Die Frage nach Schutz oder Zerstörung der Vernunft findet einen exemplarischen Ausdruck im Menschenrechtsdiskurs und zugleich in der kulturellen Krise, in die er geraten ist.
Seit den neunziger Jahren hat das Wort Pluralität einen Aufforderungscharakter bekommen, den es längst verloren hatte. Die "Vernunft im Plural" ist nicht mehr ohne weiteres mit Relativismus und Beliebigkeit zu verwechseln. Sie ist nicht die irreduzierbare Störung, der zu reparierende Fehler, das peinliche Stigma der Vernunft, sondern die wesentliche Grundbedingung des Zusammenlebens. Die Frage nach ihrem Schutz oder ihrer Zerstörung findet einen exemplarischen Ausdruck im Menschenrechtsdiskurs und zugleich in der kulturellen Krise, in die er geraten ist. Die Behauptung, der universale Anspruch der Menschenrechte sei ein im humanen Mantel verkleideter Kulturimperialismus der westlichen Welt, muß sich mit dem Einwand auseinandersetzen, daß die Formulierung der Menschenrechte Ausdruck des Entsetzens über die Vernichtungsmöglichkeiten moderner Staatssysteme und ihrer Anhänger und Komplizen gewesen ist. In letzterem Sinne ist die Menschenrechtserklärung von 1948 weniger ein Ausdruck des Dominanzanspruchs der europäischen Zivilisation als eine Warnung an die Welt, die erfahrene, geduldete, verübte Katastrophe des deutschen Nationalsozialismus nicht zu wiederholen, 1 auch nicht nur zu nationalisieren - Reaktion auf den Genozid, ein Innehalten, eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der Individuen gegenüber verbrecherischen Staaten, ein Brescheschlagen hinein in den Gehorsam, auf den sie trauen.
Nun ist die Würde der Menschen, auf der die Menschenrechte bestehen, keine natürliche Mitgift. Diese Würde wurde vielmehr in einem historischen Augenblick behauptet und bekräftigt, in dem sich gezeigt hatte, daß so etwas wie Würde gerade nicht mit natürlichen Ausstattungen begründet und nicht wie eine Eigenschaft diagnostiziert werden kann. Und ebenso wie die Würde des Menschen ist auch der Dialog kein Besitz. Der Dialog setzt sich den spontanen menschlichen Neigungen mehr entgegen, als daß er sie widerspiegelt. Die "natürlichen" Neigungen sind ausschließend, sie reservieren die Sorge für die Nahestehenden, ein kleines Wir, die sogenannten Anderen bleiben gleichgültig, oft verdächtig, verkannt oder bedrohlich. Die Menschenrechte wie der Dialog sind der systematische Versuch, diesen exklusivem natürlichen Neigungen entgegenzuwirken. Ebenso wie wir die Menschenrechte nur herleiten können aus dem geschichtlichen Wissen um das, was geschehen kann, wenn Menschen keinerlei Schutz mehr voreinander finden, sondern "losgelassen " und zu "nichts-als-Menschen" geworden sind, kann sich der Dialog auf mitgegebene Fähigkeiten verlassen. Menschenrechte wie Dialog sind politische Entscheidungen. Im Dialog entscheiden Menschen sich zum Offenlegen eigener Sichten und zur Anerkennung anderer, eine Entscheidung, die sich aus der Erinnerung an den Verlust und die Erfahrung der Abwesenheit solcher Güter speist. Der Dialog ist ebenso wie die Menschenrechte notwendig, nicht weil die Menschen heilig, gut und würdig sind, sondern weil sie vor Gewalt und Verkennung geschützt werden müssen.
