Das Maß der Armut und das Wunder der Regelsatzbemessung

in (25.01.2005)

Joachim Rock zeigt hinter einzelnen Ausführungsbestimmungen für das ALG II eine soziale Realität, die den Kreis der von Armut betroffenen BürgerInnen erheblich ausweiten wird.

Im Dezember 2004 bot die Hamburger Illustrierte "Stern" ihrer Leserschaft eine bewegende Titelgeschichte. Es ging um Armut, um daraus folgende Ausgrenzung und um ein Kind, welches darunter besonders gelitten hat. Die Rede war jedoch nicht von einem der zahlreichen Kinder, die heute in Armut leben oder durch die beschönigend als Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bezeichnete Streichung der Arbeitslosenhilfe künftig noch in Armut fallen werden. Vielmehr ging es in der Titelgeschichte um die Leiden des jungen Gerhard Schröder.

Wenige Tage nach Erscheinen des Artikels war - an den Auslagen der Schaufenster lange vorher unschwer zu erkennen - Weihnachten. Etwa Millionen Kinder und Jugendliche waren zu diesem Zeitpunkt auf Sozialhilfe angewiesen. Seit dem 1.1.2005 bekommen sie und zusätzlich die von der Reform betroffenen Kinder ehemaliger Arbeitslosenhilfebezieher einheitlich das so genannte Sozialgeld, welches sich in etwa auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe bewegt und nach einem festgelegten Regelsatz bemisst. Für Kinder und Jugendliche sieht der Regelsatz künftig einen Anteil von 1,56 Euro1 für Spiele, Spielzeug und Hobbywaren vor. Dass da für Weihnachtsgeschenke wenig Spielraum besteht, ist offensichtlich. Dass viele Kinder und Jugendliche sich deshalb zurückziehen, weil sie mit dem Lebensstandard Gleichaltriger nicht mithalten können, erstaunt wenig. Der Appell der Bundesregierung, die Menschen mögen doch zum Wohle der Konjunktur mehr kaufen, muss da ebenso wie Hohn klingen, wie der in politischen Debatten immer noch gern gebrachte Hinweis, im Gegensatz zu anderen Ländern müsse man hier immerhin nicht hungern. Der Kontrast zwischen gesellschaftlichem Reichtum und millionenfacher individueller Armut an Einkommen tritt zunehmend deutlicher zutage. Und auch wenn Hunger für Kinder in Deutschland heute in der Regel kein Thema mehr ist: Armut und Ausgrenzung ist es sehr wohl.

Hartz IV ist inzwischen zum Synonym für das beschleunigte Tempo bei der Auseinanderentwicklung der Einkommensverhältnisse worden - zu Recht. Was jedoch die Höhe der Leistungen der Sozialhilfe bzw. des Arbeitslosengeldes II angeht, so stellt Hartz IV zwar eine Zäsur da, aber keinen Bruch gegenüber dem Leistungsniveau der Sozialhilfe. Die Abkoppelung der Hilfebezieher von der gesamtgesellschaftlichen Einkommenszunahme wird mit diesen Reformen nicht erst eingeleitet, sondern - "nur" - fortgesetzt.

Schon die Sozialhilfe wurde ihrem eigenen Anspruch, ein bedarfsorientiertes soziokulturelles Existenzminimum zu gewährleisten, seit Jahren nicht mehr gerecht. Als das Bundessozialhilfegesetz 1962 in Kraft trat, gab es etwa eine halbe Million Sozialhilfeempfänger. Mehr als 40 Jahre später waren es zum Jahresende 2004 über 2,7 Millionen, darunter etwa eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. War die Sozialhilfe anfangs noch als letztes Netz unter mehreren konzipiert und nicht nur auf Geldleistungen, sondern gerade auch auf persönliche Hilfe ausgerichtet, änderte sich ihr Charakter im Lauf der Zeit grundlegend. Sie wurde zu einer rudimentären Grundversorgung für Millionen von Menschen, denen der Markt keine ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten und die Sozialversicherungen keine Gewähr mehr für die Sicherung des Existenzminimums boten: Alleinerziehende, Erwerbslose, Erwerbsgeminderte und alte Menschen.

