Kein Thema und kein Konzept hat die sozialwissenschaftliche und die politische Sprache weltweit so rasch erobert und beherrscht sie gegenwärtig so gründlich wie das der "Globalisierung". ...
1. Alle reden von der Globalisierung
... "Die Globalisierung" ist zur Kurzformel für die eine, die alles umfassende Realität der heutigen sozialen Welt geworden, in der alles mit allem zusammenhängt und in der eine unerbittliche Logik, eine "eherne" Notwendigkeit am Werk ist. Daher kann sie auch als Erklärung und Entschuldigung für fast alles herhalten. "Die Globalisierung" ist mittlerweile zur Allzweckwaffe im politischen Alltagsgeschäft geworden. In dieser Realitätsdeutung kommt es auf Details, auf Genauigkeit und Stimmigkeit gar nicht mehr an - schon die einigermaßen komplexen Phänomene der heutigen Weltwirtschaft werden in der Regel auf ein paar Schlag- und Stichworte verkürzt.
Im Sprachgebrauch vieler Journalisten und Politiker ist die "Globalisierung" hingegen erheblich weniger ambivalent und erheblich eindimensionaler als es der Erfahrung vieler einfacher Leute entspricht. In der Wahrnehmung vieler Gewerkschafter z.B. ist Globalisierung eine Art Sammelname für eine ganze Reihe von durchaus verschiedenartigen Prozessen mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen. Die Globalisierung besteht aus einem Bündel von Globalisierungstendenzen oder -prozessen, die keineswegs automatisch verlaufen, die keineswegs allesamt in dieselbe Richtung gehen und die unterschiedliche Chancen und Risiken bieten. Im Vergleich zu solch einer differenzierten Sicht ist die heute in der offiziellen Publizistik und Politik vorherrschende Vorstellung von "der Globalisierung" recht einfältig.
Natürlich gibt es einen Zusammenhang mit dem, was man als Neoliberalismus bezeichnet. Für die neoliberale Weltsicht ist die Globalisierung eine Art von Gottesgeschenk, das einen radikalen Wandel der Argumentation erlaubt: Man braucht nicht länger den Markt als den Inbegriff des wahren Eden, des Guten und Gerechten, des Reichs der Freiheit auf Erden moralisch zu rechtfertigen. Denn siehe: Das Gute und Gerechte geschieht schon, der Markt setzt sich unaufhaltsam und weltweit durch. Als Weltmarkt zwingt er mit unwiderstehlicher Gewalt, bei Strafe des ökonomischen Untergangs alles und jeden, wo auch immer auf der Welt, zur Unterwerfung unter und Anpassung an die ehernen Gesetze der ökonomischen Vernunft ‑ und das zum Vorteil aller und zum Besten des Fortschritts.
Die politische Ladung, d.h. die mehr oder minder deutlich ausgesprochene Botschaft im heute vorherrschenden Globalisierungsdiskurs lautet so: Regierungen in allen entwickelten kapitalistischen Industrieländern, ganz gleich welcher parteipolitischen Couleur und Zusammensetzung, können machen, was sie wollen. Sie haben keine Chance gegen die Macht des neuen Leviathan, des globalen Kapitals. Regierungen regieren, aber das globale Kapital herrscht. Und es zwingt den Regierungen aller Länder einen Einheitsstil der Politik auf: Alle müssen tun, was den Herren des globalen Kapitals, insbesondere den Herren der Finanzmärkte gefällt. Der Witz besteht darin, dass diese Botschaft heutzutage nicht von patentierten Vulgärmarxisten, sondern von Konservativen, Liberalen und vielen Sozialdemokraten geglaubt und verkündet wird.
Leute mit Überblick, Differenzierungsvermögen und Augenmaß wie die leider vor kurzem verstorbene Susan Strange sehen das etwas anders: Der Staat verschwindet keineswegs, und er ist heute auch alles andere als handlungsunfähig. Er muß allerdings damit leben, dass ihm seine traditionellen Monopole ‑ vom Gewalt-, Rechts-, Geld-, bis hin zum Steuermonopol, nicht zuletzt auch das Monopol auf bindende kollektive Entscheidungen ‑ von einer wachsenden Zahl nicht-staatlicher Akteure streitig gemacht werden, von denen viele formell private Organisationen sind ‑ wie z.B. die großen Multi- oder Transnationalen Konzerne. Politische Macht wird heute in wachsendem Maße von nicht-staatlichen Akteuren ausgeübt, die den Staaten bzw. viele Staaten zugleich auf ihrem ureigensten Terrain herausfordern. Oder, in Abwandlung eines beliebten Zitats des Bundeskanzlers: Politik findet heute in wachsendem Maße in der Wirtschaft statt. Fragt sich nur, mit welchen Folgen. Und fragt sich auch, ob sich der Staat bzw. die Staaten ‑ sowie auch andere nicht-staatliche politische Akteure, wie etwa die Gewerkschaften ‑ diese Herausforderung einfach gefallen lassen müssen. Die Globalisierungsdebatte dreht sich also um die alte, immer wieder neue und aktuelle Kernfrage der Politischen Ökonomie: Wie verhalten sich Ökonomie und Politik im modernen Kapitalismus? Und wie verhalten sie sich heute, nach den Strukturveränderungen der kapitalistischen Weltwirtschaft, die in den letzten 20 Jahren stattgefunden haben?
2. Was ist neu an der Globalisierung?
Der moderne Kapitalismus ist von Anfang an ein Weltsystem, wenn auch die kapitalistische Welt - die des frühen Welthandels nämlich - zu Anfang außerordentlich begrenzt ist, trotz enormer räumlicher Ausdehnung. Weltmärkte zu schaffen, die verschiedenen sozialen "Welten" in einem Marktsystem zusammen zu bringen, letzten Endes die gesamte ökonomische Welt in einen Markt zu verwandeln, auf und durch den alle natürlichen und produzierten bzw. reproduzierbaren Reichtümer in Waren verwandelt werden, das ist eine Tendenz, die dem modernen Kapitalismus von Anfang an angehört. Karl Marx war einer der ersten, der diese Tendenz klar gesehen hat.
Dennoch braucht die Entstehung und Entwicklung des modernen Kapitalismus lange Zeit. Von Naturwüchsigkeit oder gar Naturnotwendigkeit kann in diesem langen historischen Prozeß keine Rede sein. Märkte überhaupt und insbesondere die speziellen Märkte für "fiktive Waren" wie menschliche Arbeitskraft, Boden bzw. Natur, für Geld und Kapital, für Wissenschaft und Information, die Märkte also, die den modernen Kapitalismus auszeichnen, werden allesamt gemacht und sind allesamt von Anfang an umkämpft. Es gibt in diesen Kämpfen immer wieder Wendepunkte, historische Entscheidungen, die zumindest für einige Zeit dem Lauf der ökonomischen Entwicklung eine bestimmte Richtung gaben. Marx, der sich für den real existierenden Kapitalismus seiner Zeit heftig interessierte, hat einige davon genau studiert und gründlich analysiert ‑ so den Kampf um den Freihandel, den Kampf um die Fabrikgesetzgebung und den Kampf um den Goldstandard.