Vom Dialog ist viel die Rede, und daß er dennoch brachliegt, ist den wenigsten bewußt. Meist redet jeder für sich oder für das Publikum, redet, um zu reden, um andere zum Schweigen zu bringen, um eigene Absichten zu verbergen, weiß schon vorher, worauf er hinauswill, verharrt auf seinem Ausgangspunkt. "Zwei Monologe ergeben keinen Dialog". 2 Wenn aber Pluralität zu einem Schlüsselbegriff des politischen Denkens wird, dann müßte das Konsequenzen haben für die Bedeutung eines dialogischen Denkens, das ans Sprechen Ansprüche stellt. Diese haben mit den üblichen kommunikativen Gleit- und Kampfmitteln wenig zu tun. Der Dialog liegt jenseits des "Geredes", dient auch nicht allein der Übermittlung von Information. Es handelt sich um eine politische Haltung, die ernst macht mit der Zurückweisung totalisierenden Deutens, kategorisierenden Denkens, egozentrischer Sichten, auch einer Nahraum-Empathie und exklusiven Ethik, die gegenüber den Anderen borniert bleibt. Der Dialog ist das Medium, das der Differenz, der Freiheit der Anderen Raum geben und deren Anerkennung praktizieren will. Die Dialogidee geht von der prinzipiellen Nicht-Assimilierbarkeit des Gegenübers aus, vom Gewicht des Anderen, das seine Ausschließung nicht zuläßt, 3 durch nichts aus dem Weg zu räumen ist und jeder vorher bestimmbaren Bewegungsrichtung im Weg steht 4. Die herrschenden Zuschreibungen, Definierungs- und Feststellungsversuche werden so selbst zum Mittel der Gewalt. Der dialogische Charakter der menschlichen Existenz, von dem dieses Denken ausgeht, läßt die Möglichkeit offen, daß wir Situationen überschreiten und aus dem, wozu wir gemacht worden sind, etwas machen können - im Gespräch zwischen Menschen, das auch das dialogische Bewußtsein in Menschen braucht.
Weil Gewalt schnell zum Sieg führt, spricht die Gewalt dem Optimismus des Dialogs Hohn. Die Kontroverse Gewalt contra Dialog geht heute zugunsten der Gewalt aus. Die Evidenz ist auf seiten des Krieges 5. So lesen sich in gegenwärtigen Analysen zur Weltlage als Kriegszustand Sätze wie: "Gewalt ist effektiver als Dialog" 6, "Nächstenliebe verlangt Gewalt" 7, "Gewalt lohnt sich"; "Gewalt beginnt, wo der Konsens aufhört" 8, - wo es ernst wird, hört der Dialog auf. Mit solchen Feststellungen wird der Dialog zur Kosmetik oder zum Symptom der Verlierer. Aber auch mit der Konjunktur des Wortes Dialog wiederholen sich die Enttäuschungen. Wer erwartet, der Dialog müsse als Friedenstaube daherkommen, sieht sich genötigt, wenigstens den Schein des Friedens zwischen harthörigen Gegnern zu wahren, fängt also an, sich zu unterwerfen und so zu tun, als ob alles Gute beim Anderen zu suchen und zu finden sei. So treiben manche Gut- und Christenmenschen mitunter ein naives oder verlogenes Spiel. Sie setzen sich dem Verdacht aus, an eigenen Grundsätzen Verrat zu begehen oder keine zu haben, zumindest keine eigene Position zu beziehen aus Angst, im interkulturellen und -religiösen Streit zum Beispiel in die Dominanzvorwürfe gegenüber der westlichen Welt verwickelt, an die christliche Kreuzzuggeschichte erinnert zu werden etc. 9 Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime hat der französische Philosoph Pascal Bruckner das Problem auf die Formel von der "demokratischen Melancholie" gebracht: Seit alle die Demokratie haben, fange sie an, uns zu langweilen, der ewige Dialog fördere eher Lustlosigkeit als Neugier, er werde zur Zumutung. Man sei gezwungen, die eigenen Überzeugungen abstumpfen lassen, ihnen den Biß und die Flügel zu rauben, so wie man Tieren die Klauen und Zähne abfeilt, um sie unschädlich zu machen. "Wir sind versucht, die anderen abzuschreiben, wir ertragen ihre Gegenwart, doch haben wir nichts von ihnen zu lernen ... Die Frage ist nicht mehr, wie man zusammenlebt, sondern wie man sich toleriert". 