Widersprüche des Aufbruchs

Ein Reisebericht aus China.

Im September reiste eine kleine Gruppe von Gewerkschaftsaktiven aus der Automobil-, Chemie- und Maschinenbauindustrie zwei Wochen durch die Volksrepublik China, um Eindrücke zu sammeln und Kontakte zu knüpfen in einem Land, das seit einigen Jahren als ökonomischer Riese in das kapitalistische Weltsystem eingebrochen ist. Der Reiseweg führte von Shanghai über Hangzhou in das Dorf Zhaicheng und nach Peking. Dabei waren eine Vielzahl von Fabrikbesichtigungen, Gespräche mit Gewerkschaftsfunktionären, Managern, Akademikern, NGOs, KP-Funktionären, Lohnabhängigen und Bauern möglich.

Shanghai und Hangzhou

In Shanghai wurden wir von zwei jungen Werksführerinnen durch die Bandmontage des Werks 2 der VW- Fabrik geführt, wo etwa 3700 Beschäftigte im Schichtbetrieb das neueste Modell des Santana montieren. Für deutsche Autowerker war überraschend, dass keinerlei Vorgesetzte zu sehen waren und mit den Bandarbeitern eine ungezwungene Kommunikation durch unsere eigenen Übersetzerinnen möglich war und das bei laufendem Band. Arbeitshetze oder Überwachung waren nicht zu erkennen.

Die Arbeiter berichteten, dass sie zwischen 3500 und 4000 Yuan (350-400 Euro) im Monat verdienen und in einem rollierenden Schichtmodell jeweils 4 mal 10 Stunden (40-Stunden-Woche) arbeiten, bei 10 Tagen Urlaub im Jahr. Die Gewerkschaft sei für Feiern und Urlaubsmöglichkeiten zuständig und würde mehrmals jährlich Versammlungen durchführen. Ein besonderes Interesse an der Gewerkschaft schien nicht vorhanden. Der Frauenanteil in der Produktion beträgt 20%. Die Belegschaft machte einen jungen Eindruck und gehört sicher zur absoluten Arbeiteraristokratie, was Einkommen, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen angeht. Das geht auch auf den Vorzeigecharakter dieser 50/50-Joint Ventures der Stadt Shanghai mit VW zurück.

In Hangzhou trafen wir Professor Xu Xiahong von der Theorieabteilung der Akademie des chinesischen Gewerkschaftsbundes der Provinz Zhejiang. Im Sinne eines sozialpartnerschaftlichen Verständnisses erklärte er offen, mit welchen Widersprüchen die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften konfrontiert sind. Es gibt ein sehr fortschrittliches Arbeitsrecht, das aber fast nur noch in Staatsbetrieben mehr oder weniger eingehalten wird. Zwischen sesshaften Arbeitern, die auch Bürger ihres Arbeitsorts sind, und den Wanderarbeitern gibt es eine erhebliche Kluft, was Rechte, Löhne und besonders Sozialleistungen betrifft. 50% der Industriebeschäftigten sind jedoch mittlerweile Wanderarbeiter.

Die Gewerkschaften sind nur auf betrieblicher Ebene und lokal organisiert. Es gibt keinerlei Versuche, überregional oder branchenweit eine angemessene Lohnstruktur durchzusetzen. So trafen wir in Peking einen Ingenieur in einem kleineren Staatsbetrieb, der nach 40 Berufsjahren nur 850 Yuan, das sind etwa 85 Euro monatlich, verdient und damit im unteren Bereich des gesetzlichen Mindestlohns von 700 Yuan in der Provinz Zhejiang liegt.

Durch Wanderarbeiter kommt es immer wieder zu Streiks und Demonstrationen mit Plünderungen und brennenden Autos, die aber nur dann Wirkung zeigen, wenn sie zu einem öffentlichen Thema in den Medien werden, was gegenüber ausländischen Firmen einfacher ist, weil hier an den Patriotismus appelliert wird. In Firmen mit chinesischen Eigentümern bestehen zwar oft bessere Arbeitsbeziehungen, andererseits ist der Widerstand der Beschäftigten schwieriger, da materielle und persönliche Interessen von lokaler Regierung, Partei, Gewerkschaft, Unternehmern und den Medien stark verflochten sind. Da es kein gesetzliches Streikrecht gibt, treten bei den meisten Aktionen nur die Mutigsten hervor.
Aufgrund von Repressalien kam es bisher kaum zu festen Organisationsansätzen. Seit kurzem ist es Teil der Gewerkschaftspolitik, die Wanderarbeiter mit dem Aufruf "Organisiert euch!" zum Eintritt in die Gewerkschaft zu animieren. In ehemaligen Staatsbetrieben gibt es Versuche der Beschäftigten, neben den wenig kämpferischen betrieblichen Gewerkschaften neue Organisationen zu gründen. Öffentlich treten diese allerdings nicht auf, da Sanktionen die Folge wären.