Als Ausfallbürge für einen unzureichenden Familienleistungsausgleich, für ungenügende Leistungen für Langzeitarbeitslose und für in den Sozialversicherungen benachteiligte Frauen war die Sozialhilfe jedoch nie konzipiert. Angesichts dieser Entwicklung änderte sich auch das Hilfeangebot der Sozialhilfe. Statt persönlicher Dienstleistungen und Hilfe zur Selbsthilfe rückte mehr und mehr die Funktion der Sozialämter als öffentlicher Armenkasse in den Vordergrund. Nach und nach wurde dabei der einst proklamierte Anspruch, dass die Sozialhilfe neben der Sicherung der nackten Existenz ein Leben in Würde und die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben sichern solle, aufgeweicht und ausgehöhlt.

Wunder gibt es immer wieder - zur Entwicklung der Regelsätze

Die Entwicklung der Regelsätze belegt dies in bedrückender Deutlichkeit. Nach der Ende der 1980er Jahre erfolgten Ablösung des sog. Warenkorbmodells, bei dem der Bedarf an Gütern und Lebensmitteln anhand eines fiktiv zusammengestellten Warenkorbes bemessen wurde, durch das sich an den Verbrauchsgewohnheiten unterer Einkommensgruppen orientierende Statistikmodell, wurde die Abkoppelung der Regelsätze vom Bedarf immer weiter fortgeschrieben. Die erste Festlegung erfolgte dabei 1990 auf der Basis einer Hochrechnung, die auf entsprechenden Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, einer alle fünf Jahre erhobenen amtlichen Statistik zu den Lebensverhältnissen der privaten Haushalte, aus dem Jahr 1983 (!) basierte. Spätestens 1993 hätte eine Überprüfung der Regelsätze auf der Basis der Stichprobe von 1988 stattfinden müssen, die 1990 noch nicht ausgewertet war. Stattdessen entschied sich die damalige Bundesregierung aus haushaltspolitischen Gründen, sich von der bedarfsorientierten Anhebung der Regelsätze zu verabschieden und den Anstieg der Regelsätze zu deckeln.

Die Regelsätze wurden danach nur noch geringfügig erhöht, wobei die voraussichtliche Nettolohnentwicklung und später die Rentenentwicklung jeweils Obergrenzen markierten. Sie wurden zum Teil nicht einmal erreicht. Diese Entwicklungslinie mündete in der am 14. Mai 2004 vom Bundesrat verabschiedeten Regelsatzverordnung, die auch für das Arbeitslosengeld II maßgeblich ist. Mit dieser neuen Regelsatzverordnung wurde die Höhe der Regelsätze erstmals wieder anhand von Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe überprüft.

Das Ergebnis war - wie es ein Ministeriumsmitarbeiter formulierte - "ein statistisches Wunder", ergab sich doch nahezu eine Punktlandung auf dem Leistungsniveau, welches der Regelsatz damals ohnehin hatte. Die Überraschung in der interessierten Öffentlichkeit war entsprechend groß. Dies lag nebenbei auch daran, weil mit den Berechungen das Regelsatzniveau bestätigt wurde, welches in den ersten Gesetzentwürfen zur Hartz IV-Reform vorgesehen war: 345 Euro Regelsatz in Westdeutschland, 331 Euro in Ostdeutschland. Allerdings war dies noch nicht das letzte Wort, hatten doch die errechneten Ergebnisse ein beträchtliches Defizit. Die Leistungsausgrenzungen und erhöhten Zuzahlungsverpflichtungen im Gesundheitswesen waren darin nicht berücksichtigt. Dies wurde nachgeholt.