10 Wenn darin das Demokratie- und Dialogresumé liegen soll, dann handelt es sich allerdings um Blüten von Mißverständnissen. Der Dialog ist Ausdruck des Interesses an Anderen, kein Instrument, das Nicht-Tolerierbare zu tolerieren, er verpflichtet sich nicht, allem und jedem Raum und Gehör zu verschaffen und die eigenen Überzeugungen zugunsten einer kommunikativen Beruhigungs- und Ausgleichsleistung zum Verschwinden zu bringen. Die Unterwerfungsgesten diskreditieren den dialogischen Grundgedanken, denn Unterwerfung bringt weder die eine noch die andere Seite zum Sprechen. Dialog ist keine Friedensregel, kein Konsensinstrument, keine Problemlösungstechnik und Konfliktstrategie, überhaupt kein Mittel zum Zweck, wie die Gewalt eines ist. 11
Um die Bedeutung des Dialogischen zu verstehen, kann man sich zunächst auf dem Umweg über dessen Kehrseite annähern: die Gewalt. Hannah Arendt schlug eine Gewaltdefinition vor, 12 die sich vom gängigen, am Strafrecht orientierten Sprachgebrauch unterscheidet, nach dem Gewalt "die zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen" meint 13. In dieser Begriffsbestimmung liegt das Kriterium der Gewalt in ihrem nachweisbaren Schaden für ein Opfer. Arendt setzt einen anderen Schwerpunkt, der sich aus ihrer Bestimmung der eigentlich "menschlichen" und im weiteren Sinne politischen Möglichkeiten ergibt, dem Sprechen und Handeln zwischen Menschen. Im Fall der Gewalt ist das Sprechen gegenstands- und bedeutungslos, und wenn Worte fallen, werden sie selbst zur Waffe. Gewalt ist an Verständigung, eigene Sprache und Sprache der Anderen nicht gebunden und von der Übereinkunft mit Anderen nicht abhängig. Gewalt kann einer gegen viele ausüben, egal wen, auch gegen viele, die widersprechen und sich widersetzen, sofern dieser eine im Besitz geeigneter Gewaltmittel ist. Mit einem Maschinengewehr kann ein einzelner hunderte von Menschen in Schach halten. Gewalt basiert nicht auf Zustimmung, sie verhandelt nicht, sie nimmt keine Rücksicht auf die Fähigkeit von Menschen, sprechen und denken zu können. Das Sprechen nützt gegen die Gewalt nichts, es bleibt folgenlos. Gewalt ist stumm.
Diese Kennzeichnung der Gewalt gibt dem Sprechen und Handeln unter Menschen ihren zentralen Wert zurück. Sie schafft Zugänge zum Sinn des Politischen und rettet einen Politikbegriff, der der Pluralität Ausdruck gibt und einen dialogischen Bezug zur Welt verlangt. Dieser manifestiert sich in einem Sprechen, das kein Befehlen ist und einem Hören, das kein Gehorchen ist. 14 Das Andere der Gewalt ist nicht einfach die Gewaltlosigkeit, sondern die Freiheit, die der Verständigung unter Menschen vorausgesetzt ist. Damit wird der Dialog allerdings nicht zum schadensfreien Raum. Auch Dialoge können Schäden anrichten, denn Menschen können nie genau vorhersehen, was aus der Freiheit folgt, die sie sich nehmen. Die Folgen sind prinzipiell unvorhersehbar, Schäden nicht vermeidbar. Das Unterscheidungskriterium zwischen Gewalt und Dialog ist in dieser Sicht also nicht in erster Linie der angerichtete Schaden, sondern der Grad zwischenmenschlicher Freiheit, die zweideutigste aller menschlichen Gaben. 15 Denn sie gerät immer auch an den Abgrund der Freiheit 16, der sich auftut, sobald wir von ihr Gebrauch machen. Pluralität wahrzunehmen braucht ein Anfreunden mit der Welt, das um die Schäden weiß, die wir anrichten können und verantworten müssen, um auch künftig noch mit den Anderen existieren zu können.