In der Provinz

Nach langer und teilweise abenteuerlicher Fahrt kamen wir in das 5000 Einwohner zählende Dorf Zhaicheng, in der Provinz Hebei. Hier existiert seit 2003 das James-Yang-Institut für landwirtschaftliche Entwicklung, das auf Privatinitiative von einflussreichen Akademikern aus Hongkong und der Volksrepublik China gegründet wurde und laufend unterstützt wird. Es ist eine freiwillige Kooperative örtlicher Bauern, die sich in mehreren Dorfversammlungen für das Institut entschieden, das ökologische Versuchsfelder als Muster für die Bauern und einen Kindergarten betreibt. Außerdem bietet es Alphabetisierungs- und Englischkurse an.

Es kommen Bauerndelegationen aus dem ganzen Land, um an agrarwirtschaftlichen Fortbildungen teilzunehmen. Wir verbrachten einen langen Abend mit einer Bauerngruppe aus der Inneren Mongolei, die von ihren großen ökologischen Problemen mit der fortschreitenden Austrocknung erzählte und großes Interesse an der Situation in der BRD zeigte. Mit ihnen feierten wir das chinesische Mondfest.

Bei Besuchen in Bauernfamilien wurde deutlich, dass es auch hier große soziale Unterschiede gibt, obwohl jede Familie die gleiche landwirtschaftliche Fläche (pro Kopf 652 m2) zur Verfügung hat. Die Ursache liegt darin, dass Familienangehörige als Wanderarbeiter Geld schicken oder eine höherwertige Ausbildung genießen konnten, andere Familien von Schicksalsschlägen wie Krankheit betroffen waren, denn auf dem Land gibt es kein funktionierendes Sozialsystem mehr.

Der wichtigste Mensch im Dorf ist noch immer der KP-Sekretär, der uns zu Hause empfing. Er ist für die 1200 Familien des Dorfes zuständig. 10% der Erwachsenen sind KP-Mitglieder. Er sieht die ökonomische Lage der Bauern als problematisch an. Ein Haushalt verfügt mit den Rücküberweisungen der auswärts Arbeitenden über ein jährliches Einkommen von rund 10000 Yuan (etwa 1000 Euro). Das ermöglicht einen bescheidenen Wohlstand. Im Gegensatz zu früher muss aber für medizinische Versorgung und Schule gezahlt werden. Ein Semester in der Mittelstufe kostet die Eltern schon 1000 Yuan (etwa 100 Euro). Gegen Bürgschaften können Kredite beim Staat aufgenommen werden, doch gibt es bereits Familien, die ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken. Sich privat krankenversichern zu lassen kostet jährlich 70 Yuan. Viele sparen sich diese Ausgabe.

Die Dorfbevölkerung schrumpft weiter, 50% der Jüngeren arbeiten bereits in den umliegenden Städten und viele Wanderarbeiter kommen nur einmal jährlich nach Hause. Die zunehmende Überalterung wird zum zentralen Problem, da es für Bauern kein Rentensystem gibt. Grund und Boden mussten bis jetzt zur Altersabsicherung reichen. Angestrebt wird eine stärkere genossenschaftliche Organisierung. Das kollektive Bewusstsein scheint in dem von uns besuchten Dorf noch recht ausgeprägt. Das gewählte Dorfkomitee schlägt einen Bau- und Entwicklungsplan vor, an dessen Finanzierung sich 90% durch eine freiwillige (?) Umlage beteiligen. Tatsächlich wird im ganzen Dorf öffentlich und privat gebaut und es macht einen sehr prosperierenden Eindruck.

Peking

An der Volksuniversität in Peking treffen wir den Leiter der Fakultät für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Professor Wen Tiejun. Er ist auch Gründer des James-Yang-Instituts und wurde als einer von zehn Wissenschaftlern von Staatspräsident Hu in ein zentrales Beratergremium für die wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsprobleme Chinas berufen. Nach eigenen Angaben vertritt er dort relativ allein eine linke Minderheit gegenüber den Neoliberalen - wobei die sog. "Neue Linke" in Bezug auf ihre ökonomischen Vorstellungen eher als sozialdemokratisch verstanden werden muss.

