Wachstum, Geld und Gemeinwohl

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber…“  (Michael Ende, Momo)

Was der Kinderbuchautor Michael Ende in seinem fulminanten Jugendroman im Hinblick auf das Phänomen der Zeit konstatiert, trifft in gleichem Maße für unser Geldsystem zu. Was Geld ist, ist den meisten unklar – und zugleich ist uns dies kaum bewusst. Daher fällt es auch nicht auf, dass das Geldsystem keinerlei demokratischer Mitbestimmung oder gar Kontrolle unterliegt. Bargeld, Giralgeld, Interbankengeld bis hin zu den Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds, all dies ist Geld.[1] Dieses Geld, und in weiterer Folge der Finanzmarkt, folgen ihrer jeweils eigenen Logik. Und der Wachstumszwang, dem unsere Wirtschaft heute unterliegt, steht damit in einem direkten Zusammenhang.

Ohne Wachstum kein Geld?
Die Basis bildet die Dynamik verzinster Kredite – durch die laufend neues Geld entsteht –, konkret die stetige und steigende Neuvergabe von Krediten zur Tilgung vorhergegangener, wiederum verzinster Schulden, oder zur Erwirtschaftung neuer Profite. Da die Realwirtschaft bereits seit Jahren nur geringe Wachstumsraten aufweist, und immerwährendes Wirtschaftswachstum allein schon durch die Unmöglichkeit eines grenzenlosen Naturverbrauchs als Zukunftsvision ausgedient hat, verlagerte sich die Akkumulation zunehmend auf die Finanzmärkte und in den Bereich der spekulativen Finanzgeschäfte[2]. In der Literatur wird diese Entwicklung unter anderem mit den Begriffen Finanzialisierung (Ötsch 2018a) oder Finanzmarktkapitalismus (Schulmeister 2018) umschrieben. Allein in den ersten neun Monaten des Vorjahres stieg die weltweite Verschuldung (von Haushalten, Unternehmen und Staaten) um neun Billionen USD auf geschätzte 253 Billionen USD. Vergleicht man diese Wachstumsrate des globalen Schuldenstands mit jenem der Realwirtschaft der vergangenen Jahre (gemessen im BIP), lässt sich erahnen, welche Summen direkt in Spekulationsgeschäfte an den internationalen Finanzmärkten fließen. Zugleich verdeutlicht dies die verteilungspolitische Entwicklung der letzten Jahre: Denn die Schulden der einen sind stets die Vermögen von anderen.

Die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft brachte auch neue Akteur*innen hervor. Dazu zählen neben den traditionellen Banken – und hier sind insbesondere jene Großbanken hervorzuheben, die aufgrund ihrer Systemrelevanz als „too big to fail“ gelten – FinTechs (digitale Finanzdienstleister*innen), Investment- und Hedgefonds sowie Schattenbanken. Letztere verzeichneten seit der Finanzkrise ab 2007/8 einen beachtlichen Zuwachs. Befördert wurde dies neben der andauernden realwirtschaftlichen Flaute durch die ausgeweitete Privatisierung sozialer Sicherungssysteme und den Rückzug des Staates aus dem Bereich der Daseinsvorsorge. Ein Beispiel: Aktuell umfassen die jährlichen Beiträge in Sach- und Lebensversicherungen global rund 3,6 Billionen Euro. Bis 2027 sollen sie sich laut Prognosen auf 6,8 Billionen Euro nahezu verdoppeln.