Es hat so nicht eine ungebrochene, aufsteigende Entwicklung der zunehmenden "Globalisierung", sondern verschiedene Wellen oder Schübe von Globalisierungen in der Geschichte des modernen Kapitalismus gegeben. Die Historiker und Sozialwissenschaftler streiten sich, ob es sinnvoll ist, zwischen drei, fünf oder sechs historischen Phasen der Globalisierung in der Geschichte des modernen Kapitalismus zu unterscheiden. In diesen Streit muß man sich gar nicht mengen, wenn man sich über die tatsächlichen Neuheiten der jüngsten Globalisierungswelle verständigen will. Es genügt völlig, sich die letzte große Globalisierungswelle, von etwa 1890 bis 1914 anzusehen. Dennoch ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass es in der Vergangenheit nicht nur verschiedene Globalisierungsphasen oder -schübe gab, sondern dazwischen immer wieder auch Phasen gegenläufiger Entwicklungen, Perioden der De-Globalisierung, in denen der Welthandel und Weltverkehr deutlich abnahmen und das bereits erreichte Ausmaß der weltwirtschaftlichen Integration deutlich zurückgenommen wurde.
Die meisten Leute reagieren heute mit Unglauben und Verwunderung, wenn man ihnen sagt, dass die weitaus meisten Phänomene der gegenwärtigen Globalisierungsphase nichts völlig Neues und nichts Einmaliges darstellen. Das ist zum Teil eine Folge der Kurzatmigkeit und Kurzsichtigkeit heutiger politischer Debatten, auch auf der Linken, die ja einmal stolz darauf war, mit langem Atem und langer Perspektive Politik zu machen. Wer aber an das lautstark verkündete "Ende der Geschichte" nicht glaubt, kommt um einige historische Reminiszenzen nicht herum. Der Zweck dieser Übung besteht nicht darin, die Neuheiten oder Eigenarten der gegenwärtigen Globalisierungsphase einfach abzustreiten, wie der heute beliebteste Vorwurf aller Globalisierungsenthusiasten gegen die Skeptiker lautet. Er besteht darin, diese Neuheiten und Eigenarten überhaupt erst scharf in den Blick zu bekommen. Einige dieser Neuheiten werden im Folgenden kurz benannt:
- Die heutige Globalisierung findet auf dem vorläufigen Höhepunkt der (national)staatlichen Entwicklung statt. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten Mal herrscht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens die Staatsform des territorialen, souveränen Nationalstaats unangefochten und konkurrenzlos. Der zweihundertjährige Aufstieg des Nationalstaats hat sich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in einen wahren Siegeszug verwandelt, und dieser Siegeszug hat nun seinen Gipfelpunkt erreicht. Zum zweiten ist die Handlungskapazität der Nationalstaaten in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern heute weit größer als vor 50 oder vor 20 Jahren. In der jüngsten Vergangenheit haben die meisten Nationalstaaten im reichen "Norden" die früher immer wieder verkündeten "öko-nomischen Grenzen der Staatstätigkeit" mühelos überschritten. Sie sind in den letzten Jahrzehnten fiskalisch, administrativ, militärisch, polizeilich nur immer stärker geworden und sie leisten heute effektiv weit mehr als je zuvor (dafür gibt es eine Vielzahl von Indikatoren). Die Stärke der Nationalstaaten beruht heute natürlich auf anderen Faktoren als der schieren Größe (Fläche, Qualität des Bodens, Naturreichtümer, Lage, Bevölkerungszahl und -struktur sind heute nicht mehr die einzigen, schon gar nicht die ausschlaggebenden Faktoren, die die Stärke oder Schwäche von Staaten bestimmen). Die Globalisierung heute findet in einer Welt statt, die von Nationalstaaten beherrscht wird.
- Schneller noch als die Zahl der Nationalstaaten hat in der Nachkriegsperiode die Zahl sowie die durchschnittliche Größe und Reichweite internationaler Organisationen zugenommen, die in der internationalen Politik neben und mit den Nationalstaaten eine Rolle spielen. Die Zahl der so genannten IGOs (intergovernmental organizations) hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt (auf heute ca. 300), die Zahl der INGOs (inter- and non-governmental organizations) hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verfünffacht (auf heute über 5500); ihre Diversität und Spezialisierung hat eine ähnliche Entwicklung genommen wie bei ihren amtlichen, mehr oder minder staatlichen Widerparts. Gleichzeitig haben die Zahl, die Reichweite und die Häufigkeit der internationalen Kontakte, Beratungen, Abkommen und Verträge, Konferenzen, an denen die Staaten, aber eben in wachsendem Maße auch IGOs und INGOs teilnehmen, enorm zugenommen.
- In der heutigen Globalisierung spielen die Staaten eine deutlich andere Rolle als etwa in den Hochzeiten des Imperialismus. Sie sind nicht mehr die zentralen, treibenden Kräfte, die Vorreiter der Expansion, die für ihr "nationales Kapital" auswärtige Märkte öffnen bzw. schaffen. Sie haben ‑ sehr oft im Zusammenspiel mit bzw. nur über IGOs ‑ die Wege gebaut und geebnet, für den Weltverkehr ebenso wie für den Welthandel und die globalen Geld- und Kapitalbewegungen. Aber mittlerweile sind sie eher Getriebene als Antreiber. Es sind die jeweiligen Weltmarktakteure, die nationalen Weltmarktindustrien bzw. die nach wie vor stark national und regional verorteten MNCs (multi-national corporations) und TNCs (trans-national corporations), die ihre jeweiligen nationalen Autoritäten vorschicken, um ihnen Hindernisse aus dem Weg zu räumen bzw. ihre Interessen in Verhandlungen über die Regulierung oder Deregulierung von Teilen der Weltwirtschaft zu vertreten.
- Der heutige Welthandel konfrontiert die politischen Ökonomen mit einigen Paradoxa: Er ist gleichzeitig sehr viel stärker "liberalisiert" und sehr viel stärker und intensiver reguliert als je zuvor. Wir befinden uns mitten in der bisher längsten Freihandelsperiode in der Geschichte des modernen Kapitalismus.
Die fortgesetzte Zollsenkungspolitik im Rahmen des GATT hat in einigen großen Schüben in der Tat die Zölle in allen wichtigen Handelsnationen auf ein historisch beispiellos niedriges Niveau heruntergebracht. Dadurch ist aber die Handelspolitik insgesamt keineswegs liberaler oder weniger protektionistisch geworden. Alle großen Welthandelsländer haben sich in rasch wachsendem Maße auf so genannte nicht-tarifäre Handelshemmnisse verlegt (wie z.B. technische Standards, Sicherheitsstandards, neuerdings auch Umweltstandards usw.). Dadurch ist der Regulierungsbedarf und -aufwand allerdings sprunghaft gestiegen. Und genau auf dieser deutlichen Zunahme der Regulierungen, die notwendig sind, um so etwas wie Freihandel auch bei Mini- oder Nullzöllen zu realisieren, beruht der späte und folgenreiche Schritt vom GATT zur WTO in den neunziger Jahren. Sich den außerordentlich diversen Qualitätsstandards auf den verschiedenen Außenmärkten der kapitalistischen Welt anzupassen ist nicht leicht und vor allem recht kostspielig. Daher haben in den 70er und 80er Jahren auch Nicht-Multis in wachsender Zahl die Strategie verfolgt, statt im eigenen Land für den Export zu produzieren, die Exportwaren lieber gleich im Zielland herzustellen. Dagegen sind die weltweit sinkenden Transportkosten zu einem guten Teil dadurch wieder wettgemacht worden, dass die Handelsketten erheblich länger und weiter verzweigt wurden als je zuvor. Wer bei dieser fortschreitenden Öffnung neuer Märkte mithalten, wer auf dem sich erweiternden Weltmarkt präsent sein wollte, der musste logistische Kosten in Kauf nehmen, die mittlerweile bei vielen Welthandelswaren die reinen Transportkosten weit übersteigen. Kurz und bündig: In der Globalisierung des Welthandels ist es heute die Handelspolitik, die im Konzert der Welthandelsnationen gemacht wird, wo die Musik spielt. Die Transport- und Kommunikations-technologie bzw. deren Neuerungen kommen erst unter ferner liefen.
