Menschenrechte - für wen?

in (29.05.2008)

Menschenrechte fordert man immer vom anderen ein, von dem, den man unter Druck setzen und in Mißkredit bringen will. Deutschland verlangt von

China Menschenrechte für die Tibeter, aber nicht von der Türkei für die Kurden, nicht von Lettland oder Estland für die Russen (die ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, aber nicht einmal wählen dürfen), nicht von den USA für die Indianer, nicht von Israel für die Palästinenser. Die Tibeter sollen Autonomie erlangen wie die Kosovaren (wie man die albanischen, nicht die serbischen Bewohner der serbischen Provinz Kosovo nennt und schon gar nicht die von dort vertriebenen Roma). Warum nicht auch Autonomie für die Basken in Spanien oder die Roma in Rumänien oder die Aborigines in Australien oder die Sorben in Deutschland (denen der Staat eben wieder die Mittel für die Pflege ihrer Kultur kürzt)? In Deutschland soll sich gefälligst jeder assimilieren, soll der "Leitkultur" folgen. Im gleichen Sinne unterstützen die tonangebenden deutschen Politiker und Publizisten auch befreundete Staaten, die von ihren Minderheiten Assimilierung verlangen. Wenn sich eine Minderheit oder eine Partei dieser Minderheit gegen den Assimilierungsdruck und gegen systematische Benachteiligung auflehnt, wird diese Bevölkerungsgruppe in den hiesigen Medien schnell als "terroristisch" abgestempelt. Bei ethnischen Konflikten in nicht befreundeten Staaten dagegen stellt sich Deutschland tapfer auf die Seite derer, die sich auflehnen. Da gilt die alte imperialistische Devise "divide et impera". Staaten, die ihre Reichtümer nicht freiwillig hergeben, können nicht klein genug zerstückelt werden.

Auf Behauptungen, in Deutschland selbst sei es um die Grundrechte schlecht bestellt, reagiert die herrschende Meinung allemal abweisend. Man empört sich über Bekleidungsvorschriften anderswo und erläßt mit größter Selbstverständlichkeit eigene, gegenteilige Bekleidungsvorschriften. Man empört sich über Geheimdienste anderswo, auch wen sie das Gleiche tun wie deutsche Geheimdienste. Man schränkt Grundrechte ein und behauptet, das diene unserer Freiheit und Sicherheit.

Als Ende Mai neun Bürgerrechtsorganisationen in der Berliner Humboldt-Universität unter dem Motto "Sicherheitsstaat am Ende" einen Kongreß zur Zukunft der Bürgerrechte veranstalteten, hielt es keine der großen Zeitungen des Landes, keine Nachrichtenagentur, kein Radio- oder gar Fernsehsender für nötig, darüber zu berichten. Die Medien finden immer genug andere Themen, die wir, ihre Konsumenten, wichtig nehmen sollen. Mit der Funktion der von den großen Parteien gesteuerten öffentlich-rechtlichen Medien und der zehn Konzerne, denen fast alle privaten Sender, Zeitungen und Zeitschriften gehören, ist es schwerlich vereinbar, uns auf den Gedanken kommen zu lassen, wir lebten hierzulande etwa doch nicht im Menschenrechtsparadies.

Aber nein: Einen Journalisten leistet sich Deutschland, der an prominenter Stelle, in der Süddeutschen Zeitung, über die Grundrechte wachen und mit deutlichen Worten darüber schreiben darf: Heribert Prantl. Er hielt das Eingangsreferat. Dennoch oder erst recht informierte die große SZ mit keiner Zeile über den Kongreß. Prantl sprach über Hartz IV als "Rutsche in die Armut" und über die Angst vieler Menschen, auf diese Rutsche zu geraten, über die Ausgegrenzten, aus dem Miteinander der Demokratie Ausgeschlossenen und von der Notwendigkeit einer Sozialpolitik, die dafür sorge, daß der Mensch zum Bürger werden kann - denn die armen Regelsatz-Empfänger seien keine Bürger. Prantl sprach auch von den Anti-Terror-Maßnahmen des Staates, vor denen man Angst bekommen müsse. "Wer seinem Volk Angst macht, braucht es für einige Zeit nicht zu fürchten", sagte Prantl. Der Zweck immer neuer Drohungen sei Gehorsam. Auch die Inquisition sei nicht mehr weit. Zunehmend werde über Folter so geredet, als wäre sie eine "humanitäre Intervention" - wie man über den Angriffskrieg redet.

Der Rechtssoziologe Reinhard Kreissl ergänzte, Bürgerrechtler sollten aufhören, vor einem drohenden Überwachungsstaat zu warnen, denn: "Wir sind im Überwachungsstaat Â… und werden an erniedrigende Behandlung gewöhnt", wobei all das, was der Staat uns zumute, angeblich zu unserer eigenen Sicherheit geschehe. Kreissl wies auf die Interessen der Sicherheitsindustrie hin, auf die von ihr geforderten staatlichen Forschungsmittel, die immer schnell genehmigt würden, auf die permanente Angstmache der Medien und auf deren Attacken gegen Behörden, die angeblich zu wenig für die Sicherheit tun.

Welche Sicherheit? Wessen Sicherheit?

Auf den Sicherheitsbegriff der Sicherheitspolitiker antwortete Prantl: "Sicherheit ist die Sicherheit der Menschen im Recht."

