Die vollendete Zukunft

Editorial

Im Deutschen gab es - bevor das nichts sagende "Futur II" sie ersetzte - die schön-widersinnige "vollendete Zukunft", derer sich mit Vorliebe Wahrsager und Christen bedienten.

Im Deutschen gab es - bevor das nichts sagende "Futur II" sie ersetzte - die schön-widersinnige "vollendete Zukunft", derer sich mit Vorliebe Wahrsager und Christen bedienten. Es gibt allerdings Notsituationen, in denen RedakteurInnen wie wir auf dies Konstrukt zurückgreifen, das es möglich macht, ein bevorstehendes Ereignis rückblickend zu kommentieren.

Wie kommt dies? Nun, zwischen dem iz3w-Redaktionsschluss und dem Zeitpunkt, an dem Sie und ihr, liebe Leserinnen und Leser, die neue Ausgabe in Händen halten, vergehen knapp zwei Wochen: Korrektorat, Satz, Druck und Verschickung benötigen eben ihre Zeit. Dies wäre auch kein größeres Problem, gäbe es nicht wirklich wichtige Begebenheiten, die just in diese Zeit fallen. Und in einer solchen Situation gibt es für die Redaktion drei Möglichkeiten: Entweder sie übergeht das Ereignis, weil es dann doch nicht gar so wichtig erscheint (diesmal beispielsweise die so genannte Bundestagswahl), oder
sie verschweigt das oben beschriebene Dilemma und kommentiert den Sachverhalt, als habe sie das Ergebnis gekannt. Das geht freilich nur, wenn letzteres zu - sagen wir - 95 Prozent sicher ist (etwa bei der Wahl des CSU- oder PDS-/Links-Parteivorsitzenden). Schließlich kann sie sich - Sie ahnen es - auch für die vollendete Zukunft entscheiden.
Etwa in diesem Fall: "Das Millennium+5-Treffen der Vereinten Nationen Mitte September in New York wird
in seiner ersten Überprüfung der hohen Ansprüche zu keinem Ergebnis gekommen sein." Dazu brauchen wir keine Propheten in unseren Reihen. Ist doch die Zeit, die sich die UN vorgenommen haben, um so hehre Ziele zu verwirklichen, wie die Zahl der absolut Armen zu halbieren und Bildung, Gesundheitsversorgung und vieles mehr stark zu verbessern, schon zu einem Drittel verstrichen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen hatten sich die Mitgliedsstaaten vor fünf Jahren beim Millenniumsgipfel auf ein gemeinsames Vorgehen und sogar einen gemeinsamen Zeitplan zur Umsetzung dieser Ziele bis zum Jahr 2015 geeinigt.
Nur: Seit den 1970er Jahren haben die Industriestaaten schon zigfach angekündigt, dass sie ihre Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent ihres jeweiligen Bruttosozialprodukts aufstocken wollen. Dass diese Voraussagen unvollendet blieben, hat unterschiedliche Gründe. Interessanter als eine Ursachenforschung ist aber auch hier die Grammatik. Die USA etwa haben kurz vor dem Millennium+5-Meeting ihre Vorstellungen von der Zukunft kurzerhand modifiziert und angekündigt, dass sie die 0,7 Prozent-Zielvorgabe künftig gar nicht mehr anzustreben gedenken. Die europäischen Länder dagegen - allen voran Deutschland - verharren im Konjunktiv - mal im I, mal im II: Man hätte schon früher aktiver auf die Quote zusteuern wollen; im Grunde würde man auch jetzt noch wollen, so sich die Wirtschaftsdaten denn bald änderten. Zukünftig aber werde alles besser: Im Jahr 2015, so behaupten Fischer & Co. steif und fest, wird das Ziel erreicht worden sein. Punkt.

Da kommen die UN-eigenen Statistiken und Prognosen mehr als ungelegen. Aus dem kürzlich veröffentlichten "Index der menschlichen Entwicklung" geht nämlich hervor, dass in zahlreichen Staaten vor allem im Afrika südlich der Sahara die Armut zu- statt abnimmt. Die jüngsten Hungersnöte in Westafrika, vor allem im Niger, haben mal wieder deutlich gemacht, dass die Entwicklungsziele mehr Wunschdenken als realistische Einschätzung sind. Dabei sind eben nicht nur "natürliche" (die Heuschreckenplage und die Trockenheit) und quasi-natürliche Gründe (Korruption afrikanischer Eliten und Misswirtschaft) für die Misere verantwortlich. Die Weltmarktstrukturen tragen einen Großteil dazu bei: Seit Jahrzehnten nimmt im Süden Nigers die Ernährungssicherheit durch die Agrarhandelsliberalisierung ab. Die Kleinbauern haben wegen der Billigimporte aus subventionierter Produktion keinen Anreiz mehr, Überschüsse zu produzieren, weil sie die nicht mehr verkaufen können. Obwohl es der Welt ein Leichtes wäre, dies zu ändern, passiert nichts. Oder, wie es Marion Aberle von der Welthungerhilfe ausdrückt: "Jeder gähnt, wenn er von einer Hungersnot in Afrika hört."
Dem Optimismus der UN tut selbst das keinen Abbruch. Weder Hungersnöte noch Statistiken noch die Tsunami-Katastrophe zum Jahreswechsel konnten sie davon abhalten, an ihren ehrgeizigen Zielen festzuhalten. Nach der Flut wurden nicht etwa zuerst die Fehler in der Entwicklungsplanung und in der Katastrophenwarnung in den Mittelpunkt gestellt, sondern die "historische Leistung" gewürdigt, nach der die ganze Welt Erste Hilfe leistete bei einem Unglück, das gleich mehrere Länder in verschiedenen Kontinenten heimsuchte. Und künftig? Wird ein Frühwarnsystem installiert worden sein, das Katastrophen dieser Ausmaße praktisch unmöglich machen wird.

So werden die Resultate des bevorstehend-zurückliegenden Gipfels nicht vor jenen des ersten Millennium-Gipfels zurückgestanden haben. Es wird von "historischen Weichenstellungen" und "historischen Zielen" die Rede gewesen sein. Ein "historisch", das den Erfolg vorwegnimmt, sei es noch so unwahrscheinlich, dass er eintritt. Auch eine Variante der vollendeten Zukunft.

die redaktion