Ein lang anhaltender Prozess

Radikale Demokratie und Perspektive der Aneignung

Ein Gespräch per E-Mail mit Alex Demirovic

Als Symptom, vielleicht sogar als Grund der Krise der Linken gilt, dass ihr das alte sozialistische oder kommunistische Projekt abhanden gekommen ist. Alle historischen Versuche des "Übergangs" sind gescheitert, zentrale Voraussetzungen - wie etwa die Existenz eines einheitlichen revolutionären Subjekts, aber auch ein Begriff von Gesellschaft als eines "Systems", an dessen Stelle etwas "ganz anderes" treten könne - sind so nicht mehr gegeben. Verloren ging damit sich als "systemüberwindende" Kraft zu verstehen. Alex Demirovic (AD) und Thomas Seibert (TS) gehen deshalb der Frage nach, ob Linke ein neu bestimmtes revolutionäres Projekt oder einen gänzlich anderen Ansatz brauchen.

AD: Zu fragen, ob die Linke ein neues revolutionäres Projekt brauche, unterstellt, dass die Linke und ein solches Projekt logisch zusammengehören. Das ist nicht der Fall. Es gibt linke Positionen, die sich ausdrücklich auf Korrekturen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft beschränken. Solche Positionen bestreiten, dass die kapitalistisch formierte Gesellschaft einen "systemischen" Charakter hat, der als solcher auch überwunden werden könnte. Sie machen das auf zwei unterschiedliche, gleichermaßen ernst zu nehmende Weisen. Die einen gestehen zwar zu, dass unsere Gesellschaften ein System bilden oder systemische Prozesse zumindest entscheidend das soziale Leben bestimmen. Doch nehmen sie an, dass solche Systeme evolutionär entstehen oder vergehen, weil sie so tief unterhalb der Ebenen liegen, auf denen Individuen oder soziale Gruppen bewusst etwas erreichen können, dass deren Eingriffe allenfalls Störungen der systemischen Eigenlogiken hervorrufen könnten.

TS: Das ist, um ein Beispiel zu geben, die Auffassung Michel Foucaults. Die mit dem Kapital verbundene Bio-Macht durchdringt als "System der gegenwärtigen Realität" zwar alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens aller einzelnen, doch ist es gerade deshalb nicht möglich, ihr ein umfassendes Alternativprojekt entgegenzustellen: "Das System" ist uns viel zu nah, wirkt in unseren Diskursen wie unseren Körpern, macht uns sogar erst zum Subjekt. Dagegen kann es laut Foucault nur einen stets lokalen und partikularen Widerstand geben, der zwar anti-systemisch, doch nicht "systemüberwindend" sein kann.

AD: Ich glaube, Foucault liegt da quer. Er lehnt jede Konzeption von Evolution oder Fortschritt ab, weist Systemkonzeptionen zurück und bestreitet, dass Gesellschaften systemisch gedacht werden könnten. Allerdings muss man da vorsichtig sein, weil er sich vor allem für das Problem von Wissen und Macht interessiert und Gesellschaft für ihn nur aus dieser Perspektive von Bedeutung ist: Was ist das für ein Wissen, das sich um das Problem der Gesellschaft bildet, und welche Macht übt es aus?
Andere bestreiten den systemischen Charakter, weil aus ihrer Sicht überhaupt keine vereinheitlichende Logik der Gesellschaft existiert, die zu überwinden wäre, sondern nur spezifische lokale Zusammenhänge, eigensinnige Handlungslogiken und Wertsphären. Deshalb kann es auch nur begrenzte Veränderungen geben, in denen auf demokratische Weise über besondere, stets beschränkte Eingriffe verhandelt wird. Wird mehr gewollt, dann kommt es, so die Warnung, zu Übergriffen von einem auf die anderen Bereiche, zur Reduktion komplexer Prozesse auf eine besondere Handlungslogik.

TS: Der gemeinsame Nenner beider Positionen ist dann aber die politische Philosophie des Liberalismus: Wir leben in einer prinzipiell irreparablen Welt, die, wenn überhaupt, dann nur in beschränktem Maß und deshalb auch nur demokratisch geordnet werden kann. Das klingt realistisch, ist auf jeden Fall anti-totalitär und scheint auch pragmatisch vernünftig zu sein: Man stellt sich nur die Probleme, die man absehbar auch lösen wird.