Das Ergebnis dieser neuerlichen Berechnungen war - Wunder gibt es immer wieder - eine erneute Bestätigung des Leistungsniveaus. Nicht nur notorische Skeptiker hatten deshalb Anlass genug, die Objektivität der Berechnungen in Zweifel zu ziehen. Daran, dass die Berechnungen objektiv sein sollten, lässt der Gesetzgeber auch gar keinen Zweifel. Er formulierte in § 28 des Sozialgesetzbuches XII verhältnismäßig eindeutig: "Die Regelsatzbemessung berücksichtigt Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen. Datengrundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe". Da dieses nur scheinbar objektive Rechenexempel jedoch nur für einen kleinen Kreis von Experten überhaupt nachvollziehbar ist, haben nur wenige den Versuch unternommen, die Berechnungen nachzuvollziehen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat dieses Unterfangen bislang am ausführlichsten begründet und die mit Abstand umfangreichsten Berechnungen und Analysen dazu vorgelegt (Martens 2004). In der Sache trifft er sich - bei unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Höhe - mit zahlreichen anderen vorliegenden Analysen, wie sie beispielsweise vom Frankfurter Rechtsprofessor Matthias Frommann und der Essener Rechtsprofessorin Helga Spindler vorgelegt wurden (siehe dazu u.a. Hauch-Fleck [2004]). Festzustellen ist: Die Festlegung der Regelsätze ist nicht nachvollziehbar, sie erscheint in vielen Punkten willkürlich und sie ist im Ergebnis deutlich zu niedrig.

Lege den Finger auf jeden Posten: Die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes

In der am 20. Dezember 2004 im Rahmen einer Bundespressekonferenz vorgestellten Analyse für den Paritätischen Wohlfahrtsverband hat Dr. Rudolf Martens dabei errechnet, dass die Regelsätze gegenüber dem ursprünglichen Anspruch inzwischen um etwa 19% zu niedrig bemessen sind.[2]

Zum besseren Verständnis ist es dabei wichtig zu wissen, dass die Bemessung der Regelsätze anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erfolgt, indem die Ergebnisse dieser alle fünf Jahre stattfindenden Erhebung über das Verbrauchsverhalten der Haushalte in Deutschland gewichtet und hochgerechnet werden. Etwa 75.000 Haushalte werden dazu auf freiwilliger Basis über ihre Einnahmen und Ausgaben befragt. Aus dieser Datenmenge werden daraufhin die Daten für das einkommensärmste Fünftel der Haushalte herausgenommen. Sie werden als Maßstab für das angeblich typische Verbrauchsverhalten von unteren Einkommensgruppen betrachtet. Anhand dieser Daten werden wiederum zehn Gruppen von Ausgaben gebildet. Die wiederum statistisch gewichteten Ausgaben in diesen Bereichen werden addiert: Das Ergebnis dient letztlich der Regelsatzbemessung.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat es nun u.a. unternommen, den Entwurf einer Regelsatzverordnung aus dem Jahr 2003 mit dem später verabschiedeten Entwurf zu vergleichen. Beide unterschieden sich im Ergebnis nicht, obwohl dies wegen der zwischenzeitlich einbezogenen Konsequenzen der Gesundheitsreform zu erwarten gewesen wäre. Er stellte dabei fest, dass die Ausgabengruppe, die Ausgaben für Gesundheit beinhaltet, in der später verabschiedeten Version tatsächlich um 6,16 Euro höher angesetzt worden war. Gleichzeitig jedoch waren andere Ausgabengruppen, wie die für Nahrungsmittel, für Bekleidung und Schuhe und für Freizeit und Unterhaltung in dem Maße niedriger veranschlagt worden, dass sich der Verordnungsentwurf 2003 und die Verordnung von 2004 im Ergebnis hinsichtlich der Regelsatzhöhe nicht mehr unterschieden. Gerechtfertigt wurden diese Kürzungen damit, dass in zugrunde gelegten Positionen der EVS auch Ausgaben enthalten sein könnten, die Sozialhilfebeziehern eigentlich nicht zustünden. Es könnte schließlich sein, so die dahinter stehende Logik, dass das einkommensschwächste Fünftel der befragten Haushalte auch Ausgaben für Pelzmäntel, für Maßanzüge oder gar für Sportflugzeuge getätigt hätte. Auf der Grundlage dieser nun wirklich völlig absurden Annahmen wurden entsprechende Abschläge getätigt. Man hatte es also nicht mit einem "statistischen Wunder" zu tun, aber immerhin mit einer sehr wunderlichen Argumentation, die auf eine Regelsatzbemessung nach Kassenlage hinauslief.