- Nach wie vor ist der Welthandel stark regionalisiert, auch wenn es eine wachsende Neigung bei großen wie bei kleineren und mittleren Unternehmen gibt, sich überregional zu betätigen. In der Regel heißt das aber eben nicht weltweit, keineswegs auf allen Weltmärkten, sondern nur in einem etwas vergrößerten Radius, der heute, dank der verfügbaren Transport- und Kommunikations-technologie, zugänglich ist. In EU-Europa sind das in der Regel nicht mehr als einige Hundert Kilometer ‑ wohlgemerkt, innerhalb der am besten entwickelten Freihandelszone der heutigen Welt, der EU. Die Regionalisierung bezieht sich allerdings auf die ökonomischen Großregionen der so genannten Triade (Europa, Nordamerika, Südostasien). Man kann diese Konzentrationstendenz des Welthandels beispielsweise daran ersehen, dass sich heute und nach wie vor der weitaus größere Teil des internationalen Handels innerhalb der Triade-Regionen abspielt statt zwischen ihnen. Die intraregionale Handelsintegration übertrifft die interregionale in aller Regel und im Blick auf alle drei Triadezonen. Dabei gibt es natürlich Unterschiede, aber selbst für einen der notorischen Exportweltmeister wie die BRD sind die Märkte in den EU-Nachbarländern bei weitem wichtiger als alle übrigen Märkte im Reiche der Triade zusammen (schon aus dem einfachen Grund, dass die intraregionale Handelsintegration innerhalb EU-Europas heute weit höher ist als irgendwo sonst auf der Welt).
- Verschwunden bzw. verdrängt worden ist eine Sorte des Kapitals, die in früheren Zeiten eine große Rolle spielte: das Welthandelskapital, die auf Welthandelsgeschäfte spezialisierten Handels- und Bankunternehmen. Derartige Spezialisten gibt es eigentlich nur noch im internationalen Transportgewerbe, nicht mehr unter den Banken und Händlern. Das heißt aber nur, dass heute so gut wie alle großen Handelsunternehmen und Banken sich auch ganz selbstverständlich in grenzüberschreitenden, internationalen Handels- und Bankoperationen betätigen. Die Unterschiede zwischen Welt- und Fernhandel und Handel auf dem Binnenmarkt bzw. innerhalb einer relativ überschaubaren Region, die in der Geschichte des Kapitalismus eine gewichtige Rolle gespielt haben, sind heute weitgehend verschwunden.
- Die Globalisierung der Produktion, die zu ganz neuartigen "globalen Produkten" und "globalen Fabriken" führen soll, gibt es in der Tat. Sie ist auch etwas ganz Neues, was die heutige Globalisierung von früheren Phasen der Globalisierung unterscheidet. Gemeint ist eine Unternehmensstrategie, durch die verschiedene Teile einer Wertschöpfungskette auf verschiedene Betriebe an Standorten in vielen verschiedenen Ländern verteilt werden. In der Regel sind nur Großkonzerne dazu in der Lage. Die "globale Produktion" ist auch eine Domäne der MNCs und TNCs. Aber selbst bei ihnen ist sie eine ‑ branchenspezifische - Ausnahme, keineswegs die Regel, nicht einmal als Projekt oder langfristige Strategie dominant.
- Eine weitere wesentliche Neuheit der gegenwärtigen Phase der Globalisierung besteht darin, dass wir zum ersten Mal die Verwandlung von Dienstleistungen aller Art in Exportartikel und Welthandelswaren erleben. Für einige Arten von Dienstleistungen gibt es heute in der Tat so etwas wie Weltmärkte. Dazu gehören auch Großunternehmen, in der Regel MNCs oder TNCs, die mehr oder minder auf Dienstleistungen, z.B. finanzielle oder Beratungsdienste, spezialisiert sind und diese in vielen Ländern ‑ wenn auch in der Regel nur in den großstädtischen Zentren ‑ anbieten. Kreditkarten, die von großen, multi- und transnationalen Finanzunternehmen (in der Regel Bankkonglomeraten) weltweit angeboten werden, sind ein typisches Beispiel für eine zumindest in den Zentren der westlichen, industrialisierten Welt und an allen Knotenpunkten des Weltverkehrs nutzbare Dienstleistung, deren Gebrauchswert gerade darauf beruht, dass sie im Prinzip jederzeit und überall genutzt werden kann.
- Der heutige globale Kapitalmarkt hat nicht mehr ein einziges, hegemoniales Zentrum, das die Normen setzt und alle internationalen Geld- und Kapitalbewegungen ordnet und kontrolliert. Er ist multipolar, besteht aus drei miteinander vernetzten Zentren (die Finanzmärkte in London, New York und Tokio), zusammen mit einer Vielzahl kleinerer regionaler Finanzmärkte in allen Teilen der Welt, die mit den großen Drei, aber allesamt auch ‑ in wachsendem Maße ‑ direkt untereinander vernetzt sind. Daher die Rede von den "internationalen Finanzmärkten".
- Die so genannte "Globalisierung" der Finanzmärkte hat in den 70er Jahren begonnen und war das Resultat eines Zusammenspiels von nationalen Regierungen in einigen westlichen Ländern und nationalen Banken, die sich in verschiedenen Auslandsgeschäften stärker engagieren wollten. Das klassische Vorbild für diese harmlosen Anfänge bildete die britische Regierung, die es Anfang der 60er Jahre einigen britischen Banken ermöglichte, in London off-shore-Märkte für Eurodollars einzurichten. Andere europäische Länder folgten dem britischen Beispiel und am Ende war, ohne dass es irgend jemand gewollt oder vorausgesehen hatte, ein vollständiger, großenteils unregulierter Parallelmarkt für Dollardevisen entstanden, an dem nicht die europäischen Großbanken, sondern internationale Devisenspekulanten den Ton angaben. Nach dem Zusammenbruch und der offiziellen Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems 1974/75 waren es wiederum einige Nationalstaaten bzw. deren Regierungen, die damit begannen, ihre nationalen Finanzmärkte bzw. einige Transaktionen auf diesen Märkten zu deregulieren. Die Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen war zunächst nur eine logische Folge des Endes des Systems fester Wechselkurse. In wenigen Jahren artete sie zu einem wahren Deregulierungswettlauf aus, an dem sich eine wachsende Zahl von Ländern beteiligte. Allerdings wurde den Banken und sonstigen Finanzunternehmen, sobald sie von der neuen grenzenlosen Freiheit des Kapitalverkehrs Gebrauch machten, sehr bald klar, dass die reale Welt der Finanzmärkte nach wie vor alles andere als global ist. Daher der neue und ständig wachsende Deregulierungs- und Reregulierungsbedarf, der bis heute keineswegs ab-, sondern eher zugenommen hat. Selbst auf der Ebene der simpelsten, nicht-spekulativen Transaktionen, des reinen Geldzahlungsverkehrs nämlich, haben wir bis zum heutigen Tag nicht weniger als 29 verschiedene Clearing-Systeme weltweit. Von einer "globalen" Geldordnung kann keine Rede sein. Auch von einer Konvergenz hin zu einem globalen Kapitalmarktregime kann im Ernst keine Rede sein. Die Finanzmärkte, wie weltoffen und international vernetzt sie heute auch sind, bleiben dennoch im wesentlichen nationale Institutionen mit national, bzw. im europäischen Fall auch supranational, durch EU-Recht, geprägten Regelungen.