AD: Aus der Sicht beider Einwände ist jeder Versuch einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse eine Anmaßung von einzelnen Gruppen, Interessenlagen oder Lebensformen zum Nachteil anderer, dessen wahrscheinlich autoritäre Folgen die Gesellschaft selbst gefährden. Solche Warnungen konnten Linke früher leichter mit ideologiekritischer Geste ausschlagen, indem sie sie einer bestimmten Redeposition zugerechnet haben: Wer vor radikaler Veränderung warnt, stellt sich ihr aus interessierten Gründen entgegen. Doch so einfach ist es nicht. Natürlich sind solche Argumente mit Interessen verbunden, die vom Status quo, von den bestehenden Zuständen bestimmt sind. Aber: Warum soll man das Gute aufgeben, wenn unsicher ist, ob die Veränderung wirklich etwas Besseres bringt? Tatsächlich haben die Vorbehalte einen rationalen Kern in den bestehenden Strukturen der gesellschaftlichen Organisation und ihren Lebensformen, die ja durch eine Hauruckaktion nicht einfach verschwinden, sondern lang eingelebte Gewohnheiten sind, mit Überzeugungen und Rationalitätsgesichtspunkten verbunden. Mehr noch: Gerade wenn es um eine Veränderung dieser Organisations- und Lebensformen geht, wird das ein lang anhaltender, von vielen Generationen zu tragender Prozess sein.

TS: Einen solchen Prozess kann man aber mit dem Begriff der Revolution weniger gut denken, jedenfalls wenn man darunter die politische Revolution im engeren Sinn versteht: Unzufriedenheit und unorganisierte Wut der Massen, eskalierende Proteste, Barrikadenkämpfe, bewusste Kader und Avantgarden, die diese Massen führen, gewaltsamer Sturz der Regierung, Eroberung der Macht, Besetzung der Machtpositionen mit Revolutionären und zahlreiche neue gesetzliche Maßnahmen, schließlich in der Folge die Streitigkeiten der Revolutionäre und ihre Bestrebung, über andere Strömungen zu dominieren und sie im Namen der Revolution und ihrer Ziele zu beseitigen, weil sie diese gefährden.

AD: Ja, genau. Ich meine, dass deswegen schon Marx dieses jakobinische Modell der politischen Revolution und seine autoritären Folgen kritisiert, weil dabei ein bestimmtes Interesse als allgemeines gesetzt und allen anderen aufgezwungen wird. Davon unterscheidet er die soziale Revolution als einen Prozess der Veränderung, der einem eigenen Zeitrhythmus folgt und nicht nur aus einem Moment besteht. Zugleich muss neben den Erfahrungen mit den autoritären und antiemanzipatorischen Folgen der bisherigen Revolutionen bedacht werden, dass das, was die Linke über Jahrzehnte kritisiert hat, in vielen Hinsichten von der bürgerlichen Gesellschaft aufgenommen wurde. Die Erste Internationale wollte das Menschenrecht verwirklichen: Das ist in gewisser Weise geschehen. Im Unterschied zu den Obrigkeitsstaaten des 19. Jahrhunderts existieren heute in den führenden kapitalistischen Ländern parlamentarische Demokratien, in denen das Recht der Einzelnen auf eine eigene Stimme und politische Beteiligung, die Meinungs- und Redefreiheit, das Recht, politische Parteien und Gewerkschaften zu bilden, die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am gesellschaftlichen Leben, das Verbot rassistischer Diskriminierung rechtlich verbürgt sind. Das schließt die vielfache Verletzung von Menschenrechten nicht aus - und es wäre zu harmlos gedacht, setzten wir diese permanenten Verletzungen nicht selbst wiederum systematisch in Beziehung zuden bestimmenden gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen. Dennoch, aufgrund einerseits der autoritären Erfahrungen der eigenen Traditionen, andererseits der emanzipatorischen Momente in der bürgerlichen Gesellschaft befindet sich die Linke in einer neuen historischen Konstellation.

