Die Krise des kritischen Denkens in Lateinamerika

in (22.08.2018)

Auf dem Höhepunkt der politischen Konfrontationen und der großen Kämpfe der Ideen in Lateinamerika, macht sich die relative Abwesenheit der kritischen Intelligenz ziemlich deutlich bemerkbar. In dem Moment, in dem die progressistischen Regierungen die härtesten Offensiven der Rechten erleben, die versuchen, konservative Restaurationsprozesse durchzusetzen und dafür das Monopol der Massenmedien nutzen, könnte das kritische Denken in Lateinamerika eine wichtige Rolle spielen. Aber seine relative Abwesenheit ist ein weiterer Faktor, der die Kraft der Linken schwächt.

Die Rechte nutzt das Monopol und seine Pop Stars. Mario Vargas Llosa und Fernando Henrique Cardoso kehren effektvoll zurück auf das Feld, um Mauricio Macri [in Argentinien] und die Rechte in Venezuela zu unterstützen und die Regierungen von Brasilien, Ecuador und Bolivien zu attackieren. Es fehlt ihnen nicht an Raum, obwohl es ihnen an Ideen mangelt.
Dem kritischen Denken fehlen die Ideen nicht, es muss um Räume kämpfen, aber es fehlt vielmehr die Beteiligung, es fehlen Organisationen, die die kritische Intelligenz zusammenbringen, um sich aktiv an der Konfrontation mit den theoretischen und politischen Problemen zu beteiligen, denen die progressistischen Prozesse in Lateinamerika gegenüberstehen.

Gegenüber der Armseligkeit der Vorschläge, zur Zentralität des Marktes und zum minimalen Staat, zur Unterordnung unter die USA und zur Apologie der privaten Unternehmen zurückzukehren, bleibt ein offener Rahmen von Argumenten und von Vorschlägen, in den  die linke Intelligenz intervenieren könnte. Um die neuen Physiognomien zu demaskieren, die die Rechte annimmt; um die Fortschritte der eineinhalb Dekaden postneoliberaler Regierungen wertzuschätzen; um die Rolle dieser lateinamerikanischen Regierungen als Gegenströmung gegen die neoliberale Welle zu unterstützen, die nach wie vor über die Welt und die Rechte derjenigen hinwegfegt, die am schwächsten sind.

Diese Regierungen haben die Kritik an den Dogmen des [neoliberalen] Einheitsdenkens in die Praxis umgesetzt; dass „jede seriöse Regierung“ sich auf den Finanzausgleich konzentrieren müsse; dass es nicht möglich wäre, das Wachstum der Einkommen gleichmäßig zu verteilen; dass der Aufschwung von mehr Markt und weniger Staat abhinge; dass es keinen anderen Weg auf der Welt gäbe als den der Unterordnung unter die Länder des kapitalistischen Zentrums; dass der Süden rückständig sei.
Schließlich sind all diese Dinge, die die progressistischen Regierungen kategorisch abgelehnt haben, starke Argumente dafür, dass das kritische Denken sie unterstützen und die gegenwärtigen Schwierigkeiten aus der Perspektive der Vertiefung dieser Prozesse angehen sollte anstatt sie aufzugeben. Letzteres tun diejenigen – die Rechten ebenso wie die radikale Linke –, die sich in den traurigen Trost einer angeblichen Erschöpfung des progressistischen Zyklus flüchten. Beide Kräfte sind nach wie vor motiviert, obwohl sie sich seit eineinhalb Dekaden in desolatem Zustand befinden. Aber es fehlt ihnen die Legitimation, sie haben kein Projekt für die Zukunft des Kontinentes, das nicht eine Wiederholung der desaströsen und überwundenen Vergangenheit oder ein Diskurs ohne Praxis wäre.

Jetzt ist der Moment des kritischen Denkens, es geht darum, die bürokratischen Praktiken, die das Potenzial des kritischen Denkens in Lateinamerika neutralisieren und die traditionellen Organisationen zur Mittelmäßigkeit verdammen, beiseite zu schieben. Die Stunde ist angebrochen, um zum Protagonismus zurückzukehren, in erster Linie in Bezug auf den antineoliberalen Kampf; die Stunde ist angebrochen, in der wieder ohne Angst kühne, neue, emanzipatorische Ideen vorgebracht werden sollten; die Stunde ist gekommen, in der das kritische Denken sich mit den neuen Generationen, den Waisen der Zukunft, verbünden sollte.

Die Bürokratisierung ist für das kritische Denken eine verhängnisvolle Krankheit, sowohl im Hinblick auf die akademischen Strukturen als auch in Bezug auf institutionelle Praktiken in anderen Bereichen. Bis wann lässt die kritische Intelligenz die „Medienintellektuellen“ der Rechten, die die neuen Generationen mit den Werten des Egoismus, der Vorurteile und des Konsumismus formen, praktisch allein die Räume der Debatten besetzen?
Die Bürokratisierung bringt die Depolitisierung mit sich, die der beste Dienst ist, den man der Rechten erweisen kann. Denn sie entzieht die kritischen Räume dem Kampf der Ideen, damit sie sich allein der Erhaltung von Ämtern und Gehältern widmen. Es sind die BürokratInnen, die – obwohl sie vorgeben, dem Feld der Linken anzugehören – mit dem Gebrauch von Worten ohne Praxis oder mit einer Praxis ohne Ideale und ohne konkrete politische Projekte die Linke demoralisieren.
Eine Tragödie für die Linke war die Trennung der Praxis, die sich häufig in den Vollzügen der bestehenden Institutionen verliert, von der Theorie, wie auch eine Theorie ohne Transzendenz tragisch ist, die sich ebenfalls darin verliert.

Heute ist es unabdingbar, die Verbindung zwischen kritischem Denken und dem Kampf um die Überwindung des Neoliberalismus, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Intellektualität und konkretem politischen Engagement wiederherzustellen. Die alten Wege führen nicht mehr zum Ziel, neue müssen offen sein, die eroberten öffentlichen Räume müssen wieder besetzt werden. 
„Die Wege, die wir ausgetrampelt vorfinden/ sind Müll von alten Zielen/ Kreuzen wir diese Wege nicht!/ Weil es nur tote Wege sind“ singt Pablo Milanés. Wir sollten den VordenkerInnen des kritischen Denkens in Lateinamerika treu bleiben, wir sollten aber auch und vor allem den neuen Richtungen treu sein, die wir soeben angefangen haben einzuschlagen. Wer die Schlacht um die Ideen verliert, ist zum politischen Niedergang verurteilt. Wir sollten es uns wert sein, weder die eine zu verlieren noch das andere zu riskieren.


 



Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift América Latina en Movimiento (Quito, Ecuador). Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner. Lektorat Carlos Toledo.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 47, Sommer 2018, „Krise & Konflikt“.

 

Emir Sader, Soziologe und Politikwissenschaftler, ist Professor emeritus an der Universidade Estadual de Rio de Janeiro (UERJ), Brasilien.