- Die internationalen Kapitalströme haben ihre Richtung in den letzten 25 Jahre durchaus geändert, aber die Verteilungsstruktur des international verfügbaren Surpluskapitals ebenso wie dessen Anlageformen sind überaus klar. In den siebziger Jahren, den Hochzeiten der Euro- und Petrodollars, gab es eine kurzzeitige Trendwende: Einige Jahre lang wurde Surpluskapital ‑ zum großen Teil Petrodollars, die dank der sogenannten Ölpreis-Schocks aus den OPEC Ländern zurück auf die europäischen und amerikanischen Finanzmärkte strömten ‑ aus den reichen Ländern des hochindustrialisierten Nordens bzw. Westens mit Hilfe der westlichen Banken in die so genannten Entwicklungsländer des "Südens" transferiert. Nachdem dort eine Situation der dauerhaften Überschuldung zustande gebracht war, änderte sich der Lauf der internationalen Kapitalströme während der 80er Jahre wieder deutlich: In wachsendem Maße konzentrierte sich das für Auslandsinvestitionen verfügbare Surpluskapital in den drei Großregionen der Triade (EU, SO-Asien, Nordamerika). Der Anteil der armen oder Entwicklungsländer des Südens fiel bis Ende der 80er Jahre auf praktisch Null und hat seither nur minimal wieder zugenommen. Die Masse des weltweit exportierbaren Kapitals, insbesondere der Löwenanteil an den ausländischen Direktinvestitionen (über 80 Prozent) geht heute von den reichen, hochindustrialisierten Ländern der Triade-Regionen in andere reiche, ebenso hochentwickelte Länder ‑ und zwar überwiegend innerhalb derselben Triade-Region.
- Die heutige Weltökonomie ist stärker als je zuvor eine Schulden- und Kreditökonomie. Langfristig gesehen hat eine deutliche Strukturveränderung stattgefunden: Weg von den Bankkrediten und hin zur Finanzierung über die Kapitalmärkte, obwohl die Banken sich in den vergangenen 25 Jahren ebenso kräftig "internationalisiert" haben wie die Kapitalmärkte. Da alle möglichen Arten von Schuldpapieren heute auf den internationalen Finanzmärkten gehandelt werden, findet eine internationale Verflechtung der Schuldenökonomien vieler kapitalistischer Länder statt. Nicht die zunehmend auch internationale Verschuldung der Nationalstaaten ist hier die große Neuheit, die gab und gibt es schon seit Jahrhunderten, seit der Erfindung der modernen Staatsschuld und der Etablierung der ersten überregionalen und internationalen Finanzmärkte im 17. und 18. Jahrhundert. Neu ist vielmehr die Internationalisierung der Privatschulden, insbesondere der Konsumentenkredite. Neu ist auch die Internationalisierung (keineswegs Globalisierung) der Hypothekenkredite bzw. der Immobilienspekulation. Heute ist es leicht möglich, sich von Europa aus an der Immobilienspekulation beispielsweise in New York oder Los Angeles zu beteiligen, das nötige Kleingeld vorausgesetzt. Dennoch bleiben auch diese neuen Phänomene vorerst marginal: Die große Masse der Privatschulden, der Konsumentenkredite, der Hypotheken etc. befinden sich nach wie vor innerhalb von fest umgrenzten nationalen Räumen. Das gilt selbst innerhalb von EU-Europa.
- In der heutigen Weltökonomie ist "Kapital", soweit es nicht in Form von Geld und/oder fiktivem Kapital besteht, keineswegs mobiler als früher, eher im Gegenteil: Der Anteil des fixen Kapitals hat bei so gut wie allen industriellen Investitionen deutlich zugenommen. Allerdings scheint die durchschnittliche Umschlagszeit gesunken zu sein. Von dieser Regel sind auch die reinen Dienstleistungs- und selbst die reinen Finanzunternehmen nicht ausgenommen ‑ auch diese haben nämlich fixes Kapital, und diejenigen unter ihnen, die in der Tat grenzüberschreitend, in mehreren Ländern der Erde zugleich dauerhaft operieren, haben davon absolut und relativ besonders viel, in der Regel deutlich mehr als die auf einen begrenzten nationalen Markt gerichteten Dienstleister bzw. Banken/Versicherungen.
Bei steigendem Anteil des fixen Kapitals hängt aber die Mobilität des Kapitals davon ab, wie rasch dieses fixe Kapital umschlägt, bzw. ob und wie dieser Umschlag künstlich beschleunigt werden kann. Das ist in so gut wie allen entwickelten Industrieländern der Fall: Als Beschleuniger wirken hier Steuersubventionen (insbesondere Abschreibungsregeln, die zum Großteil noch aus der Wiederaufbauphase der 50er Jahre stammen). Daraus folgt aber in einer Situation, die von dauerhaften Überkapazitäten in so gut wie allen Industriezweigen charakterisiert wird, dass grenzüberschreitende Kapitalanlagen in wachsendem Maße in der Form von Firmenaufkäufen, Übernahmen und Fusionen stattfindet. Die weitaus meisten ausländischen Direktinvestitionen hängen heute in der einen oder anderen Form mit solchen Fusionen und Übernahmen zusammen; auf diesem Markt für Kapital, nämlich Firmenkapital, spielen Aktien längst die Rolle eines Zahlungsmittels, mit dem einige Kapitalisten anderen Kapitalisten ihr Kapital abkaufen. Solche Fusionen und Übernahmen haben den einen, entscheidenden Vorteil, dass die Beteiligten (in aller Regel Großunternehmen, meistens MNCs und TNCs) sich einen langen und kostspieligen Konkurrenzkampf sparen und sofort mit dem Abbau von Überkapazitäten beginnen können. Was sich in diesen Fällen aber über die Grenzen bewegt, sind nur Gelder (in der Regel Kredite) und Eigentumstitel und das überwiegend zwecks Kapitalvernichtung, meistens an mehreren Orten zugleich.
- Ein so gut wie vergessenes Kapitel der heutigen Globalisierung ist der Wiederaufstieg der internationalen Kartelle, die in der Globalisierungsphase vor dem Ersten Weltkrieg eine überaus prominente Rolle spielten. Es gibt sie heute wieder, und zwar größer als je zuvor, aber sie passen natürlich absolut nicht ins offizielle Weltbild aller Globalisierungsenthusiasten. Hierüber wird ebenso hartnäckig geschwiegen, höchstens einmal gemunkelt, wie über einige der am stärksten globalisierten Märkte ‑ die schwarzen oder grauen Weltmärkte für Drogen, Waffen, für Menschenhandel in allen Formen, für Schwarzgeld nämlich.
- Im klaren Gegensatz zu früheren Perioden der Globalisierung spielt heute die grenzüberschreitende Migration, die Wanderungsbewegung von Arbeitskräften zwischen Ländern und Kontinenten, nur noch eine geringe Rolle. Heute spielt die Migration, obwohl sie weit globaler ist als je zuvor, nur eine Nebenrolle. Allerdings treffen die Zuwanderer aus den armen Ländern des Südens in ihrer großen Mehrzahl genau auf die Sektoren bzw. Segmente der Arbeitsmärkte ‑ im Wesentlichen die für unskilled labour ‑ in den reichen Ländern, die sich ohnehin schon, auch ohne jede Zuwanderung, in einer strukturellen Krise befinden. Im Blick auf die Emigrationsländer findet heute, anders als vor 100 Jahren, eine Kombination von brain-drain und creaming of the poor statt: Die jungen Leute, die aktivsten, die am besten ausgebildeten kommen. Daher verlieren die Länder des Südens bei dieser heutigen Form der Migration und gewinnen per Saldo die Einwanderungsländer und -regionen des Nordens.