Das dialogische Prinzip, das in diesem Denken enthalten ist, verweist auf eine lange und gebrochene Geschichte - einen fast verlorenen Bestandteil der abendländischen Kultur, ein unterbrochenes Erbe. Karl Jaspers beschrieb es emphatisch als ein erregendes, beunruhigendes, bezwingendes Gespräch. Sein Protagonist, Sokrates, der, um klar zu werden, die Menschen brauchte und überzeugt war, daß sie ihn brauchten, wollte "die Arbeit des Suchens in Gang bringen: die Schwierigkeit im scheinbar Selbstverständlichen entdecken, in Verwirrung bringen, zum Denken zwingen, das Suchen lehren, immer wieder fragen und der Antwort nicht ausweichen ... Dieses Denken ist verantwortlich dafür, in sich selbst das Andere zu hören ... Es ist ein Denken, das dem Menschen nicht gestattet, sich zu verschließen ... Dieses Denken schließt auf und fördert die Gefahr in der Offenheit". 17
Es ist der Glaube an die eine Weltanschauung, die eine Wahrheit, den einen Fortschritt, der die Axt an den Dialog legt. Die europäische Aufklärung hatte, solange sie noch auf der Suche war, alle Hoffnung auf den freien Dialog gesetzt. Die utopische Urszene, die sie in sich trägt, geriet allerdings in Gefahr, sich in ein erkenntnistheoretisches Friedensidyll, eine schöne und akademische Vision 18 zu verwandeln. Der Dialog sollte durch die Kraft des vernünftigen Arguments den freiwilligen Konsens herbeiführen und so zu den alle Beteiligten überzeugenden besseren Lösungen führen. Dabei bekamen die Aufklärer es mit dem hartgesottenen Bewußtsein der dialogunwilligen Gegner zu tun. Und unter der Konsenserwartung wurden alle Abweichungen als Verschanzung hinter antiquierten Vorurteilen und verdüstertem Denken gedeutet, das sich gegen die Verallgemeinerbarkeit des Vernünftigen sperrt. Die enttäuschte Hoffnung jedenfalls auf den zwanglosen Beitritt zum gemeinsamen Tisch und überzeugenden Argument und auf die gute Ernte deformierte den Dialog zum taktischen Mittel, zur Strategie des Fortschritts, zum Bewußtseinskrieg, der nicht nur Erkenntnisgewinner, sondern Gewinner und Verlierer in einer erbarmungslosen Vernichtungskonkurrenz hervorbrachte. Der so gescheiterte Dialog schien den Antirealismus der Dialogidee zu bestätigen und neue Gewalt zu rechtfertigen. 19
Wenn man Gewalt am Maßstab der Stummheit mißt, dann geht es in der Gewaltkritik nicht nur darum, überhaupt Schäden zu vermeiden, sondern darum, anders sprechen zu lernen. Und wenn Arendt sagt, daß "das wahrhaft menschliche Gespräch ... von der Freude an dem anderen und dem, was er sagt, ganz durchdrungen ist", 20 dann handelt es sich nicht um die sentimentale Verherrlichung zwischenmenschlicher Glanzleistungen, sondern um Erfahrungen, die zum Exempel der Menschlichkeit wurden, gesammelt in den nicht seltenen finsteren Zeiten und von Menschen, die sich in der Welt bewegten und von der geschichtlichen Zeit berührt waren. Die Erfahrungen der Freiheit des Dialogs sind wie ein "unsicheres, flackerndes und oft schwaches Licht", nicht selbstverständlich und nicht alltäglich wiederholbar - man kann sie nicht verordnen und von sich und anderen nicht dauernd und ununterbrochen erwarten. Dennoch oder gerade deswegen bleibt der Dialog eine Möglichkeit, in der aufscheint, worin das eigentlich Menschliche der Menschen liegt.
Das dialogische Prinzip behauptet, daß das Individuum unterscheidbar von allen anderen ist 21 und die Stimme jedes Menschen etwas Unverwechselbares mitzuteilen hat 22, daß wir außerdem mit einem erweiterten Denken unseren beengten Horizont und den Kontext unserer Biographie und Kultur transzendieren und andere Sichten nachvollziehen können. Der Dialog verlangt dabei die eigene Positionierung, einen Boden, auf dem man sich vorläufig bewegt. Man kann nicht mit nichts einsteigen. Er braucht das Wagnis, sich als Träger von Meinungen zum Vorschein zu bringen und den Mut, die Person mitsprechen zu lassen. 23 Menschen werden identifizierbar, verlassen die Anonymität, geben Aufschluß über sich. Der Dialog ist angewiesen auf einen pluralen Stoff, 24 der sich erst ergibt, wenn unterschiedliche Perspektiven aktiv zum Ausdruck gebracht werden: ein Sprechen, das der Verschiedenheit entspricht und ein Hören, das nicht angleicht, sondern differenziert 25. Das Sprechen "realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden", 26 einer Umgebung, in der die Verschiedenen in gleicher Weise auf gegenseitige Erfahrung, Verständigung und Aufnahmeräume angewiesen sind.
