wettbewerbsposition zu verstehen. Denkbar ist zum einen die Überlebenssicherung des Unternehmens durch Produktionsverlagerung zum anderen aber auch die kurzfristige Kostensenkung zur Gewinnmaximierung oder zur Vorbereitung eines Verkaufs von Unternehmen(steilen).
Während also der erste Fall die Anpassung des Unternehmens an den veränderten wirtschaftlichen Kontext (Märkte, Zulieferer, Kunden) beschreibt, steht im zweiten Fall die Senkung von Produktionskosten und die kurzfristig orientierte Gewinnmaximierung im Vordergrund.
Die Unterscheidung zeigt dabei, dass vor allem im zweiten Fall die Belegschaft erheblich unter Druck geraten kann. In der Krise sind ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten wie auch ihr Verhandlungsspielraum durch die "Kraft des Faktischen" sehr beschränkt.
Im ersten Fall hingegen können proaktive Strategien, beispielsweise mittels Fortbildung und Innovation, frühzeitig angewendet werden um Beschäftigungsabbau und ein Absenken der Standards zu vermeiden.
Exkurs: Unternehmensfinanzierung
Um die Hintergründe für die Tendenz zu kurzfristigen beziehungsweise spekulativen Unternehmensstrategien zu verstehen, ist ein Blick auf die sich verändernde Finanzierungsgrundlage deutscher Unternehmen notwendig, zu der hier ein kurzer Exkurs eingeschoben werden soll.
Hier einfügen Grafiken 1 und 2: Auflösung der Deutschland AG
Die Veränderungen, die der Kapitalismus in Deutschlands zurzeit durchläuft sind fundamental. Der "rheinische" Kapitalismus gerät durch einen steigenden Anteil von Investitionsfonds und anderen Formen spekulativen Kapitals an den Aktien deutscher und kontinentaleuropäischer Unternehmen unter Druck. Die "Deutschland AG", d.h. der gegenseitige Besitz der großen Aktiengesellschaften kombiniert mit langfristigen Anlagen der großen deutschen Banken, wird in Frage gestellt. Auch bei mittleren Unternehmen wird die Hausbank als Financier von Investitionen sukzessive von internationalem Finanzkapital verdrängt.
Die Folge ist eine zunehmend kurzfristige Renditeorientierung. Waren Aktienbesitzer und Kreditgeber in Deutschland traditionell immer auch "Stakeholder" mit langfristigen Interessen am Erfolg eines Unternehmens, reduziert sich ihre Rolle jetzt mehr und mehr auf die von "Shareholdern". Die Aktie und ihre Rendite bildet das einzige Interesse der Anleger, nicht mehr das Unternehmen an sich. Dadurch werden Unternehmensstrategien immer kurzfristiger angelegt. Tim Renner beschreibt diesen Trend in seinem Buch zur Musik- und Medienindustrie sehr plastisch am Beispiel des Musikkonzerns Universal Music. Es kommt immer weniger auf Entwicklung und langfristige Platzierung eines Produkts an und immer mehr auf die Zahlen im nächsten Quartalsbericht. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking verzichtet ostentativ auf Quartalsberichte, um die Langfristigkeit seiner Strategie deutlich zu machen, ist damit aber inzwischen ein Exot in der deutschen Wirtschaft.
Aufgrund dieser Kurzfristigkeit setzt das Management auf Kostensenkungen: Aktienkurse steigen inzwischen nicht mehr bei Expansion eines Unternehmens, d.h. auch Schaffung neuer Jobs, sondern bei Massenentlassungen. Im Management verdrängen BWLer, die häufig das Unternehmen wechseln, die bislang in deutschen Unternehmen vorherrschenden Ingenieure, die eine Hauskarriere hinter sich haben. Auch korporatistische Elemente und die verschiedenen Formen der Teilhabe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die eine wichtige Funktion in der langfristigen Unternehmensstrategie hatten, geraten dadurch unter Druck.