Er sieht die wirtschaftliche Entwicklung recht pessimistisch. Seit 1978 sei China vollständig in die Krisenzyklen der Weltwirtschaft integriert. Die ausländischen Investoren seien nur an niedrigen Löhnen interessiert, und wertmässig gehen 72% der Industrieproduktion in den Export. Im Inland fehlt die Nachfrage. Bei 70% der Güter für den Binnenmarkt herrscht Überproduktion. Trotz riesigen Wachstums steigt die Beschäftigungsrate nicht, vielmehr gibt es 40 Millionen Arbeitslose in den Städten gegenüber 300 Millionen Arbeitskräften. 500 Millionen Arbeitskräfte werden auf dem Land gezählt, davon sind 180 Millionen als Wanderarbeiter unterwegs.

Wen vertritt eine (schon historische) Denkschule, die die Bauernfrage als die zentrale Herausforderung Chinas ansieht. 70% der Bevölkerung leben noch auf dem Land, jedem wirtschaftlich Aktiven stehen gerade mal 0,29 Hektar zur Verfügung (in USA 66 Hektar), da nur 12% der Fläche Chinas urbar sind. Die Getreideproduktion stagniert, China ist wieder von Lebensmittelimporten abhängig, einer der Gründe für den WTO-Beitritt.

Doch noch ist in China die wirtschaftliche Entwicklung politisch beeinflussbar. Die reine Jagd nach Steigerung des Bruttoinlandsprodukts muss aufhören. Der Staat muss wieder stärker intervenieren und die Enwicklungsschwerpunkte von den Städten aufs Land verschieben. Zudem ist ein Umsteuern Richtung Umverteilen nötig. Auf dem Land müssen Strukturen der Selbstverwaltung und das Genossenschaftswesen aufgebaut werden. Die Staats- und Parteiführung bewegt sich unter dem Zwang der Probleme bereits in diese Richtung.

Am letzten Tag besuchten wir eine private Schule für Kinder von Wanderarbeitern. Erst seit der Regierung Hu haben solche Lohnabhängigen überhaupt einen legalen Status in den Städten. Doch die städtischen öffentlichen Schulen sind nur für Stadtbewohner. Normale Privatschulen kosten 5000 bis 8000 Yuan (etwa 500-800 Euro) jährlich. Hier zahlen die Eltern 800 Yuan, das sind etwa 80 Euro im Jahr. 23 Lehrer betreuen 498 Schüler. Professoren der Peking-Universität und ein angesehenes Gymnasium tragen mit einer Schulpatenschaft zur Unterstützung bei. Es sitzen bis zu 60 Schüler in einer Klasse, sie bekommen für 1,5 Yuan ein Mittagessen. Englisch ist ab der ersten Klasse Pflicht, obwohl viele erst ihr Mandarin-Chinesisch verbessern müssten, da sie zu Hause einen völlig anderen Dialekt sprechen. Bildung hat in chinesischen Familien einen sehr hohen Stellenwert, doch es tickt schon die nächste soziale Zeitbombe: Viele gut ausgebildete Jugendliche finden keinen adäquaten Arbeitsplatz mehr, sodass die Mühen und Schulden der Eltern umsonst waren.

Resümee

Bei einer Reise durch China ist die wahrnehmbare Entwicklung überwältigend. Nirgendwo bemerkten wir an "Dritte-Welt-Länder" erinnernde Slums oder Massenarmut. Niemand, mit dem wir sprachen, leugnete große Fortschritte und Verbesserungen, doch fast alle beklagten die zum Himmel schreiende Spaltung zwischen Arm und Reich und die soziale Unsicherheit.

Absolut niemand sprach von Sozialismus in China. Viele rechnen mit sozialen Unruhen und beziehen sich positiv auf das Ziel der jetzigen Führung, die von einer "harmonischen Gesellschaft" spricht. Wir trafen Menschen, die während der Kulturrevolution auf unterschiedlichen Seiten standen, doch alle empfanden diese Zeit aufgrund ihrer Gewaltexzesse als traumatisch und als Ursache für die tiefe Angst vor politischem oder sozialem Aufbegehren. Das Massaker auf dem Tienamenplatz ist auch bei älteren Pekingern in privater Runde ein Tabu, über das sie kaum reden wollen, auch wenn sie gerne eine "Neubewertung" sähen.

Alle Besichtigungen, Treffen und Gespräche fanden in einer sehr offenen, freundschaftlichen Atmosphäre statt, was eine derartige Reise trotz des anstrengenden Programms mit dieser kompetenten Übersetzungsarbeit zu einem Erlebnis für alle Beteiligten werden ließ.