TS: Einer solchen Herausforderung versuchen sich gerade die Theorien und Positionen zu stellen, die dem Imaginären des einen revolutionären Einschnitts die Alternative der radikalen Demokratie und eines radikalen Reformismus entgegensetzen. Demokratie wird dabei nicht auf die Politik, das Parlament und die Repräsentation des Volkes durch gewählte Parteienvertreter reduziert: Aus der eigensinnigen Handlungslogik der jeweiligen gesellschaftlichen Bereiche, aus den unterschiedlichen Lebensformen heraus sollen unaufhörlich Prozesse der demokratischen Beteiligung entstehen. Angenommen wird, dass diese Prozesse die gesellschaftliche Entwicklung vor sich hertreiben und dort, wo die bestehenden Zustände demokratische Beteiligung blockieren, immer neue Übergänge in andere Verhältnisse hinein erzeugen, in denen autoritäre Fehlentwicklungen stets wieder rückgängig gemacht werden können.

AD: Ja, ein Teil der Vertreter der radikalen Demokratie von Mead über Arendt bis Habermas will ja seit langem das Erbe der Revolution antreten: Demokratische Institutionen werden als die auf Dauer gestellte Revolution verstanden. Damit wird der Anspruch erhoben, einen sanfteren, schonenderen Weg zu gehen, der die Lebensverhältnisse und Interessenlagen vieler Individuen und Gruppen berücksichtigt und die erwähnten Fehler vermeiden kann. Auch die Linke ist dann zunächst eine demokratische Strömung unter anderen, vielleicht sogar eine besonders demokratische, aber eben nur eine. Ich meine, dass sich die Linke tatsächlich so verstehen sollte, und zwar nicht defensiv im Sinne einer Anpassung an demokratische Spielregeln, sondern in dem rigorosen Sinn, dass sie erstens das Recht auf eine Stimme für die Ziele hat, die sie in den demokratischen Streit einbringt, und dass sie zweitens für die wirkliche Beteiligung aller an den Entscheidungen über die gesellschaftlichen Einrichtungen und Entwicklungen eintritt. Die Beteiligung aller an allen Entscheidungsprozessen ermöglicht dann eine gesellschaftliche Transformation getragen durch eine Mehrheit der Individuen. Das ist dann aber auch der Unterschied einer demokratischen radikalen Linken zur radikalen Demokratie. Diese beschränkt die Reichweite demokratischer Beteiligung zumeist auf Politik und die Öffentlichkeit, darauf, dass sich die Bürger an den Willensbildungen beteiligen können. Das geht dann im Pro und Contra über Jahre hin und her: mal für die Abtreibung, mal dagegen, mal für die Gleichstellung, mal dagegen, mal für humane Rechte der Lohnabhängigen, mal dagegen. Aber es gibt kein Ende, keinen qualitativen Wechsel. Demgegenüber beschränkt die Linke den demokratischen Prozess nicht auf Politik und Öffentlichkeit, sondern will ihn effektiv auf alle Lebenssphären ausdehnen und die Rolle des Staates als transzendenten zentralen Verwalter zurücknehmen.

TS: Wird die Gesellschaft in institutionell vereinbarten Verfahren unter der Kontrolle der vielen verändert, kann der Prozess sehr viel schwerer zur Sache besonderer Moral- und Revolutionsunternehmer werden, die sich gewaltsam gegen andere durchsetzen und behaupten. Stattdessen wäre schon der Übergang vom Ziel einer emanzipierten Lebensform her organisiert.