Gewerkschaftliche Strategien
Standortverlagerungen und Umstrukturierungen betreffen Arbeitnehmer und Gewerkschaften direkt, und zwar weit über Unternehmen hinaus, die mit Verlagerung drohen. Die internationale Konkurrenz wird von Unternehmensführungen oft in erpresserischer Weise ausgenutzt, um Lohnzurückhaltung zu erzwingen und den Gewerkschaften Zugeständnisse abzupressen.
Betroffen davon sind längst nicht nur die Arbeitnehmer in westlichen Industrieländern. Auch Belegschaften in aufstrebenden Volkswirtschaften, besonders in Mittelosteuropa, sind dem Wettbewerb mit immer noch billigeren Standorten weiter östlich unterworfen. Die Kostendifferenz zwischen Standorten in Ungarn und der Ukraine trägt auch in Mittelosteuropa zur Einschüchterung bei.
Eine umfassende Gegenstrategie der Gewerkschaften muss zweierlei bieten: Zum einen bedarf der oberflächliche Diskurs über Standortentscheidungen am Standort Deutschland einer grundsätzlichen Korrektur. Die Meinungsführerschaft liberaler Industrieverbände, deren Forderungen vor allem auf das Absenken von Löhnen und Standards abzielen, erfordert eine gut argumentierte Gegenposition der Gewerkschaften.
Zum anderen müssen Belegschaften und Gewerkschaften in Kooperation mit dem Management Veränderungen antizipieren und kreativ mitgestalten. Mittels Innovation und Qualifizierung muss eine Balance zwischen dem Ziel der Beschäftigungssicherung und dem Halten der relativ hohen Standards gefunden werden. Dafür gibt es bereits gut Beispiele, diese gilt es auszubauen.
So haben IG Metall wie auch die IG BCE Qualifizierungstarifverträge abgeschlossen, die den Rahmen für Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen der Belegschaft festlegen. Auf Betriebsebene werden diese Maßnahmen dann unternehmensspezifisch konkretisiert. Die IG Metall NRW setzt mit ihrer Strategie "besser statt billiger" auf Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und damit auf Beschäftigungssicherung. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehen hier Innovationen und Investitionen, Dialog zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten, Qualifizierung der Arbeitnehmer sowie Wissenstransfer zwischen Forschung und Betrieb.
Gewerkschaften müssen daran mitarbeiten, Umstrukturierungen im Kontext der Globalisierung auch als Chance zu nutzen. Eine Blockade dieser Prozesse ist mittel- und langfristig wenig erfolgversprechend. Nur durch Erneuerung und Innovation können Arbeitsplätze und Standards gesichert und ausgebaut werden.
Dies ist allerdings psychologisch schwierig, denn diesem notwendigen proaktiven Ansatz steht entgegen, dass heute 40 % der Bevölkerung in der EU unter Globalisierung einen negativen Prozess der Abwanderung von Unternehmen und damit von Arbeitsplätzen verstehen und 84% der Deutschen Angst vor Standortverlagerungen haben (Eurobarometer 64). Die Chancen, die sich aus der Öffnung der Märkte und der Intensivierung des Handels ergeben, werden bisher kaum wahrgenommen und zu wenig genutzt.
Dabei kann eine Politik des concession-bargaining und einer wettbewerbsorientierten Lohnpolitik zwar kurzfristig Arbeitsplätze sichern - gerade im konkret von Standortverlagerung bedrohten Betrieb. Langfristig können Gewerkschaften bei einem bedingungsloses Mitspielen im Kostensenkungswettbewerb aber nur verlieren. Genauso wie es bei den Unternehmensstrategien insgesamt darauf ankommt, neue Grundlagen für eine Langfristigkeit zu erreichen, gilt dies auch für den Aspekt der Sicherung von Arbeitsplätzen. Gewerkschaften müssen sich für ein Konzept des "besser statt billiger" einsetzen und dies auch auf europäischer Ebene - gemeinsam mit den Gewerkschaften Mittel- und Osteuropas.