In der Analyse des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wurde der verabschiedeten Regelsatzzusammensetzung eine Berechnung des Verbandes gegenübergestellt, welche auf derartige Rechenexempel verzichtete. Es wurden stattdessen Ausgaben berücksichtigt, die unter Bedarfsgesichtspunkten als unbedingt geboten erscheinen. Dazu gehörte beispielsweise die Anerkennung von Ausgaben für Benzin, denn schließlich wurde zum 1.1.2005 anerkannt, dass der Besitz und die Nutzung eines Autos schon zur Verbesserung der Beschäftigungsaussichten auch Arbeitslosengeld II-Empfängern möglich sein sollte. Ausgaben für Benzin waren aber dennoch nicht eingerechnet worden. In Tabelle 1 sind die veranschlagten Werte für die einzelnen Ausgabengruppen aus der geltenden Regelsatzverordnung den Ergebnissen der PARITÄTISCHEN Berechnungen gegenübergestellt worden.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband behauptet dabei ausdrücklich nicht, dass der von ihm errechnete Wert in jedem Fall ein auskömmliches Leben sichern würde. Die Berechnungen sind lediglich der Versuch, auf der Basis des im Gesetz formulierten Anspruchs eine faire und nachvollziehbare Festlegung zu treffen: nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Da die einzelnen Produktgruppen in der Statistik noch wesentlich feiner ausdifferenziert sind, lässt sich auch noch wesentlich detaillierter bestimmen, was nach dem amtlichen Regelsatz als ausreichend angesehen wird. Die Ergebnisse sind aufschlussreich. So dürften selbst die gesamten veranschlagten Ausgaben für "Verkehr" nicht ausreichen, um monatlich auch nur ein Sozialticket im Nahverkehr zu finanzieren - von gelegentlichen Bahnfahrten ganz zu schweigen. Da ein Fahrrad zum Beispiel nicht mehr als einmalige Leistung finanziert wird, sondern stattdessen eine Pauschale gezahlt wird, kann man jetzt mit monatlich etwa 74 Cent auf ein Fahrrad sparen, für dessen Instandhaltung 35 Cent im Regelsatz enthalten sind. Für die Kommunikation mit Telefon, Fax und Internet stehen inkl. der Grundgebühren 17,85 Euro zur Verfügung - man kann also immerhin angerufen werden. Freizeitveranstaltungen wie Theater, Kino und Sportveranstaltungen können sich Arbeitslosengeld II-Empfänger 4,63 Euro kosten lassen, für Kneipengänge und Essengehen sind 10,06 Euro im Regelsatz enthalten, für Bücher weitere 5,98 Euro. Wer dies für ausreichend hält, der hat den Selbstversuch noch nicht gewagt. Hinzu kommt auch, dass sich die genannten Werte jeweils auf die Bestandteile eines Regelsatzes von 345 Euro beziehen. Menschen in Ostdeutschland oder Familienangehörige erhalten jedoch weniger als 345 Euro. Entsprechend geringer fallen auch die einzelnen Anteile aus.

Einmalige Leistungen werden künftig weitgehend pauschaliert ausgezahlt, was in den genannten Sätzen bereits eingerechnet ist. Gerade Eltern mit Kindern gehören dabei zu den Pauschalierungsverlierern. Die Eigenanteile für den Kauf von Schulbüchern und für das Mittagessen in Schule und Kindertagesstätten müssen schließlich vom Regelsatz bezahlt werden. Dafür bekommen Kinder statt dem Regelsatz von 345 Euro aber nur einen reduzierten Satz von 207 Euro. Familien werden weitere Abstriche vornehmen müssen, um aus dem Regelsatz nun auch noch einmalige Anschaffungen finanzieren zu können. Die Reform des Sozialsystems erweist sich damit als eine Reform gegen die sozial Schwachen. Ihre Abkoppelung von der gesamtgesellschaftlichen Einkommenszunahme wird damit fortgesetzt.