Zu den Anleger*innen und damit Kund*innen dieser Finanzdienstleister*innen zählen unter anderem Staatsfonds, Pensionsfonds und private Krankenversicherungen – und damit letztlich wir alle. Nicht zuletzt aus diesem Grunde erstaunt das mangelnde Interesse an diesem Thema und den dahinter liegenden Zusammenhängen. Obwohl die Folgen des neoliberalen Finanzkapitalismus in Form zunehmender Ungleichverteilung, Prekarisierung und ökologischer Schäden immer deutlicher spürbar werden, erscheint eine breite Mobilisierung für finanz- und wirtschaftspolitische Alternativen schwierig. Doch wie Silke Ötsch zu Recht feststellt: „In der fehlenden Antwort auf wirtschaftliche Probleme liegt die Achillesferse der Rechten, die sie zunächst durch autoritäres Vorgehen gegen Gegner*innen und sozial Schwache überdeckt.“ (Ötsch 2018b)

Perspektiven für ein Geld- und Finanzsystem jenseits von Wachstum
Die erste Voraussetzung für politische Gegenstrategien zur herrschenden Wirtschaftsordnung und eine radikaldemokratische Transformation der ökonomischen Strukturen ist ein tiefgreifendes Verständnis der Zusammenhänge zwischen sozial-ökologischer Krise und Verteilungsfragen auf der einen, und dem Geldsystem, den Finanzmärkten und der Wachstumsspirale auf der anderen Seite, sowie auch den dahinter liegenden Interessen und Machtverhältnissen. Diese Wechselwirkungen sind medial kaum präsent, und werden auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu wenig thematisiert. Hier braucht es eine Verbindung gesellschaftlicher Praxis mit kritischem Bewusstsein, kritischer Wissenschaft, Theorie und Kunst.

Erste Vorschläge für ein Geld- und Finanzsystem, das ohne Wachstumszwang dem Gemeinwohl dient, liegen bereits vor. Neben systemischen, in ihren Auswirkungen jedoch recht umstrittenen Ansätzen, wie einer Vollgeldreform oder Schwundgeld, gibt es eine Fülle an Vorschlägen zu konkreten Maßnahmen, die ein schrittweises Umlenken von Geldströmen in ein zukunftsfähiges, vom Wachstumszwang befreites Wirtschaften einleiten können. Dazu zählen gesetzliche Regeln, wie ein Verbot von Derivaten, eine verpflichtende Prüfung von Kreditvergaben nach ethischen und Gemeinwohl-Kriterien, eine gesetzliche Größenbegrenzungen für Banken – nach der Devise „small enough to fail“ – oder eine neuerliche Trennung zwischen Risiko- und traditionellem Bankgeschäft. Was jede*r einzelne tun kann: durch einen Bankwechsel das eigene Geld den spekulativen Märkten entziehen.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 53, Frühling 2020, "Wachstumsprobleme (degrowth)".


Christina Buczko ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin und leitet die Akademie der

Genossenschaft für Gemeinwohl (www.gemeinwohlakademie.at) in Wien.


Literatur:

Ötsch, S. (2018a). Finanzialisierung und Europa. In: M. Bach, & B. Hönig, Europasoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden, S. 312-322.

Ötsch, S. (2018b). Österreich im Platzhirschkapitalismus. In: N. Dimmel & T. Schmid (Hg.), Zu Ende gedacht. Österreich nach Türkis-Blau. Wien/ Berlin, S. 155-162.

Schulmeister, S. (2018). Der Weg zur Prosperität. Wals bei Salzburg.

 

 

[1] Der Besitz an Aktien, Anleihen, Derivaten etc. wird allgemein unter dem Begriff des Finanzkapitals gefasst. Wobei die Grenze zwischen den beiden de facto inexistent ist, wie Stephan Schulmeister feststellt. Denn jeder Finanztitel wird in dem Moment, in dem er liquide, sprich zu Bargeld oder Giralgeld auf dem Bankkonto, umgewandelt wird, zu Geld. Schulmeister spricht in diesem Zusammenhang von „Potenzialgeld“ (Schulmeister 2018).

[2] Spekulation meint die Gewinnerzielung durch den An- und Verkauf von Vermögenswerten. Im Unterschied zur Investition, die Finanzmittel für Unternehmen bereitstellt, besteht hier keinerlei Bezug zu Realwirtschaft.