Denn das Senken der Standards am Standort Deutschland ist nicht nur für hiesige Belegschaften schmerzhaft. Einsparprogramme hierzulande erhöhen im internationalen Wettbewerb auch den Druck auf Arbeitnehmer im Ausland. Ein weiteres Absenken der Standards kann von den Arbeitgebern genutzt werden, auch an den internationalen Standorten die Kosten zu senken - eine Spirale der Einsparung auf Kosten der Arbeitnehmer weltweit.
Re-Regulierung der Finanzmärkte
Hinzukommen muss eine Re-Regulierung der Finanzmärkte, um Anreize für Standortverlagerungen und Umstrukturierungen aus spekulativen und kurzfristigen Renditemaximierungs-Gründen zu reduzieren. Denn die Bundesregierung hat wie andere europäische Regierungen die Finanzmärkte odereguliert. In Deutschland wurden beispielsweise 2004 mit dem Investment Modernisierungsgesetz Hedge-Fonds eingeführt und damit neue Möglichkeiten hochspekulativer Anlagen ermöglicht. Hinzu kommt, dass das deutsche Steuerrecht den Export von Arbeitsplätzen fördert, indem Unternehmen die Kosten von Auslandsinvestitionen mit ihrer Steuerschuld im Inland verrechnen können. Auch die steuerliche Freistellung von Unternehmensveräußerungen hat den Trend zu Umstrukturierungen zur kurzfristigen Aufbesserung der Bilanzen gefördert.
Einher mit diesen Reformen ging eine Stärkung der Rechte von Anteilseignern. Ziel muss es jetzt sein, die Verantwortlichkeit des Managements gegenüber den Anteilseignern zu nutzen. Denn eine Aufwertung der Aufsichtsräte gibt nicht nur den Anteilseignern mehr Rechte, sondern stärkt auch die dort sitzenden Arbeitnehmervertreter. Aufgabe der Gewerkschaften muss es daher sein, Strategien zu entwickeln, um die gestärkte Position von Shareholdern auch im Sinne der Arbeitnehmer nutzbar zu machen. Notwendig ist ein Gegengewicht zu den auf kurzfristige Renditeerlöse und Kostensenkungen orientierten Kapitalinvestoren.
Die Finanzmärkte müssen in einer Weise re-reguliert werden, dass sie wieder einen Beitrag zur langfristigen Stärkung der Wirtschaft leisten. Dies erfordert beispielsweise die Besteuerung kurzfristiger Kapitalanlagen bzw. die Einführung einer Börsenumsatzsteuer, die Austrocknung der Offshore-Zentren, und die Überprüfung einiger Elemente der Finanzmarktförderungsgesetze (Stock-Options, Eigenaktienkauf) und eine Rücknahme der Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen.
Eine solche Regulierung ist vor allem auf der europäischen Ebene möglich. Maßnahmen auf nationaler Ebene werden hingegen nicht ausreichen, um den globalisierten Finanzmärkten Regeln zu verpassen. Eine wirksame Unternehmensbesteuerung müsste mittelfristig zum Beispiel direkt von der EU erfolgen, da Gewinne nicht mehr real in einzelnen Ländern realisiert werden, sondern Ergebnis einer mindestens europäische Wertschöpfungskette sind.
Außerdem wäre eine europäische Unternehmenssteuer der konsequenteste Weg, um Steuerdumping wirksam zu bekämpfen. Sie würde zudem einen gewissen Ausgleich zwischen den innerhalb der EU und auch der Währungsunion immer noch unterschiedlichen Konjunkturzyklen herstellen, da der (dann über Unternehmenssteuern indirekte) Beitrag einzelner Länder zum EU-Haushalt in wirtschaftlich stärkeren Zeiten größer und in schwachen kleiner wäre. Und schließlich würde die EU-Kommission gezwungen, die Konsequenzen eines Rufs nach Steuersenkungen durch Einnahmeverluste selbst zu tragen.