- Schließlich: Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat im Laufe des letzten Jahrzehnts bereits zu einer partiellen De-Globalisierung der Politik geführt, was insbesondere in vielen Ländern der vormals Dritten Welt fühlbar geworden ist. Trotz ihrer peripheren Lage waren sie in den Zeiten des Ost-West-Konflikts doch Arenen der Weltpolitik. Heute sind sie ‑ politisch und ökonomisch ‑ vergessene Randzonen. Das gilt auch für einige große Regionen der vormals realsozialistischen Welt, die außer Rohstoffen nichts zu bieten haben.
3. Gewinner und Verlierer: Wie bedrohlich ist die heutige Globalisierungswelle?
Die Frage nach den Gewinnern und Verlierern der heutigen Globalisierungsprozesse ist nicht einfach und vor allem nicht immer eindeutig zu beantworten. Viele Leute sind beides zugleich und viele sind im Zeitverlauf bald das eine, bald das andere. Lohnarbeiter können zu den Globalisierungsgewinnern gehören und Unternehmer bzw. Kapitaleigentümer zu den Globalisierungsverlierern. Nach wie vor sind die eigentlichen Weltmarktsektoren (gleich ob Industrien, Dienstleistungszweige, ob im Handels-, im Transport-, im Kredit- und Bank- und Versicherungsgewerbe) relativ klein. Einige Länder, wie in Europa die Bundesrepublik (aber auch einige kleinere Länder), haben relativ große Weltmarktsektoren, die nach wie vor in die regionale bzw. nationale Ökonomie stark integriert sind. Andere wieder haben Weltmarkt- oder Exportsektoren, die stark in ihre jeweiligen Weltmärkte, aber nur schwach in ihre regionale oder nationale Ökonomie integriert sind. Daher kann man in einigen Ländern, je nach der Art ihrer weltwirtschaftlichen Verflechtung, recht genau angeben, wer die Gewinner einer bestimmten Globalisierungstendenz sind und wo man diese Gewinner finden kann. Leider treten die Gewinner und Verlierer nicht paarweise auf. Wenn wir in einigen Fällen die Gewinner kennen ‑ z.B. Yuppie-Börsianer in der Londoner City ‑, dann kennen wir nicht automatisch die dazu gehörigen Verlierer. Bei den sehr oft nur über indirekte und lange Kausalketten mit etlichen Mittelgliedern entstehenden Gewinnen und Verlusten der diversen Globalisierungen gibt es leider keine klare Symmetrie. Dieselben Leute, die die Annehmlichkeiten von Ferienreisen per Flugzeug in ferne Länder genießen, können auch unter den Folgen eines rasch wachsenden Flugverkehrs zu leiden haben. Opfer und Verlierer der Globalisierung von Finanzmärkten sind z.B. auch Leute, die keineswegs ihren Job verlieren, die möglicherweise sogar als Arbeitnehmer vom Boom in einer Weltmarktindustrie profitieren, dennoch die Folgen der grenzüberschreitenden Immobilienspekulation in ihrem Wohnviertel in Gestalt rasant steigender Mieten zu spüren bekommen. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich die Gewinner und Verlierer nicht ermitteln lassen. Aber was man bei diesem mühsamen Geschäft findet, das sind eher verschiedenartige Risikogruppen als festgefügte soziale Klassen oder statistisch abgrenzbare Schichten, Gruppen also, die man im Blick auf wahrscheinliche Chancen, im positiven wie im negativen Sinne, bestimmen muss. Nach dem Muster: welche Arbeitnehmer haben eine deutlich größere Chance, ihren heutigen Job infolge konkurrierender Importe aus Billiglohnländern zu verlieren, als andere? Nach wie vor gibt es dabei Arme und Reiche, oben und unten, nach wie vor sind diese Chancen sehr ungleich verteilt, aber die gesamte Gemengelage ist für die Sozialwissenschaftler ebenso unübersichtlich wie für die direkt Beteiligten und Betroffenen.
Man muss eine Reihe von scheinbar ganz einfachen Fragen immer wieder stellen, Fragen, die politisch hochbrisant sind, aber außerordentlich schwer eindeutig zu beantworten. Also, gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen Globalisierungsprozessen und wachsender bzw. anhaltender Massenarbeitslosigkeit in vielen Industrieländern des "Nordens"? Welchen Einfluß haben Globalisierungsprozesse auf die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in den OECD-Ländern und weltweit? Beide Phänomene sind, allen statistischen Schwierigkeiten und allen Schwierigkeiten des internationalen Vergleichs zum Trotz, im großen und ganzen unbestritten. Über die Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern seit Mitte der 70er Jahre braucht man keine Worte mehr zu machen ‑ obwohl das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung in so gut wie allen Ländern, nicht nur in Großbritannien, systematisch unterschätzt und geschönt wird. Seit Ende der 70er Jahre sind die Einkommensungleichheiten in der kapitalistischen Welt, nachdem sie einige Jahrzehnte lang zurückgingen, wieder deutlich angestiegen, dramatisch und schnell in Ländern wie den USA und Großbritannien, erheblich moderater in den meisten anderen westlichen Ländern. In einigen wenigen westlichen Ländern (Canada, Dänemark, Irland z.B.) ließ sich in den 80er Jahren kein klarer Wandel in der persönlichen Einkommensverteilung konstatieren. Der relativ neue Trend wachsender Einkommensungleichheiten in den reichen Ländern des kapitalistischen "Nordens" bzw. "Westens", der in den 80er Jahren in Gang gekommen ist, hat sich in den 90er Jahren bislang ungebrochen fortgesetzt. Da dieser Trend so gut wie überall mit stagnierenden bzw. nur außerordentlich langsam wachsenden durchschnittlichen Realeinkommen einherging, war die unvermeidliche Folge, dass die ‑ statistisch mess- und vergleichbare ‑ Armut in all diesen reichen Ländern erheblich zugenommen hat, absolut wie relativ.
Hängt diese sehr ähnliche Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländern nun mit ein und derselben Ursache, genannt "Globalisierung" zusammen? Wenn ja, wieweit sind die Ausweitung des internationalen Handels, die Zunahme der internationalen Mobilität des Kapitals, internationale Wanderungsbewegungen und die Extensivierung und Intensivierung der internationalen Konkurrenz dafür verantwortlich zu machen? Und gibt es einen ähnlichen Zusammenhang für die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung, ebenfalls ein deutlicher Trend in den 80er und 90er Jahren in allen entwickelten kapitalistischen Ländern? Kann man also in der Tat mit Fug und Recht behaupten, dass die Reichen reicher und die Armen mehr und ärmer werden wegen "der Globalisierung"?