Wo bleibt das Positive? Eine gute Frage! Begrüßenswert ist immerhin, dass Arbeitslosengeld II-Empfänger künftig sozialversichert sind, auch wenn der Effekt für den Einzelnen bescheiden ist. Die Einbeziehung in die Rentenversicherung bringt zum Beispiel faktisch nur Ansprüche auf Leistungen der Rehabilitation. Der Rentenanspruch selbst ist eine Farce, schließlich müsste ein Arbeitslosengeld II-Empfänger ungefähr 200 Jahre nach Alg II-Kriterien versichert sein, um einen Rentenanspruch wenigstens in Höhe der Sozialhilfe zu haben. Hinzu kommt, dass die Einbeziehung in die Sozialversicherungen mit einer Umschichtung von Lasten des Bundeshaushaltes auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einhergeht. Die Bundesagentur zahlt für die Krankenversicherung eines jeden Arbeitslosengeld II-Empfängers einen pauschalen Beitrag von rund 126 Euro monatlich. Die durchschnittlichen Kosten liegen jedoch deutlich darüber. Da die Beiträge somit nicht kostendeckend sind, müssen die Mehrkosten von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten getragen werden. Entsprechend erhöhen sich die Lohnnebenkosten. Hartz II bis IV belasten allein die Krankenversicherungen mit 1,6 Mrd. Euro in 2004 und weiteren 3 Milliarden Euro in 2005 (Fritz Beske Institut 2004). Nicht einmal eine sofortige Einführung einer Bürgerversicherung könnte dies kompensieren.

Selbst die Mehrheit des Bundesrates vermag die getroffene Regelsatzfestlegung offenbar nicht nachzuvollziehen. So nüchtern wie zutreffend resümieren die beiden Bundesratsausschüsse für Arbeit und Sozialpolitik sowie für Frauen und Jugend in ihrer Stellungnahme zur Regelsatzverordnung: "Die Ableitung des Eckregelsatzes ist nicht hinreichend transparent, insbesondere die Festlegung der Vomhundertanteile an den einzelnen Verbrauchsausgabenanteilen in § 2 Abs. 2 der Verordnung sind aufgrund der amtlichen Begründung allein nicht nachvollziehbar: teils handelt es sich offensichtlich um willkürliche Setzungen" (Deutscher Bundesrat 2004).

Angesichts dieser Sachlage kann es nicht verwundern, dass die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bislang in keinem Punkt widerlegt worden sind. Im Gegenteil: Sowohl die Stellungnahmen der seitens der Regierung beauftragten Experten als auch die Argumentation der Verteidiger des bestehenden Leistungsniveaus argumentieren vor allem damit, dass eben nicht mehr Geld da sei. Mit Blick auf die ebenfalls zum 1.1.2005 in Kraft getretene Steuerreform, die Spitzenverdienern erneut eine deutliche und überproportionale Entlastung bringt, erscheint diese Argumentation nach dem Motto "There is no alternative" jedoch so wenig überzeugend, dass man sie mit einem Kopfschütteln abtun könnte, ginge es nicht um ganz konkrete Schicksale.