Ein Einstieg in eine europäische Unternehmenssteuerpolitik wäre die verbindliche Harmonisierung der Steuerbemessungsgrundlage, um europäisches Unternehmenssteuerrecht zu vereinfachen und transparenter zu machen. In einem zweiten Schritt wäre die Einführung von Mindeststeuersätzen sinnvoll, um den Unterbietungswettbewerb unter den EU-Mitgliedstaaten zu verlangsamen. Denn es ist die Strategie einiger neuer EU-Mitgliedsstaaten, mit sehr reduzierten Steuersätzen ihre Attraktivität für ADI zu erhöhen. Genannt seien etwa die Slowakei, die baltischen Republiken oder das zukünftige EU-Mitglied Rumänien. Offen ist bisher, ob die durch minimale Besteuerung geschaffenen Finanzdefizite im Staatshaushalt durch das Mehr an ADI und gesteigertem Wirtschaftswachstum ausgeglichen werden. Erste Anzeichen sprechen dafür, dass das Defizit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil durch Erhöhung der indirekten Steuern und das Zurückfahren sozialer Leistungen finanziert wird und damit eine Umschichtung der Lasten von oben nach unten stattfindet.
Im Gegensatz zu einer zukünftigen europäischen Unternehmenssteuerpolitik ist der Vorschlag der Kommission für einen "Globalisierungsanpassungsfonds" ein unzureichendes Bearbeiten von Symptomen. Zwar erkennt die Kommission damit immerhin die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf Arbeitnehmer an. Aber mit der geringen Kapitalausstattung (500 Mio. EUR für 25 Mitgliedstaaten) und den komplizierten Zugangsvoraussetzungen kann dieser Fonds nur als öffentliche Beruhigungsmaßnahme eingestuft werden.
"Besser statt billiger"
Bisher ist die Produktion in Deutschland vor allem dann wettbewerbsfähig, wenn Automatisierung und Kapitalintensität eine herausragende Rolle spielen. Ein gegenseitiges Unterbieten der Standards bei Entlohnung und Arbeitsbedingungen sollte auch im Interesse der Niedriglohnländer nicht die Lösung sein. Anstatt sich an die Spitze eines "race to the bottom" zu stellen bleibt nur die Flucht nach vorn. Letztendlich nutzt dem Standort Deutschland dabei das Wachstum in den ärmeren Ländern.
Die Gewerkschaften in Deutschland aber auch in Europa insgesamt stehen daher vor der Quadratur des Kreises: Einerseits werden Verteilungsfragen vor dem Hintergrund einer Globalisierung, die Ungleichheit beschleunigt wichtiger. Die Schere zwischen arm und reich, zwischen Kapital und Arbeit, aber auch innerhalb der lohnabhängig Beschäftigten öffnet sich immer mehr. Andererseits müssen die Gewerkschaften Fragen von Innovation und Qualifikation thematisieren, wenn dem "race to the botttom" eine qualitätsorientierte Strategie entgegengesetzt werden soll. (vgl. Albrecht 2004)
Denn Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer sind zur Verhinderungen von Standortverlagerungen entscheidend, aber auch als Begleitmaßnahme zu Umstrukturierungen wichtig. Dadurch werden bei Umstrukturierungen zwar nicht sämtliche Entlassungen verhindert werden können, sie können aber weiterführende Berufschancen und künftige Beschäftigungsmöglichkeiten erschließen.
Allerdings hinkt Deutschland im europäischen Vergleich bei der beruflichen Weiterbildung deutlich hinterher wie die folgenden Grafiken zeigen.