AD: Ja, das stimmt, die Radikaldemokratie unterläuft das autosuggestive martialische Tamtam vieler Linker, bleibt aber selbst häufig unklar und lähmt sich durch einen "Pluralismus", der in Meinungslosigkeit übergeht, weil sie am Ende nur noch dafür eintritt, dass die öffentliche Diskussion für alle Meinungen offen bleiben soll. Aber dem demokratischen Streit muss es um etwas Konkretes gehen. Soll radikal demokratische Beteiligung wirklich in eingespielte Kräfteverhältnisse eingreifen und den Privilegierten ihre Vorrechte nehmen, kann situativ eine enorme Mobilisierung von gesellschaftlichen Kräften notwendig werden, da die Betroffenen sich einem Mehrheitsvotum nicht ohne weiteres beugen. Solche verdichtenden Mobilisierungen aus der Dynamik demokratischer Prozesse können als Revolution bezeichnet werden: Von dieser Semantik kann man sich nicht einfach verabschieden, ohne auch Inhalte preiszugeben. Die radikale Demokratie lässt außer acht, dass Prozesse der demokratischen Veränderung nicht linear verlaufen: Demokratisierungen können wieder zurückgenommen werden, wenn sich undemokratische Interessengruppen einigeln, überdauern und sich so allmählich wieder behaupten. Ein Beispiel ist der Fall der Atomindustrie, die wieder offen ihre Interessen vertritt. Außerdem kann es zu Demokratisierungen kommen, die anfangs ihren Wert haben, aber im Prozess ihre Funktion ändern. So wurde die direkte Mitsprache am Arbeitsplatz, eine der wichtigen Forderungen der Arbeitskämpfe der 1970er Jahre, Ausgangspunkt einer Politik des Managements von oben. Dies ändert auf eigenartige Weise alle Verhältnisse, die dennoch und gerade deswegen bleiben, was sie sind. All das läuft in der Frage zusammen, wann und wie im Prozess der Demokratisierung Punkte der Unumkehrbarkeit geschaffen werden wie wir sie heute bereits für die Grundrechte kennen: Demokratische Beteiligung und schonende Reformen müssen sich einem Punkt nähern, von dem aus eine Transformation der Verhältnisse freigesetzt wird, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Horkheimer und Adorno haben das im ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung toll formuliert: Die durch die bürgerliche Wirtschaft vervielfachten Dinge und Kräfte könnten nicht mehr allein durch Könige oder Bürger, sondern nur noch durch alle verwaltet werden. Diese "lernen an der Macht der Dinge, der Macht endlich zu entraten. Aufklärung vollendet sich und hebt sich auf, wenn die nächsten praktischen Zwecke als das erlangte Fernste sich enthüllen." Dies bedeutet, dass unter Beteiligung aller auch die Formen der Beteiligung reorganisiert werden, um machtfreie Beteiligung zu ermöglichen. Das wird herrschende Interessenkonstellationen verletzen und wirft deshalb die Frage nach den Prinzipien auf, nach denen solche Transformationen eingeleitet werden: In welche Richtung und wie weit sollen sie gehen, welche Interessen werden sie verletzen müssen und "dürfen", welche Minderheitspositionen müssen wie und in welchem Umfang geschützt werden? Das zwingt die radikale Demokratietheorie aus inneren Gründen, in eine materialistische Theorie kapitalistischer Produktionsverhältnisse überzugehen.

TS: Im traditionellen sozialistischen oder kommunistischen Projekt zielten darauf der Begriff und die Sache der Aneignung, von Marx in doppelter Verneinung als Expropriation der Expropriateure gedacht, als letztendliche Enteignung derer, die zuvor alle anderen enteignet haben. Da waren romantische Annahmen im Spiel, die wir nicht mehr teilen, eine bestimmte Dialektik der Entfremdung und der - eben! - Wiederaneignung des Gattungswesens, auch eine Überdrehung der Metaphysik des Eigentums selbst. Dennoch verweisen rebellische Praxen der Aneignung theoretisch wie praktisch auf einen Punkt, von dem aus die radikaldemokratische Bescheidenheit mit dem russischen Sprichwort interpretiert werden muss, nach dem die Zunge immer um den faulen Zahn kreist. Dieser Punkt lässt sich unmittelbar und direkt vorbringen, aber auch im Rückgriff auf einen zwar utopischen, doch nicht utopistischen Überschuss. Unmittelbar und direkt: Wer kontrolliert die materiellen und symbolischen Ressourcen des gesellschaftlichen Reichtums, die Mittel zur Produktion und Reproduktion von Gesellschaft selbst? Den utopischen Überschuss fasst Du im Kommunismus-Buch ganz "in der Tradition kritischen Denkens: Frieden, Versöhnung, Verein freier Individuen". (1)

AD: Ja, Marx schreibt ausdrücklich, es gehe nicht um die Enteignung jedes Eigentums, sondern um das an den Produktionsmitteln. Dieses Eigentum ermöglicht, andere zu zwingen, ihre Arbeitskraft als Ware nach den Gesetzen des Marktes zu verkaufen oder ihnen die materielle Reproduktion ihres Lebens zu verweigern. Wir nennen das verharmlosend Arbeitslosigkeit. Und tatsächlich werden die Arbeitslosen in einem nicht nur bildlichen Sinn aus dem Leben der Gattung, sich kooperativ in der gemeinsamen Arbeit zu erhalten, ausgestoßen. Ich finde auch, man sollte das nicht zur Metaphysik des Gattungswesens machen, mit der Gefahr eines Kultes der Arbeit. Aber vernünftig erscheint mir schon, dass niemand aus seinen Fähigkeiten eine Ware machen muss und die Produktionsmittel des Lebens im umfassenden Sinn allen Betroffenen gehören. Es ist ja dieses Menschenopfer absurd: Dass alles immer effizienter und wettbewerbsfähiger werden soll, damit angeblich alle überleben können, aber unter dieser Effizienz erst einmal eine Vielzahl von Menschen auf der Strecke bleiben, obwohl die Ressourcen vorhanden sind. Wir beklagen uns dann in Deutschland über die Globalisierung und tragen mit einer aggressiven Exportindustrie die Armut und Arbeitslosigkeit in andere Teile der Welt, die dann wieder mit Druck auf Löhne und Lebensstandards zurückwirken. Diesen fatalen Kreislauf, der mit der Macht eines Naturgesetzes wirkt, kann eine radikale Demokratie, die sich ernst nimmt, nicht akzeptieren.