Angesichts dieser Entwicklung kann man dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit Interesse entgegensehen. Bildete der erste Armuts- und Reichtumsbericht noch die unterschiedliche Einkommens- und Vermögensverteilung in der Regierungszeit von CDU, CSU und FDP ab, so behandelt der kommende die Entwicklungen unter rot-grüner Regierungsverantwortung. Bereits der vorliegende Entwurf dazu lässt keinen Zweifel daran, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gegangen ist. Dies wäre wahrlich ein Armutszeugnis, und es vermag deshalb nicht wirklich zu überraschen, wenn gegenüber dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht einige wesentliche Vergleichskriterien aus dem Berichtsentwurf verschwunden sind. Dies betrifft beispielsweise die auf die Europäische Kommission zurückgehende Armutsschwelle in Höhe von 50% des Durchschnittseinkommens. Unter den verschiedenen relativen Armutsbegriffen, nach denen Armut im Verhältnis der jeweiligen gesellschaftlichen Einkommensverhältnisse definiert wurde, war und ist diese 50%-Schwelle die am häufigsten verbreitete. Sie markiert nicht zuletzt einen Mittelweg zwischen der strengen Armutsgrenze (weniger als 40% des Durchschnittseinkommens), unter der 1,9% der Bevölkerung liegen, und der sog. Armutsrisikoschwelle (weniger als 60% des Durchschnittseinkommens), die ihrerseits 13,5% der Bevölkerung betrifft. Diese beiden Armutsschwellen sind auch im neuen Armutsbericht berücksichtigt, während Angaben zur 50%-Schwelle fehlen. Die Liste dieser methodischen Merkwürdigkeiten ließe sich fortführen (siehe hierzu Schneider 2005).

Der Verteilungskampf um die knappen Ressourcen wird härter. Die staatliche Sozialpolitik, die immer noch in hohem Maße Sozialversicherungspolitik ist, nutzt all denjenigen nichts, die dauerhaft keine Chance auf eine Erwerbstätigkeit erhalten. Es bedarf deshalb neben einer Erhöhung der Leistungen auch einer stärkeren Universalisierung der Ansprüche, um Sozialpolitik wieder zu einer Angelegenheit für diejenigen zu machen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind (siehe hierzu auch Rock 2004). Davon sind wir wahrlich weit entfernt.

Literatur

Deutscher Bundesrat (2004) Empfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik und des Ausschusses für Frauen und Jugend zur Verordnung zur Durchführung des § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelsatzverordnung - RSV). Drucksache 206/1/04 vom 4.5.2004.
Fritz-Beske-Institut (2004): Zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, Kiel.
Hauch-Fleck, Marie-Luise (2004): Wie aus mehr weniger wird. In: Die ZEIT Nr. 52 / 2004 (im Internet unter: http://zeus.zeit.de/text/2004/52/ALG_II).
Martens, Rudolf (2004): "Zum Leben zu wenigÂ…" Expertise im Auftrag des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes - Gesamtverband e.V., Berlin. (Download unter www.paritaet.org).
Rock, Joachim (2004): Armut im Anzug. Anmerkungen zur Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Grundsicherung. In: Gerntke, Axel/Rätz, Werner/Schäfer, Claus u.a.: Einkommen zum Auskommen. Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen, VSA-Verlag, Hamburg.
Schneider, Ulrich (2005): Was ist Armut? In: Engelen-Kefer, Ursula/Rau, Johannes/Schneider, Ulrich u.a., Sozialpolitik mit Zukunft. Eine Streitschrift gegen die weitere Entsolidarisierung der Gesellschaft. Herausgegeben von Joachim Rock, VSA-Verlag, Hamburg (im Erscheinen).

Joachim Rock ist Diplom-Verwaltungswirt und Dipl.-Politologe und arbeitet als Referent für die Vorsitzende des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) in Berlin.

[1] So der für 2005 hochgerechnete Anteil für diese Warengruppe (EVS Code 09.31) bei 14- bis 17-Jährigen.
[2] Auf die Herleitung dieses Ergebnisses kann an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden. Dieser Beitrag beschränkt sich stattdessen darauf, einige Ergebnisse dieser aufwändigen Studie wiederzugeben und - zum Teil sehr vereinfacht - Hinweise zum Verfahren zu geben.

in: Sozialismus Heft Nr. 2 (Februar 2005), 32. Jahrgang, Heft Nr. 285, S. 14-18.

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