Die Antwort ist leider nicht eindeutig zu geben. Der Zusammenhang, so weit er sich statistisch feststellen lässt, ist ironischerweise an der Spitze der Einkommenspyramide weit deutlicher und ausgeprägter als in den darunter liegenden Zonen, wo die Masse der weniger Verdienenden sich befindet. Im Blick auf die in der Tat wachsende Ungleichheit der Löhne und Gehälter, soweit diese mit den Unterschieden zwischen qualifizierter und un- bzw. wenig qualifizierten Arbeitskräften zusammen hängen, ist der Einfluss von Importen aus Billiglohnländern (wo in den wenigen Exportindustrien in der Tat vorwiegend unqualifizierte Arbeiter eingesetzt werden) in den meisten Ländern der Triade marginal. Dennoch ist und bleibt natürlich richtig, dass es un- oder niedrig qualifizierte Leute (in der Regel auch ohne Berufsausbildung, d.h. überwiegend Jugendliche) sind, die am ehesten eine Konkurrenz aus Billig-lohnländern zu fürchten haben. Wichtiger ist das schlichte Faktum, dass die zunehmenden Ungleichheiten von Löhnen und Gehältern keineswegs immer und überall eindeutig mit Qualifikationsunterschieden zusammenhängen. In etlichen europäischen Ländern haben in den 80er Jahren gerade die Lohnunterschiede zwischen den verschiedenen Qualifikationsgruppen abgenommen, während sie innerhalb der gleichen Qualifikationsgruppen deutlich zugenommen haben. Im Blick auf die oberen Ränge der Einkommenspyramide ist soviel klar: Seit Ende der 70er Jahre sind die Anteile von Dividenden und Zinsen an den Haushaltseinkommen in allen OECD-Ländern ganz erheblich gewachsen und dieser Zuwachs konzentriert sich vor allem bei den Besserverdienenden. Von 1980 bis heute sind in so gut wie allen OECD-Ländern auch die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen weit überproportional gestiegen, ebenso wie die Einkommen in den oberen und mittleren Rängen des Management. Auf längere wie auf kürzere Sicht lässt sich eindeutig eine starke positive Korrelation zwischen der Höhe des Anteils der Kapitaleinkommen am Volkseinkommen und der Ungleichheit der Einkommensverteilung feststellen. Da wird die linke Intuition durch die internationale Statistik voll bestätigt.
Schwieriger wird es allerdings, wenn man diese unbestreitbaren statistischen Fakten, die Zunahme der Kapitaleinkommen und die wachsende Einkommensungleichheit überhaupt mit Globalisierungs-prozessen in Zusammenhang zu bringen versucht, beispielsweise mit der Zunahme der grenz-überschreitenden Kapitalströme, die von vielen als Indikator für eine wachsende Mobilität des Kapitals gesehen wird. Ein solcher Zusammenhang lässt sich jedenfalls statistisch nicht nachweisen. Und in der Nachkriegsgeschichte gibt es auch Entwicklungen, die gegen einen solchen Zusammenhang sprechen: In den 50er und 60er Jahren nahmen die internationalen Kapitalströme ebenfalls zu, wenn auch nicht so rasch wie in den 80ern, während die Einkommensungleichheiten in den meisten OECD-Ländern tendenziell zurückgingen. Dagegen hat die internationale Migration einen gewissen, nicht sonderlich großen Einfluss auf die Einkommensungleichheit, aber eben nur am unteren Ende der Lohn- und Gehaltspyramide, im Segment der unqualifizierten und ungelernten Arbeiter.
Die Schlussfolgerung lautet vorläufig so: Globalisierungsprozesse und wachsende Einkommensungleichheit hängen in den reichen Ländern des entwickelten Kapitalismus mit mehr oder minder starker Weltmarktintegration nur auf sehr indirekte Weise zusammen. Etwa in dem Sinne, dass die in einigen Branchen der Weltmarktindustrien für die meisten Unternehmen tatsächliche merkbare Intensivierung der internationalen Konkurrenz die Bereitschaft fördert, den Vorbildern der ausländischen (japanischen, koreanischen und amerikanischen) Konkurrenten nachzueifern und beschleunigt zu automatisieren, zu "flexibilisieren" bzw. ähnlich wie die Japaner auf Subunternehmer zurück zu greifen usw. Das führt zu wachsender Unsicherheit der Beschäftigung, zur Aufspaltung der Belegschaften in besondere, negativ und positiv privilegierte Gruppen mit sehr unterschiedlichen Beschäftigungs- und Entlohnungsverhältnissen, kurz in erster Instanz zu wachsender Ungleichheit unter den Arbeitern in einigen Zweigen der Weltmarktindustrien. Da diese Unternehmen auch in den übrigen Industrien als Vorbilder und Speerspitzen des technologischen und organisatorischen Fortschritts betrachtet werden, werden derlei Operationen auch von den Unternehmen nachgeahmt, die unter keinem direkten Konkurrenzdruck aus dem Ausland, geschweige denn der ganzen kapitalistischen Welt stehen. So kann sich die wachsende Ungleichheit unter den Lohnarbeitern ausbreiten, auch dann, wenn die große Mehrzahl der beteiligten Unternehmen keineswegs global player sind und keinerlei Globalisierungsstrategien verfolgen. Wiederum muss man sich vor übereilten Behauptungen hüten. Partielle Deindustrialisierung und gleichzeitige Expansion des Dienstleistungssektors kann in einigen Ländern ‑ Paradebeispiel sind die USA ‑ in der Tat eine rasche Zunahme der Ungleichheit von Löhnen und Gehältern bedeuten, in anderen, vor allem europäischen Ländern dagegen nicht. Schließlich darf man die Regierungen der meisten OECD-Länder nicht vergessen, die durch ganze Serien von Eingriffen in die öffentlichen Sozialleistungssysteme ganz erheblich zur wachsenden Einkommensungleichheit beigetragen haben ‑ und zwar im Sinne einer politisch gemachten, wenn auch nicht immer gewollten, fortschreitenden Verarmung großer Gruppen von Sozialleistungsempfängern. Die Regierungen standen und stehen unter keinem direkten Konkurrenzdruck ‑ Staaten konkurrieren ohnehin nicht miteinander. Sie, ihre Beamten, die politische Klasse in ihrer Mehrzahl glauben aber, sie müssten ihren Unternehmen in der Weltmarktkonkurrenz beispringen und sie müssten den Arbeitnehmern und vor allem den Arbeitslosen in ihrem Land helfen, die sich angeblich in einer internationalen Konkurrenz mit Billiganbietern von Arbeitskraft befänden. Der Irrglaube machtÂ’s, der zwar keine Berge versetzt, aber die europäischen Wohlfahrtsstaaten ganz erheblich beschädigt hat.
4. Politik mit der Globalisierung
Mit dem Schreckgespenst der Globalisierung, mit den vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen durch die Globalisierung wird ebenso Politik gemacht wie mit den Erwartungen einer neuen, langen und diesmal weltweiten Prosperität im Zeichen des globalen Freihandels. Beide Argumentationslinien konvergieren in einem Punkt: Man, d.h. die heutige Politik, kann ohnehin nichts tun; und nichts zu tun, gar nicht zu versuchen, regulierend und steuernd in die Globalisierungsprozesse einzugreifen, ist auf längere Sicht auch das Vernünftigste, was man ‑ wiederum die heutige Politik ‑ tun kann. Die politisch wichtigste Aussage, gleichsam der Zentralmythos des Globalisierungsdiskurses, ist die Botschaft von der wachsenden Handlungsunfähigkeit und schließlichen Ohnmacht des Staates. Diesem Mythos vom machtlosen Staat gilt es in guter alter Aufklärungsmanier entgegen zu treten. Ebenso wie dem vor allem auf der Linken beliebten Kontrastmythos, "die Globalisierung" sei das Projekt, und zwar das erfolgreich ins Werk gesetzte Projekt einiger grosser Akteure ‑ sei es der Multinationalen Konzerne, sei es der "USA" bzw. des US-Kapitals.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das zu tun. Man kann erstens zeigen und nachweisen, dass die heutige Globalisierung in allen Phasen und in jeder Hinsicht - insbesondere aber auf den berühmten Finanzmärkten ‑ durch staatliche Aktionen und politische Entscheidungen zustande gebracht worden ist. Die Weltmärkte sind eine politische Schöpfung oder Erfindung und an ihrer Ausgestaltung und Regulierung wird ständig gearbeitet. Wenn das natürlich auch nach kurzer Zeit nicht mehr ausschließlich durch Nationalstaaten, sei es in bi-, sei es in multilateralen Beziehungen geschieht, sondern heute durch IGOs und INGOs.
