Der „Russische Frühling”:

Eine Politik der Angst – besonders gegen Oppositionelle

Der Begriff „Russischer Frühling” wird neuerdings gern als Synonym für Wladimir Putins Politik der Annexion neuer Gebiete, namentlich der ukrainischen Krim, verwendet. Putin wird mit Hitler verglichen und das militärische Vorgehen auf der Krim mit dem Einmarsch nazideutscher Truppen ins Sudetenland. Auch wenn es in einzelnen Punkten Ähnlichkeiten gibt, sind solche Vergleiche jedoch irreführend und falsch.

 

Da es in Russland keine Pressefreiheit gibt, ist davon auszugehen, dass das, was die wichtigsten Zeitungen des Landes schreiben, der Meinung der Obrigkeit entspricht. In der Iswestija, einer der größten russischen Zeitungen, war neulich zu lesen, dass Adolf Hitler bis 1939 ein guter Politiker gewesen sei, später allerdings viele Fehler gemacht habe.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, wie das möglich ist, da doch Putin die ukrainischen Behörden als Ultrarechte und Bei­nahe-Faschisten kritisiert. Ich kann es euch erklären. Was im Moment in Russland geschieht, geschieht in der Absicht, die russische Bevölkerung einzuschüchtern und dafür zu sorgen, dass sie es nicht wagt, gegen die Regierung zu protestieren. Die Botschaft an die Patrioten ist: Putin ist eine Art Diktator, der in der Konfrontation mit dem Westen unsere nationalen Interessen wahrt.

Wir sind praktisch im Krieg, jetzt ist keine Zeit für Demokratie, alle Patrioten müssen zusammenstehen und ihren Anführer unterstützen.

Die Botschaft an die Opposition ist: Putin ist sehr gefährlich, er ist nicht aufzuhalten. In bei­den Botschaften spielen der Begriff des Diktators und das Gefühl der Angst eine zentrale Rolle.

Es gibt aber auch eine andere Seite des „Russischen Frühlings”, und über sie möchte ich schreiben. Alle Scheinwerfer der internationalen Aufmerksamkeit sind derzeit auf die Ukraine und ihren Kampf gegen Putins Einfluss gerichtet. Ich aber möchte weniger bekannte Aspekte zum Thema machen. Darüber, was Putin mit Russland macht, während alle Emotionen anderswohin gerichtet sind.

 

Ecodefense

Ich arbeite für die Umweltorga­nisation Ecodefense. Seit fast 25 Jahren sprechen wir uns gegen Atom- und Kohlekraft (in den Augen der Patrioten sind dies russische Werte) und für Grundfreiheiten aus. Ich werde hier weder Theorien noch Fiktionen ausbreiten, sondern euch einfach eine Vorstellung davon geben, wie unser Leben unter Putin dieser Tage aussieht.

Eines denkwürdigen Apriltages erhielten wir drei Nachrichten auf einmal. Meiner Organisation Ecodefense wurde von der Bank mitgeteilt, dass wir künftig keine Spenden aus dem Ausland mehr erhalten würden. Grund dafür sei eine Entscheidung der Bank, dass sie nicht mehr mit ausländischem Geld arbeiten werde, weil – man höre und staune – die anderen Länder so böse seien, dass sie möglicherweise unser Geld stehlen würden. Unsere Bank arbeite jetzt nur noch mit russischer Währung.

Dann erhielten wir die Nachricht, die Staatsanwaltschaft werde im Rahmen einer Inspektion überprüfen, was wir tun und woher wir Geld für unsere Aktivitäten erhalten. Die erklärte Absicht ist keineswegs die wirkliche, denn Gruppen wie unsere müssen sowieso viermal jährlich über diese Punkte Bericht erstatten, so dass die russische Regierung auch ohne Inspektion alles weiß. Ganz zu schweigen von der Bankenaufsicht, die speziellen Behörden umfassende Informationen weiterleitet. Wenn ihr zum Beispiel aus Deutschland Geld an Eco­defense spendet, dann müssen wir eine formale Vereinbarung mit euch vorlegen, einschließlich einer Beschreibung dessen, was wir mit diesem Geld tun werden, und eines detaillierten Budgets, sonst akzeptiert unsere Bank die Spende nicht.