TS: Kommen wir auf den Widerstand zurück, mit dem wir von links her ja so oder so den Anfang machen müssen. Die radikaldemokratische Perspektive scheint mir da insofern unhintergehbar zu sein, als der Widerstand tatsächlich stets lokal und partikular, im Beginn oft nicht einmal anti-systemischen Charakters ist und in jedem Fall ohne ein an und für sich universales Subjekt auskommt. Foucault und andere RadikalreformistInnen schließen daraus, dass emanzipatorische Politik auch immer nur von lokaler und partikularer Reichweite sein kann und "systemüberwindend" nicht gedacht und gewollt werden kann. Da liegt meines Erachtens der Fehler. Es mag ja sein, dass "Systemüberwindung" nicht als Projekt gedacht und praktiziert werden kann, d.h. nicht intentional, nicht als Willensakt eines mit sich identischen Kollektivsubjekts. Das heißt aber nicht, dass wir den in der Form stets demokratisch-reformistischen Prozessen auch die Möglichkeit eines revolutionären Ausgangs absprechen müssen. An dieser Stelle bleibt der Radikalreformismus einfach Reformismus: eine Predigt des Verzichts. Revolutionär zu sein hieße dem gegenüber, der Möglichkeit den Vorrang vor der Wirklichkeit einzuräumen. Das ist eine philosophische These mit unmittelbar praktischer Bedeutung: Sie entscheidet über den Horizont, in den hinein eine Linke zu denken und zu revoltieren wagt, d.h. darüber, welche Probleme sie sich eigentlich stellt.

AD: Die Wirkung von Intentionen ist schwer einzuschätzen - es gibt ja marxistische Spieltheoretiker, die, vielleicht ironisch, behaupten, dass der Kommunismus kommt, wenn ihn niemand mehr verfolgt. Aber das nährt eine evolutionistische Geschichtsmetaphysik. Aufgrund immanenztheoretischer Überlegungen denke ich schon, dass nichts geschehen wird, das nicht vorher von Menschen konzeptionell angestrebt worden ist. Wie das geschieht, ist nicht zu antizipieren, weil Verschiedenes angestrebt wird - von Gegeninteressen nicht zu sprechen. Entsprechend gilt dies auch für die unterschiedlichen Formen und Vorstellungen von Emanzipation, die sich in einer versöhnten Form verknüpfen müssen. An diesem Punkte teile ich auch Deine Foucault-Interpretation nicht. Er sagt an einigen Stellen ganz klar, dass sich die lokalen Kämpfe zu globalen Strategien zusammenfügen müssen, weil sie sonst kurzatmig bleiben und verloren werden. Ich glaube, dass beides getan werden muss: lokale Kämpfe in und zu globalen Strategien verknüpfen, ohne sie zu reduzieren. Zu begeisternden Perspektiven hat diese Formel bislang immer nur für kurze Zeit geführt, bei den Zapatisten, den Sozialforen. Dies macht viele ungeduldig, lässt sie mit Dogmatismus kokettieren und auf Eindeutigkeiten zurückfallen, anstatt mit langem Atem beides in einer Einheit zu verfolgen: radikale Demokratie und grundlegende Veränderung der Verhältnisse.

Alex Demirovic und Thomas Seibert leben in Frankfurt/Main, der eine ist Redakteur der Prokla, der andere Redakteur von Fantômas. Zu Demokratie und Revolution haben beide zuletzt in Indeterminate! Kommunismus. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur geschrieben (Hg. von Demopunk/Kritik & Praxis Berlin, Unrast: Münster 2005).

Anmerkung:
1) Ebd., S. 67

Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 8 /Winter 05/06