Hier einfügen Grafik 3: Teilnahme der Beschäftigten an Weiterbildungsmaßnahmen
Erschwerend kommt hinzu, dass die Weiterbildungsquote bei ohnehin schon geringer Qualifizierten nur halb so hoch ist wie bei anspruchsvollen Tätigkeiten. Dies auszugleichen ist auch Aufgabe von Gewerkschaften. Ansätze wie der Tarifvertrag zur Qualifizierung der IGM Baden-Württemberg, der grundsätzliche Ansprüche auf Weiterbildung, Regelungen über die Aushandlung geeigneter Bildungsmaßnahmen sowie die Kostenübernahme durch die Arbeitgeber und die Anrechnung der Weiterbildungszeit als Arbeitszeit enthält müssen ausgebaut werden und die z.B. in den aktuellen Tarifforderungen der IG Metall enthalten Innovations- und Qualifikationselemente ernstgenommen werden.
Um die Situation der direkt von Umstrukturierung betroffenen Arbeitnehmer zu verbessern, könnten die Gewerkschaften die Verlagerung von Arbeitsplätzen auch direkt zum Tarifthema machen. In die Tarifforderungen müsste ein Katalog von Maßnahmen für betroffene Arbeitnehmer, von Abfindungen bis zu Weiterqualifizierung, aufgenommen werden. Auf Unternehmensebene gibt es schon solche Vereinbarungen, zum Teil sogar grenzüberschreitend. In der EU gibt es mit den Europäischen Betriebsräten (EBR) eine institutionelle Verankerung für solche Vereinbarungen, für die die EU-Kommission laut der Sozialpolitischen Agenda auch einen europäischen Rechtsrahmen schaffen will.
Die EBR können ein wichtiges Forum darstellen, um die Belegschaften an den europäischen Standorten eines Unternehmens zu koordinieren. Zwar haben die Entscheidungen der EBR selten direkten Einfluss auf das Management. Ihre Stärke liegt aber darin, zu verhindern, dass Belegschaften gegeneinander ausgespielt werden. Dafür braucht es langfristig entwickelte Strukturen der Zusammenarbeit, denn Solidarität ist schwer herzustellen, wenn man erst miteinander spricht, wenn es nur noch darum geht welcher Standort geschlossen wird.
Wenn es aber funktionierende Strukturen und gegenseitiges Vertrauen gibt, können auch Krisensituationen gemeinsam gemeistert werden. Dies hat der Erhalt aller Standorte bei General Motors Europe gezeigt, der nur durch gemeinsame und solidarische Aktionen der betroffenen Betriebsräte und Gewerkschaften durchzusetzen war. Gleichzeitig wurden dort als Konsequenz aus der Situation Vereinbarungen getroffen, wie zukünftige Standortentscheidungen fallen sollen.
Und bei Kraft Food gibt es eine Vereinbarung im EBR, dass bei Produktionsverlagerungen die Arbeitnehmer am aufnehmenden Standort erst mit der neuen Produktion beginnen, wenn am alten Standort eine Vereinbarung zum Umgang mit dem Produktionsverlust geschlossen wurde.
Um eine solche grenzüberschreitende Solidarität zu organisieren, müssen die europäischen und internationalen Gewerkschaftsbünde gestärkt werden, nicht zuletzt auf Branchenebene. Aber auch nationale Gewerkschaften in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas, sowie außerhalb Europas brauchen Unterstützung, da sie zum Teil nur über sehr schwache Strukturen verfügen. Eine gewerkschaftliche Strategie zu Standortverlagerungen darf deshalb nicht an nationalen Grenzen haltmachen, da einem europäischen und globalen Phänomen nur auf gleicher Ebene begegnet werden kann.

Literatur.
Albrecht, Thorben: Eine qualitätsorientierte Wettbewerbsstrategie für ein soziales Europa. In: spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 136 (März/April 2004), 21-24.
Böckler Impuls 5 / 2005
Madeuf, B. (1995): Foreign Direct Investment, Trade and Employment Delocalisation, in: OECD (Hg.): Foreign Direct Investment, Trade and Employment, Paris, 41 - 65.
Mitbestimmung 3/2005, S.31

Quelle: spw 149 (Mai/Juni 2006)