Die Bedeutung des Sprechens ergibt sich aus der Tatsache, daß wir erst mit dem Anerkanntwerden durch Andere, ebenso mit der Anerkennung Anderer zu Menschen werden, daß das Verkanntwerden durch Andere ebenso wie die Verkennung Anderer am Menschsein hindert. 27 Es gibt keine andere Daseinsform als diese. 28 Identität kann nicht solistisch und monologisch erzeugt werden, sondern nur im Austausch mit und der Beherbergung von relevanten oder generalisierten Anderen. Erst über diese konkreten oder imaginierten Gefährten, die vorstellbar, präsent und ansprechbar sind, über angemessene Worte und Handlungen, die Antwort geben, können die lebenswichtigen Güter des Selbstvertrauens und der "Sorge um die Welt" entstehen, außerdem der innere Dialog, genannt Denken, moralisch gewendet auch Gewissen: die Fähigkeit, vom Gesichtspunkt Anderer her zu sehen und so eigenes Handeln zu beurteilen und in Frage zu stellen. Die äußere und die innere Bevölkerung eines Menschen, die über die Mehrdimensionalität der Person entscheidet, kann im Abenteuer des Zusammenlebens vielleicht zur Chance persönlichen Glücks werden, vor allem aber zur politischen Urteilsfähigkeit, einem Bewußtsein, das mit der knappen Ressource Anerkennung sorgsam umgeht und um das beschädigte Leben weiß, das verweigerte Anerkennung anrichtet.
Kämpfe um Anerkennung dramatisieren dauerhaft das Leben derjenigen, die durch gemeinsame Gewalterfahrungen zusammengebracht sind. Dabei kann der verweigerte Dialog schwerwiegender wirken als das physische Verletztwerden, das Nicht-Angesprochenwerden schmerzhafter als die Erniedrigung. 29 Die Geschichte führt vor, welche Folgen die nicht erwiderte Forderung nach Anerkennung hat. Eine dieser Folgen zeigt sich im Pochen auf der besonderen Eigenart, der Einzigartigkeit und Ausschließlichkeit des eigenen Leidens. "Eigenart" erscheint nur noch im singulären, unvergleichlichen Opferstatus zusammenfaßbar. Das Insistieren auf der Einzigartigkeit des Leidens begründet rivalisierende Anerkennungsansprüche und Grabenkämpfe, in denen Opfer verschiedenen Ranges konstruiert und die Verbrechen an Anderen verharmlost und neutralisiert werden. Die gesellschaftliche Verkennung fördert ein Identitätsbedürfnis, das den Status des privilegierten Opfers aufsucht, ein Status, der wiederum die Stummheit der Gewalt spiegelt, sofern er nicht berücksichtigen kann, daß es noch andere Opfer gibt.
In der Frage der Anerkennung dokumentiert sich die Gegenwart der Vergangenheit - Helden und Opfer, Konstrukte und Wahrheiten, frühere und heutige Opfer, hiesige und weltweite Opfer, Opfer außergewöhnlicher Ereignisse und Opfer normaler Unterdrückung, Sexismus- und Heterosexismus-Opfer, Opfer der Vertreibungen, Opfer von Genoziden und Ethnoziden, politische und "rassische" Opfer, Opfer durch eigene Handlungen und Opfer ganz ohne Handlungen, prominente und stille Opfer und diese alle wiederum in ihrem Verhältnis untereinander - verschiedenste Opfer, deren Streben nach Anerkennung scheiterte. 30 Und im Beiseiteschieben einer Realität, die nicht als bewahrenswert gilt, im Herunterspielen der Erinnerung, in der Nötigung zur Verschleierung oder zur Normalisierung sind die Grenzen zwischen Opfern und Tätern nicht immer trennscharf zu ziehen.
Gewalt verletzt den Anspruch auf eine dialogische Existenz überhaupt, diese höchst verletzliche menschliche Grundqualität, die sich im Anspruch auf Anwesenheit und auf Verständigung ausdrückt. Diese Möglichkeit wird mit jedem Akt der Gewalt verweigert oder verworfen. Die Täter zerschlagen sie bei sich selbst wie beim Gegenüber. Sie benehmen sich so, als seien sie ein Ding - der Stein, das Messer, die Bombe -, das sich nicht verständigen kann und verständigen muß, weil es kein Mensch ist. Die Gewalttat macht die Opfer zum Ding, und Täter mutieren selbst zum Ding, indem sie die Instrumente auf ihren Weg bringen. "Die Bombe sind wir", hieß es in den achtziger Jahren, sie ist nicht außerhalb der Menschen, sondern verkörpert sie.