Man kann zweitens im historischen Vergleich zeigen und im einzelnen nachweisen ‑ im Blick auf eine ganze Reihe von Indikatoren, mit denen sich staatliche "Stärke" oder "Handlungsfähigkeit" messen lässt -, dass die Nationalstaaten früher, also etwa um 1950 oder um 1970, keineswegs stärker waren als heute. In aller Regel ist das Gegenteil der Fall. Und das gilt insbesondere für den angeblich so schwachen Steuerstaat. Man kann drittens ganz in der Gegenwart bleiben und im Detail vorführen, dass gerade die großen und starken Nationalstaaten ‑ man denke z.B. an Japan, die BRD und Frankreich in den letzten Jahren ‑ auf sehr vergleichbare Herausforderungen, die sich aus dem hohen Maß der weltwirtschaftlichen Integration und der starken, im Fall Japan und BRD sogar führenden, Stellung dieser Länder in der Weltökonomie ergeben, keineswegs in der gleichen Weise reagiert haben. Es gab und gibt keine Konvergenz der nationalen Politikstile, die Unterschiede, wenn man von der heutigen Einheitsrhetorik der politischen Klassen aller Länder einmal absieht, bleiben ganz erheblich und deutlich ausgeprägt. Einige dieser Länder ‑ wiederum sind Japan und auch Korea gute Beispiele ‑ haben gerade in jüngster Zeit eine außerordentlich aktive, interventionistische Politik betrieben, die im Gegensatz zu allen gängigen, angeblich modernen Politikrezepten steht. Ihrem Erfolg auf den Weltmärkten hat das nicht geschadet. Mythen, die heute von Journalisten und vielen Sozialwissenschaftlern eifrig nacherzählt werden, soll man kritisieren, aber nicht glauben.
Viertens kann man, wiederum ganz in der Gegenwart, die Diversität der Handlungskapazität der nationalen Staaten in verschiedenen Regionen der Welt systematisch vergleichen. Dann wird man finden, dass es in der Tat einige Länder oder Nationalstaaten gibt, die erheblich schwächer oder handlungsunfähiger geworden sind bzw. die im Vergleich zu den starken Staaten nur noch dem Namen nach ein Staat sind und im Blick auf die nicht-staatlichen politischen Akteure (von den diversen Mafias bis zu den MNCs und TNCs) bestenfalls noch ihre Ohnmacht verschleiern können.
Daraus folgt aber nun einiges, was politisch wichtig ist. Es ist schlichter Unsinn, im Namen der Globalisierung das Ende der Politik und die Ohnmacht des Staates schlechthin zu verkünden. Es ist ebenso blanker Unsinn, in den Refrain aller Erzdogmatiker einzustimmen: There is no alternative. Das mag für eine Reihe von Ländern gelten, die man früher gern als Bananenrepubliken bezeichnete, es gilt sicher nicht für die Bundesrepublik. Noch weniger gilt es für EU-Europa. Die neoliberale Vorstellung von ökonomischer Globalisierung, in der die schlichte Größe des öffentlichen Sektors zum einzigen bzw. zentralen Problem erklärt und die Lösung aller Probleme ausschließlich in radikalen Schrumpfkuren für den gesamten öffentlichen Sektor gesehen wird, ist falsch, die gesamte Rezeptur schlicht unnötig. In aller Regel hat das Befolgen dieser Rezeptur nur dazu beigetragen, die bereits vorhandenen Probleme, vor allem die der Beschäftigung, aber auch die Finanzprobleme der öffentlichen Haushalte noch zu verschlimmern. Vom Standpunkt einer angeblich notwendigen "Standortkonkurrenz" ist sie schlicht widersinnig, da in dieser Konkurrenz nachweislich ganz andere Prioritäten gesetzt werden als in der neoliberalen Rezeptur. Sicher ist es schwierig, den Verführungen der fürch-terlichen Vereinfacher mit ihren schönen Weltformeln wie "der Staat ist zu groß" oder "die Steuern sind zu hoch" zu widerstehen; und nicht weniger schwierig ist es, das Umkippen ins schlichte Gegenteil zu vermeiden. Kurz und sachlich: Ohne einen starken Staat ist es noch nie in der modernen Geschichte einem Land oder einer Region gelungen, in Globalisierungsperioden eine andere Rolle als die des Opfers und puren Ausbeutungsobjekts zu spielen. Die heutige Globalisierungswelle, die in den 50er Jahren mit einer erneuten raschen Expansion des Welthandels begann, beruhte auf erfolgreichen Aktionen einiger Nationalstaaten ‑ vor allem damals der auf Kredit- und Marktexpansion gerichteten Weltwirtschaftspolitik der USA ‑ und ging problemlos mit dem gleichzeitigen Auf- und Ausbau dessen einher, was wir seither den Wohlfahrts- und Interventionsstaat nennen. Nach wie vor besteht ein seit Jahrzehnten immer wieder bestätigtes statistisches Faktum: Es gibt eine außerordentlich starke positive Korrelation zwischen dem Grad der Offenheit oder der Weltmarktintegration einer nationalen Ökonomie und der Größe des öffentlichen Sektors in demselben Land. Jede erfolgreiche Welthandels- und Exportnation hatte und hat bis heute einen großen und hochdifferenzierten öffentlichen Sektor. Den nicht zu haben, können sich nach aller Erfahrung nur Länder leisten, für die die Weltwirtschaft nur eine Nebenrolle spielt.
5. Wege, Auswege und Strategien
Die politische Debatte auf der Linken wird geradezu gelähmt durch die Erwartung des in absehbarer Zeit unweigerlich folgenden großen Kladderadatsch, der nächsten großen Weltwirtschaftskrise. Ironischerweise erwarten dieselben Leute auf der Linken, die an eine vollständige Abkopplung der internationalen Finanzbewegungen von der "realen" Ökonomie glauben, dass die nächste große Krise durch einen weltweiten Börsenkrach ausgelöst werden wird, der bei der Instabilität der heutigen internationalen Finanzmärkte fast jederzeit kommen könne.
Wenn man sich auf historische Analogien verlassen könnte, wäre die Sache recht einfach. Die Linke hätte in der Tat nur laut und deutlich und unverdrossen vor den nächsten Weltkrisen zu warnen, die unweigerlich kommen müssen, um sich dann an die Spitze der ebenso unvermeidlichen Gegenbewegung, des Globalisierungsbacklash, zu setzen. Diesen historischen Moment abwarten, der vielleicht kommt, vielleicht auch nicht, reicht wohl nicht aus. Eine große Koalition der Globalisierungsverlierer zustande zu bringen, ist auch nicht so einfach und nicht so ohne weiteres empfehlenswert. Nicht nur, weil sich diese Verlierer kaum je eindeutig bestimmen lassen. Auch die historische Analogie stimmt in diesem Fall ganz und gar nicht. Denn die alte Arbeiterbewegung war in allen europäischen Ländern ja keineswegs eine Bewegung von Verlierern der Industrialisierung, ganz im Gegenteil. Sie war in vieler Hinsicht eine Allianz von Eliten, die sich durchaus nicht als Verlierer sahen, vielfach soziale Aufsteiger waren und von denen nicht wenige den sozialen Aufstieg innerhalb der oder dank der organisierten Arbeiterbewegung erreichten. Schröders gab es viele in der europäischen sozialistischen Bewegung. Dennoch war dies eine Solidarbewegung, die eine langfristige Strategie verfolgte, eine Solidarstrategie, die in ihren Hochzeiten weit über die Grenzen der Klassensolidarität hinaus ging. In dieser Tradition versteht sich Solidarität mit den Verlierern der Globalisierung eigentlich von selbst. Aber das ist noch keine Strategie, nur ein ‑ allerdings notwendiger ‑ moralischer Ausgangspunkt.