Die Regierung weiß also ohne­hin alles und wird regelmäßig informiert. Warum also sollte der Staatsanwalt seine Zeit mit Inspektionen verbringen?

Nun, die Absicht dahinter ist eine ganz andere. Die Herrschenden wollen neue Gründe, um uns als „ausländische Agenten“ klassifizieren zu können. Vor einiger Zeit erließ die russische Regierung ein Gesetz über solche „Agenten“, das uns als Spione dastehen lässt und eindeutig darauf abzielt, die öffentliche Meinung zu Umwelt- und Menschenrechtsgruppen und anderen fortschrittlichen Organisationen zu beeinflussen.

Natürlich haben sich zivilge­sellschaftliche Gruppen dagegen gewehrt. Die Regierung verkündete, jede Gruppe, die politisch aktiv sei und Geld aus dem Ausland erhalte, müsse sich als „ausländische Agentin“ registrieren lassen. Wir hielten dagegen, politische Aktivitäten müssten darauf gerichtet sein, die politische Macht zu erringen, was niemals unsere Ab­sicht gewesen sei. Im Frühjahr 2013 bekamen wir dann einen Inspektionsbesuch – zum ersten Mal seit 1989. Die Inspekteure warnten uns offiziell, dass wir, wenn wir unsere Aktivitäten fortsetzten – und dies gelte für jegliches Handeln, welches geeignet sei, die öffentliche Meinung zu beeinflussen –, Probleme bekommen würden. Und nun bekommen wir zum zweiten Mal in unserer Geschichte einen Inspektionsbe­such.

Bis zum April dieses Jahres konnte die Zivilgesellschaft in Russland mit der Regierung da­rüber streiten, was eine politische Aktivität ist und was nicht, und eine klare Definition verlangen. Der Fall landete also beim Verfassungsgericht. Hier sollte festgestellt werden, ob das Gesetz über „ausländische Agenten“ mit der russischen Verfassung vereinbar sei. Anfang April erhielten wir nun die Antwort, das Gesetz sei in Ordnung – und zudem sei jegliche Aktivität auf der Straße politisch. Das heißt, was auch immer du auf der Straße tust, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen, ob für die Probleme behinderter Menschen, für die Rechte von Gefangenen oder die Opfer von Tschernobyl, für die Verbesserung der Forstwirtschaft oder für den Bau neuer Schulen – alles ist politisch. Und alle Gruppen, die Spenden aus anderen Ländern erhalten und im öffentlichen Raum aktiv sind, sind „ausländische Agenten“. Punkt.

Wir werden uns dagegen wehren, genau wie viele andere Gruppen. Deshalb müssen wir auf eine Welle von Strafzahlun­gen und auf die Schließung verschiedener Einrichtungen der Zivilgesellschaft gefasst sein. Am selben Tag, an dem Eco­defense diese Mitteilung erhielt, hat uns das russische Parlament einen weiteren „Gruß“ gesandt. In der ersten von drei Lesungen wurde eine neue Ge­setzesänderung zum Versamm­lungsrecht gebilligt.

Sie soll die Strafen für zivile Proteste dramatisch verschärfen.

Die Höchststrafe für eine Festnahme bei Protesten wird von heute 600 auf fast 10.000 Dollar heraufgesetzt. Die Dauer kurzzeitiger Inhaftierungen bei einmaliger Festnahme innerhalb 180 Tagen wird von 15 auf 30 Tage verlängert. Wer innerhalb der Frist von 180 Tagen ein zweites Mal verhaftet wird, wandert für Jahre ins Gefängnis. Ich glaube nicht, dass dieser Gesetzesentwurf im Parlament in irgendeiner Weise aufgehalten wird.

Desweiteren haben die Parla­mentarierInnen einen neuen Straftatbestand eingeführt.

Wenn sich Menschenansamm­lungen im Umfeld von Regie­rungsgebäuden oder „gefährlichen“ Orten aufhalten oder bewegen, ist dies nun eine strafbare Handlung. Für Gleisbloc­kaden gilt das in Russland schon heute; in Zukunft dürfte es auch für den Aufenthalt in der Nähe von Atomkraftwerken, Chemie- oder sonstigen Industrieanlagen sowie Ge­richtsgebäuden gelten.