Gewalt definiert sich nicht nur über die einzelnen Gewalttaten und -täter, sondern ebenso über ihren Kontext, ihre Unterstützung und Duldung. Die Komplizenschaft im Gewaltensemble bedeutet nicht nur Zugehörigkeit zum Ensemble der Schadensanrichter, sondern zum Ensemble der Dialogzerstörer. Duldung von Gewalt ist gleichbedeutend mit der Stärkung eines monologischen Prinzips, das die Verweigerung der Anerkennung in die Eingeweide der Gesellschaft einsickern läßt. Die Komplizen sind eingebunden in die Stummheit, indem sie ihren Beitrag zur Löschung der Anderen leisten. Gewalt braucht den abgeschotteten Bewußtseinsraum, und bereits mit dieser Schließung des Bewußtseins wird Gewalt zum Akt des Überflüssigmachens, einer Form der Vernichtung dessen, was Menschen zu Menschen macht. Gewalt ist die Attacke gegen ein zerbrechliches Gut, das mit dem Wort Dialog die Bereitschaft bezeichnet, die Welt mit den Anderen zu teilen. 31
Die Komplizenschaft im Gewaltensemble zeigt sich in einer Stummheit, die sich wie eine Epidemie addierter Monologe ausbreitet. Deren Niederschläge sind zum Beispiel in fast gleichlautenden Aussagen normaler Männer und Frauen NS-Deutschlands gesammelt, die die Ereignisse auch noch nach mehr als 50 Jahren so erinnern, als gäbe es nur ihre Sicht, die Sicht nicht-verfolgter Deutscher mit ihrer "glücklichen Kindheit", von der sie gern erzählen. Das Andere ihrer Erfahrung bleibt abwesend, irrelevant, amputiert, auch in der Retrospektive. Gesprochen wird aus einer Perspektive, bedürfnislos gegenüber der anderen. Die Gewalt ist nicht nur bei denen, die das gefährliche Werkzeug in der Hand haben, sondern auch bei denen, die den Verschluß des Bewußtseins vor dem Eintritt der anderen Erfahrung zum stillschweigenden Konsens machen. Mit der Stummheit der Gewalt wird den Anderen ihre Entbehrlichkeit dokumentiert. Sie wirkt so auf allen Seiten fort und bringt auch die inneren Gefährten zum Verstummen.
Die Erfahrung verletzter Integrität ist, weil sie eine Erfahrung der Gewalt ist, in der Gefahr, mit erneuten Verstummungen Gewalt fortzusetzen. Sie zeigt ihre Virulenz in der Masse historischer Traumata durch Schuld und Leid und den in ihnen festgeschriebenen Singularitätsannahmen - im Moment zum Beispiel im Verhältnis eines Großteils der deutschen Öffentlichkeit zur Politik Israels. Die schnelle Gleichsetzung politischer Israelkritik mit dem Antisemitismus wird zur ritualisierten Formel. Sie spricht nicht mehr und raubt vielen die Sprache. Sie ist stumm und macht stumm. Sie ist stumm, weil sie auf den Antisemitismus wie auf ein Versatzstück zurückgreift. Und sie macht stumm, weil auf deutscher Seite das schlechte Gewissen - Erbe ausgeübter Gewalt - jedem antisemitischen Verdacht zuvorkommen will. Mit solchen Varianten der stummen Gewalt verlieren sich auch die Sprachen der Macht. Das sogenannte Andere wird allenfalls noch zum Objekt des eigenen Bewußtseins, aber nicht zum anderen Bewußtsein. Um dem Dialog und dialogischen Denken auf den Weg zu helfen, kommen wir weder um die notwendige Positionierung herum noch um das Faktum, daß jede Nicht-Anerkennung hartnäckig und langfristig in der Welt bleibt. Das Dilemma liegt darin, daß einerseits der Dialog die wesentlichste Praxis der Anerkennung ist, andrerseits das Nicht-Anerkanntsein die schlechteste Voraussetzung für den Dialog - eine beunruhigende Konsequenz.