Die wichtigste Aufgabe der Linken besteht im Moment darin, der weit verbreiteten und bewusst geschürten Angst vor der Globalisierung entgegen zu treten, einer Angst, die auch die Linke zu lähmen droht. Die Angst vor der drohenden Handlungsunfähigkeit des Staates, an der gegenwärtig viele leiden, ist nur eine Spielart davon. Denn erst angesichts der angeblichen Allmacht der internationalen Finanzmärkte erscheint ein stark verschuldeter Staat, der überdies, wie die BRD heute, zu über 25 Prozent Auslandsschulden hat und dessen Schuldpapiere zu einem noch weit höheren Prozentsatz mittlerweile interna-tional gehandelt werden, als ein schwacher Staat. Dieser Angst programmatisch begegnen, heißt soviel wie eine linke Utopie entwerfen gegen die gegenwärtig vorherrschende schwarze Utopie des entfesselten globalen Marktes, wie sie die Neoliberalen verkünden. Wenn man weiß, dass es "die Globalisierung" nicht gibt, sondern dass wir es mit einer Vielzahl von Globali-sierungstendenzen zu tun haben, die sich in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich bemerkbar machen und auf die verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Globalisierungsstrategien reagieren, folgt daraus, dass die der Sache angemessene programmatische Antwort einigermaßen komplex sein wird. Die eine Gegenstrategie gibt es nicht. Im Unterschied zur Einfalt des neoliberalen Weltbilds hat eine Linke, die sich ein einigermaßen realistisches Bild von den ablaufenden Globalisierungsprozessen macht, eine ganze Reihe von Alternativen vor sich. Es kommt darauf an, diese Alternativen zusammen zu bringen und es kommt auch darauf an, sich zwischen manchen dieser Alternativen zu entscheiden.
Es gibt heute wieder einen sogar weitreichenden Konsensus darüber, dass ein Minimum an Regulierung und Steuerung der Weltwirtschaft notwendig ist. Der Krisenängste wegen, die die Asien-Krise von 1997-98 samt ihren Fortsetzungen in Rußland und Brasilien hervorrief, gab es sogar eine kurzlebige Bereitschaft, über eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte zumindest nachzudenken. Über die Formen, die ein neues "Bretton-Woods", eine neue Weltwährungsordnung, die gleichzeitig eine neue Ordnung der internationalen Geld- und Devisenmärkte wäre, annehmen müsste, wird mittlerweile selbst in den "höchsten Kreisen" laut nachgedacht. Initiativen, Konzepte, Vorschläge für eine neue Weltwirtschaftsordnung gibt es mittlerweile reichlich, ebenso wie allein in Europa einige Dutzend Organisationen (Attac, Gruppe von Lissabon, Gruppe von Kopenhagen, Weltforum der Alternativen usw. usf.), die diese Konzepte propagieren. Keiner dieser Vorschläge geht in die Richtung einer Abkopplung von oder Abschottung gegen die Weltwirtschaft oder den Weltverkehr. Derartige panische, von Angst bestimmte Reaktionen gibt es im Moment - und zwar auf der Rechten, in Europa wie in Nordamerika (auch in einigen asiatischen Ländern). Die Renationalisierung der Politik betreiben gelegentlich selbst Parteien und Gruppen der respektablen, bürgerlichen und keineswegs antidemokratischen "Mitte". In der Regel richtet sie sich gegen die momentan schwächste und am wenigsten bedrohliche Globalisierungstendenz, gegen die Migrationsbewegung aus den armen in die reichen Länder. Attacken gegen "ausländische" Waren und "ausländisches" Kapital bleiben im Moment noch der äußersten Rechten vorbehalten (insbesondere in den USA). Linke Strategien erfordern im Vergleich dazu einen erheblich größeren Begründungsaufwand. Sie haben, so weit ich sehe, einen gemeinsamen Nenner, der "Reregulierung", Ordnung, Kontrolle, Einbindung der diversen Globalisierungstendenzen in instutionalisierte, demokratisch legitimierbare und kontrollierbare Formen, die ‑ faute de mieux ‑ im Moment und auf absehbare Zeit von staatlichen-nationalen und/oder supra- oder transnationalen Autoritäten getragen und durchgesetzt werden müssen. Damit gerät man aber unweigerlich immer wieder in das Dilemma des "linken Protektionismus". Ein Einwanderungsgesetz und eine einheitliche Einwanderungspolitik für die gesamte EU bedeutet z.B. gleichzeitig Öffnung und Schließung des EU-Arbeitsmarkts. Viele werden abgewiesen, einige werden zugelassen. Eine EU-Handelspolitik, die auf soziale und Umweltstandards setzt, bedeutet unweigerlich eine Schließung des EU-Marktes für Importe aus vielen Ländern, darunter vielen Schwellenländern. Eine EU-weite Regulierung des Kapitalverkehrs bedeutet die Schließung zahlreicher off-shore Märkte innerhalb der EU selbst, was die Liechtensteiner, die Luxemburger, die Bewohner der britischen Kanalinseln und noch einige mehr nicht freuen wird. Eine EU-weite Regulierung von Börsengeschäften bedeutet zum Beispiel, dass die Kompetenzen der europäischen Zentralbank erweitert werden müssen, dass eine neue EU-Börsenaufsicht geschaffen werden muss, es bedeutet auch, dass einige amerikanische und japanische Finanzdienstleistungsunternehmen (vor allem die so genannten rating agenzien) mit eigenen europäischen oder EU-Einrichtungen (de facto öffentlichen Unternehmen) konkurrieren müssen. Die EU-Europäer können sich das leisten, aber die Folge wird unweigerlich eine wachsende Ungleichheit zwischen den ökonomischen und politischen Großregionen der Welt sein. Die EU-Europäer könnten das sogar glaubwürdig betreiben, vorausgesetzt dass sie einige völlig überholte und ökonomisch wie politisch unsinnige Formen des Protektionismus gleichzeitig aufgeben würden, insbesondere den skurrilen Agrarprotektionismus der CAP, der den Handelsbeziehungen zu unseren Nachbarländern im Süden, in Afrika wie im Nahen Osten ganz erheblich schadet.
Da es auf absehbare Zeit keine Weltregierung geben kann und geben wird, einigen sich die meisten Analytiker auf das einigermaßen vage Konzept der "global governance" (gemeint ist etwa: eine weltweite Steuerung ökonomischer Prozesse, die nicht auf staatliche Autoritäten allein beruhen soll und kann). Kann und sollte die europäische Linke versuchen, die Rolle der Opposition im System der global governance zu spielen? Nun, zum Teil tut sie es schon. Nicht wenige der schon genannten INGOs sind von ihrer Zielsetzung und Wertorientierung her durchaus "links", nicht nur der Internationale Gewerkschaftsbund, und sie mischen bereits heute kräftig mit in der Weltpolitik. Die EU ist heute eine der stärksten IGOs, und die Linke ist in den Institutionen der EU durchaus nicht ohne Einfluss. Alle Erfahrung der internationalen Politik der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, dass sich nationale Regierungen die moralische Unterstützung durch einige INGOs gern gefallen lassen, dass andererseits INGOs dann am erfolgreichsten operierten, wenn sie zumindest einige Nationalstaaten bzw. deren Regierungen hinter sich hatten. Für die europäische Linke ist die EU die bei weitem wichtigste Ebene, auf der über die Regulierung und mögliche Steuerung der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse entschieden wird. National und patriotisch ist die Linke lange genug gewesen. Es ist an der Zeit, dass sie europäisch wird.
aus: Z, Heft 52, Dez 2002, 13. Jhrg