Wie die Bürgerrechte zwecks angeblicher Sicherheit der Bürger abgebaut werden, erörterten die Kongreßteilnehmer in sechs Foren, deren Ergebnisse hier nicht widergegeben werden können - Ossietzky kann die Tageszeitungen und die Fachzeitschriften nicht ersetzen. Aber wenigstens die bisher nirgendwo veröffentlichte Resolution des Kongresses sei hier dokumentiert:

Bund und Länder haben in den vergangenen Jahren zahlreiche sogenannte Sicherheitsgesetze verabschiedet. Dadurch geraten immer mehr Menschen ins Visier staatlicher Überwachung, gegen die sie sich kaum wehren können. Mit pauschalen Verdächtigungen und ausufernder Kontrolle gefährdet diese Sicherheitspolitik gerade das, was sie zu schützen vorgibt: eine freiheitliche Gesellschaft und rechtsstaatliche Grenzen staatlichen Handelns.

Die Teilnehmer der Konferenz fordern deshalb den sofortigen Stopp weiterer Überwachungsvorhaben und eine Politik, die grundrechtliche Freiheiten respektiert. Als Eckpunkte einer freiheitlichen Politik stellen wir folgende Forderungen:
Unsere Gesellschaft braucht überwachungsfreie Räume: Jedem Menschen, egal was er begangen hat oder wessen er verdächtigt wird, muß eine überwachungsfreie Privatsphäre zugestanden werden. Auf Ermittlungsmaßnahmen wie die Online-Durchsuchung von Computern, die unvermeidbar in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifen, muß eine freiheitliche Gesellschaft verzichten.

Die Prävention von Gefahren darf kein Staatsziel werden, dem wir unsere Freiheit opfern. Wir fordern deshalb einen Verzicht auf alle Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen, die ohne jeglichen Verdacht das Kommunikationsverhalten, die Bewegungen oder Verhaltensweisen der gesamten Bevölkerung kontrollieren.

Staatliches Handeln soll offen, erkennbar und überprüfbar sein. Diesen Prinzipien widerspricht die zunehmende Zentralisierung von Sicherheitsbehörden. Polizeiliches und geheimdienstliches Handeln sind strikt zu trennen, die gemeinsame Nutzung von Datenbeständen ist zu beenden.

Eine freie Gesellschaft braucht den Protest und die Tolerierung Andersdenkender: Willkürliche Maßnahmen gegen Demonstrierende und die Kriminalisierung sozialen Protests sind zu beenden.
Eine freie Gesellschaft verträgt keine Militarisierung. Für Einsätze der Bundeswehr im Inland oder eine zivil-militärische Zusammenarbeit ist kein Platz in einer rechtsstaatlichen Demokratie.

Grundrechtliche Freiheiten müssen im vollen Umfang auch für MigrantInnen und Flüchtlinge gelten: Sie haben ebenso einen uneingeschränkten Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens. Die ausufernde Praxis der Abschiebungshaft, die selbst gegenüber Minderjährigen und zum Teil ohne richterliche Kontrolle praktiziert wird, ist unverhältnismäßig und deswegen abzuschaffen.

Im Übrigen gilt: Freiheitsrechte sind ohne die materiellen Voraussetzungen, sie in Anspruch nehmen zu können, nur von begrenzter Wirkung. Eine Gesellschaftspolitik, die die sozialen Gegensätze immer weiter verschärft und die Verarmung größerer Bevölkerungsteile vorantreibt, widerspricht dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.

Gerade über solche Zusammenhänge zwischen politischen und sozialen Menschenrechten werden die Bürgerrechtsorganisationen weiter nachzudenken haben. Nach neuer Rechtsprechung müssen Arme, um staatliche Leistungen für den Lebensunterhalt zu erhalten, erst einmal ihre Lebensversicherung hergeben - also das, was sie selbst für ihre Sicherheit geschaffen haben. Weil Millionen Menschen keine Lohnarbeit mehr finden und daher keine Beiträge mehr zahlen können, zerbricht die Sozialversicherung. Der Verlust an sozialer Sicherheit bedeutet für viele Menschen in Deutschland die täglich erlebte Entwürdigung - bis hin zur Zwangsarbeit für ein paar Euro. Diejenigen Menschen aber, die noch gegen Tariflohn arbeiten, leben in wachsender Angst und sind zu jeder Verrenkung, jedem Verzicht bereit, um nicht ebenfalls arbeitslos zu werden. Was dagegen helfen würde, wäre gewerkschaftliche Aktion. Wenn Gewerkschaften aber Tarifverträge abschließen, mit denen die Arbeitszeit verlängert statt - wie es zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit notwendig wäre - drastisch verkürzt und der Reallohn verringert statt erhöht wird, machen sie sich mitschuldig an der Misere. Sie selber könnten und müßten wieder Bürgerrechtsorganisationen werden - vor allem indem sie endlich den Kampf für die 28-Stunden-Woche (Vier-Tage-Woche mit je sieben Arbeitsstunden) aufnähmen. Humanistische Union, Internationale Liga für Menschenrechte, Gustav-Heinemann-Initiative, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein und die anderen Organisationen, die den Kongreß veranstalteten und jährlich den "Grundrecht-Report" herausgeben, könnenden Gewerkschaften diese Aufgabe nicht abnehmen.

Menschenrechte gelten nur da, wo sie für alle gelten. Das hat dieser Kongreß geklärt.