Die Stummheit der Gewalt und die Entleerung des Dialogs geht das ganze Opfer-Täter-Spektrum samt ihren Nachkommen an. Das dialogische Prinzip braucht die Verabschiedung von den herrschenden Diskursen, die den Opfern bestenfalls die gelegentliche ritualisierte Anteilnahme für das Erlittene zugestehen, ohne zu realisieren, daß wirkliche Wertschätzung erst mit dem Tun beginnt 32, dem Versuch, die Dinge so zu benennen, wie sie waren und sind. Der Dialog braucht auch die konsequente Verabschiedung von jenen Opferidentitäten, mit denen die Verwehrung der Anerkennung Anderer legitimiert werden kann. "Die Tatsache, daß es viele Menschen gibt, die dem Schmerz anderer gleichgültig gegenüberstehen, beweist nicht, daß sie kein Gewissen haben, sondern nur, daß dieses Gewissen frei ist" 33: Die eigene Entscheidung kann Weichenstellungen vornehmen. Diese brauchen den Stolz, die Opfererfahrung nicht zum Identitätsmerkmal zu machen und so die Langzeitwirkung der Gewalt nicht zuzulassen.
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Christina Thürmer-Rohr - Jg. 1936; Prof. Dr. phil., Dipl.psych.; Studium der Philosophie und Psychologie. Seit 1972 ordentliche Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaften der TU Berlin. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Frauenarbeit, Frauenbewegungen, Menschenrechte, Dialog. Wichtige Veröffentlichungen: Die globalisierte Frau (1998), Anfreundung mit der Welt - Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips, in: H. Kahlert/ C. Lenz (Hg.): Die Neubestimmung des Politischen - Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt (2001).
1 Vgl. Michael Ignatieff: Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002, S. 86.
2 Norberto Bobbio: Vom Alter - De senectute, Berlin 1997, S. 15 ff.
3 Vgl. Christina Thürmer- Rohr: Neugier und Askese - Vom Siechtum des dialogischen Prinzips, in: Greven, T./Jarasch, O. (Hrsg.), Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen, Frankfurt/M. 1999, S. 61.
4 Vgl. Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, S. 240.
5 Vgl. Manfred Deselaers: "Und Sie hatten nie Gewissensbisse? " Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, Leipzig 2001, S. 304.
6 Mark Terkessidis: Kriegszustände, in: tageszeitung vom 24. September 2001.
7 Gemeinsamer Aufruf amerikanischer Intellektueller zum ›gerechten Krieg‹, in: Tagesspiegel vom 12. Februar 2002.
8 Interview mit Richard Rorty, in: tageszeitung vom 18. Dezember 2001.
9 Vgl. Der verlogene Dialog, in: Der Spiegel, Nr. 51/2001, S. 44-56.
10 Pascal Bruckner: Die demokratische Melancholie, Hamburg 1991, S. 170.
11 Vgl. Hannah Arendt: Was ist Politik? Aus dem Nachlaß, München 1993, S. 126.
12 Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1970.
13 Hans Dieter Schwind et al.: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Berlin 1990.
14 Vgl. Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing - Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 41 und 48.
15 Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 229.
16 Vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes 2: Das Wollen, München 1989, S. 197.
17 Karl Jaspers: Die maßgebenden Menschen - Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus, München 1975, S. 10; vgl. auch ebenda, S. 30 ff.
18 Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 44 ff.
19 Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1974.
20 Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing..., a. a. O., S. 31.
21 Vgl. Hannah Arendt: Vita ActivaÂ…, a. a. O., S. 164 ff.
22 Vgl. Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1997, S. 20.
23 Vgl. Hannah Arendt: Vita ActivaÂ…, a. a. O., S. 168.
24 Vgl. Christina Thürmer- Rohr: "Jede Sache hat so viele Seiten, als Menschen an ihr beteiligt sind" - Zur Bedeutung des Dialogs im politischen Denken Hannah Arendts, in: Conradi, E./Plonz, S. (Hrsg.), Tätiges Leben. Pluralität und Arbeit im politischen Denken Hannah Arendts, Bochum 2000, S. 45-66.
25 Im Unterschied zur Empathie.
26 Hannah Arendt: Vita ActivaÂ…, a. a. O., S. 167.
27 Vgl. Charles Taylor: Multikulturalismus..., a. a. O.
28 Vgl. Tzvetan Todorov: Das Abenteuer des Zusammenlebens, Berlin 1995, S. 17 und 23 ff.
29 Judith Butler: Haß spricht - Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 45.
30 Vgl. Jean-Michel Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer - Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001.
31 Vgl. Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing..., a. a. O., S. 41.
32 Jean-Michel Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer..., a. a. O., S. 311.
33 Michael Ignatieff: Die Politik der Menschenrechte, a. a. O., S. 108.
in: UTOPIE kreativ, H. 143 (September 2002), S. 773-780