Nun fragt ihr euch vielleicht, warum wir uns den Kopf über Geldstrafen und Gerichtsurteile zerbrechen, wenn wir gar nicht die Absicht haben, gegen Gesetze zu verstoßen. Und wenn wir gegen Gesetze verstoßen, dann müssen wir eben das Risiko tragen. – Stimmt eigentlich. Aber in Russland ist es gängige Praxis, dass ziviler Protest auch dann, wenn er nicht gegen Gesetze verstößt, mit einem hohen Verhaftungsrisiko verbunden ist. Dabei geht es gar nicht darum, was du auf der Straße tust. Sondern darum, was die Polizei von dir denkt. Und wenn du auf die Straße gehst, um zu protestieren, denkt die Polizei in der Regel, du bist ein Krimineller. Hier geht es nicht um „Recht“ und „Ordnung“, sondern darum, den Menschen Angst zu machen – Angst davor, ihre Stimme zu erheben und die Menschenrechte und grundlegende Freiheiten einzufordern.

Dieses Klima der Angst ist Pu­tins Ziel. Die Russen sollen die Repression fürchten, die Ukrainer sollen einen Krieg fürchten, die Europäer das Ende der Gasversorgung und die Amerikaner die russischen Atomwaffen. Putin verbreitet überall Angst, weil er selbst in Angst lebt. Er hat Angst vor der Welt um ihn herum, Angst, dass die Welt ihn betrügen, ihn entmachten und vergessen wird, wenn er nicht den ersten Schlag führt. Er glaubte, mit viel Geld und der Atombombe könne er sich ein für allemal Respekt und einen Sitz in der Weltregierung verschaffen. Das hat irgendwie nicht geklappt. Deshalb baut er nun um Russland eine zweite Chinesische Mauer und verbreitet so viel Angst wie möglich. Die Annexion der Krim ist nur ein weiteres Element dieser Politik der Angst.

Lasst euch nicht verschaukeln: Putin ist nicht der Retter Russlands oder der slawischen Welt. Diese propagandistische Rhetorik ist nur Maskerade. 

Die treibende Kraft ist Putins Angst, alles zu verlieren, auch Geld und Einfluss. Solange es in Russland keine Massenpro­teste gab, war er gelassen. Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Etwa 50.000 DemonstrantInnen sind durch Moskau marschiert und haben mit der an Putin gerichteten Parole „Finger weg!“ Frieden für die Ukraine gefordert. Sie hatten keine Angst vor Repression.

Nun mobilisiert Putin die Patrioten mit Krieg gegen ein Land, das den Russen historisch betrachtet sehr nahe steht

Aber wie lange? Die russischen Märkte haben für diesen kleinen Krieg schon jetzt Hunderte Milliarden Euro bezahlt und werden noch mehr bezahlen.

Um aber einen Weltkrieg zu finanzieren, ist die russische Wirtschaft zu schwach.

Die patriotische Kriegsbegeis­terung wird bald abflauen und Russland wird sich den Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs stellen müssen.

Für die russische Zivilgesell­schaft brechen schwere Zeiten an. Viele Organisationen werden nicht überleben, unabhängig von ihrem Status und ihren Ressourcen. Putin hat große Angst vor zivilgesellschaftli­chen Organisationen.

In seiner paranoiden Weltsicht sind wir „ausländische Agenten“, die den Amerikanern helfen werden, ihn zu besiegen, wenn Russland schwach ist. Aber was will man von einem alten KGB-Offizier erwarten?

Es gibt nur eines, was der russischen Zivilgesellschaft helfen kann – internationale Solidarität in Zeiten der Repression. Sie kann helfen, nicht nur die eine oder andere Organisation, sondern sogar Leben zu retten.

Der „Russische Frühling” ist Zeichen der Schwäche Putins. Ohne Krieg und ausufernde Re­pression kann Putin das Land nicht stabilisieren – weder wirtschaftlich noch politisch. Und vielleicht ist er schon bald am Ende.

 

Vladimir Slivyak

 

Der Autor und Aktivist Vladimir Slivyak ist Ko-Vorsitzender der russischen Umweltorganisation Ecodefense.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 389, Mai 2014, www.graswurzel.net