Volksaufstand in Oaxaca

in (25.09.2006)

Die Auseinandersetzungen in Mexiko-Stadt um Betrug bei der Präsidentschafts- und Kongreßwahl haben in den vergangenen Wochen auch in deutschen Medien Beachtung gefunden.

Der mexikanische Bundesstaat Oaxaca aber bleibt ein dunkler Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung. "¡No pasa nada en Oaxaca!" (In Oaxaca ist alles in Ordnung!), läßt die Regierung verlauten, obwohl dort seit drei Monaten Legislative, Exekutive und Judikative funktionsunfähig sind. Empörte BürgerInnen haben das Regionalparlament, den Regierungspalast und das Oberste Gericht besetzt, und mit Leuchtfeuern an 1.500 Barrikaden in Oaxaca-Stadt verkünden sie auch nachts, daß es hier brodelt.

Anläßlich der Gouverneurswahl im Jahr 2004 spielte sich in Oaxaca genau das ab, was kürzlich in ganz Mexiko zu verfolgen war: knapper Wahlausgang, Stimmenfälschung und -kauf in großem Ausmaß, Proteste, Anrufung des Obersten Wahlgerichts, das keine großen Unregelmäßigkeiten feststellte, Bestätigung des Amtsinhabers mit zweifelhafter Kreditwürdigkeit.

Wie der neue Präsident Mexikos verfolgt der Gouverneur von Oaxaca einen Radikalkurs der Marktliberalisierung und Privatisierung öffentlicher Ressourcen. Sozialen Bewegungen zeigt er die "harte Hand". Darunter leiden vor allem indigene Gemeinden, deren Existenzgrundlage das von ihnen bewirtschaftete Land ist. Der Staat zerstört ihre Selbstverwaltungsstrukturen und treibt die Landprivatisierung voran. In Oaxaca sind zur Zeit immer noch mindestens 60 Prozent des Bodens Gemeindeland.

Am 14. Juni diesen Jahres verfügte Gouverneur Ulises Ruiz die gewaltsame Räumung eines Protestlagers der LehrerInnengewerkschaft, die sich zu einem unbegrenzten Streik entschlossen hatte. Damit brachte er das Faß zum Überlaufen. Aus mehr als 300 zivilgesellschaftlichen, indigenen und sozialen Organisationen gründete sich die Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO). die Volksversammlung der Bürger Oaxacas. Flavio Sosa, einer ihrer Koordinatoren, erklärt: "Die APPO ist ein Prozeß, eine Organisation im Aufbau. Die gegenwärtige Regierung ist eine autoritäre Regierung, während wir eine kommunitäre Demokratie praktizieren, es ist eine neoliberale Regierung, während in unseren Gemeinden das Gemeinwohl an erster Stelle steht." In der gesamten historischen Innenstadt schlägt die APPO ihre Protestzelte auf, die LehrerInnen verweigern weiterhin den Staatsdienst.

Die Streikenden und Demonstrierenden fordern den Rücktritt von Ulises Ruiz. Da er darauf beharrt, das Mandat, das ihm "die Mehrheit der Bürger anvertraut" habe, zu erfüllen, entmachteten sie ihn auf andere Weise: Sie besetzten die Gebäude der drei Gewalten. Öffentliche Auftritte des Gouverneurs werden im gesamten Bundesstaat boykottiert, das Regionalparlament tagt im Geheimen. Und nicht nur die politischen Institutionen wurden lahmgelegt, die APPO besetzte und übernahm auch Medien und griff mit gezielten Aktionen in die Wirtschaft ein: Sie blockierte Autobahnen, boykottierte eine Reihe von transnationalen Unternehmen und bewies auch ihre Fähigkeit zum Generalstreik.

Zur größten von insgesamt fünf Massendemonstrationen gingen 800.000 Menschen auf die Straße, um die Absetzung des Gouverneurs zu fordern. Das war fast ein Viertel der Bevölkerung des Bundesstaates.

Bei den nationalen Wahlen am 2. Juli verlor die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Partei des Gouverneurs, alle Sitze im Senat und neun ihrer bisherigen elf Sitze im Abgeordnetenhaus. Und das, obwohl laut einem Bericht des Nationalen Wahlinstituts die PRI Stimmen mit medizinischen Dienstleistungen, staatlichen Förderprogrammen oder einem Kilo (!) Tortillas gekauft hatte.

Die Bürgerbewegung reicht so tief ins Herz der Gesellschaft, daß PolizistInnen ihren Dienst verweigern und sogar ihre Kündigung einreichen, weil sie nicht zu gewaltsamen Einsätzen gegen die APPO befohlen werden wollen. Die Regierung arbeitet daher mit Paramilitärs. Mitglieder der Bürgerbewegung wurden mißhandelt, verschleppt oder wegen fingierter, ihnen fälschlich angelasteter Straftaten eingesperrt. Bei Schießereien an Barrikaden oder bei Schüssen auf Häuser einzelner APPO-Mitglieder, auf Redaktionen oder Druckereien sowie auf Demonstrationszüge gab es nach Angaben der Mexikanischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte zahlreiche Verletzte und schon fünf Tote.

Ein Ende des Konfliktes ist nicht abzusehen. Die Nationalregierung hat sich bislang auf die Unantastbarkeit der Institutionen berufen. Angeboten wurden Verhandlungen über die wirtschaftliche Besserstellung der LehrerInnen, die das Fundament der Bewegung sind. So besteht jetzt die Sorge, sie könnten die APPO am Verhandlungstisch verkaufen, zumal sie unter stärksten Druck geraten sind: Die Regierung hat die Gehaltszahlungen an die LehrerInnen eingestellt. Als Gegenleistung für die Wiederaufnahme und Erhöhung der Zahlungen fordert sie unter anderem die Demobilisierung der APPO-Organisationen sowie die Rückgabe der besetzten, kommunitär umgestalteten Medien.

Welche weiteren Entwicklungen sind denkbar? Der Senat könnte Ulises Ruiz seines Amtes entheben, wodurch die Bewegung ihre wichtigste einende Forderung verlöre. Wenn sich der Gouverneur aber bis in den Dezember hinein im Amt hielte, wäre nach der mexikanischem Gesetzeslage keine Neuwahl mehr erforderlich, sondern ein Interimsgouverneur würde eingesetzt, der bis zur nächsten turnusmäßigen Wahl regieren würde. Nicht auszuschließen ist aber auch, daß man die Bewegung mit einem Großeinsatz der Polizei unter Beteiligung des Militärs niederschlägt und ein Gewaltregime über den Bundesstaat errichtet. Die beiden letzten Szenarien - Interimsgouverneur oder Ausnahmezustand - bergen die Gefahr, daß sich der Konflikt auf andere Bundesstaaten ausweitet und die Bürger sich bewaffnen.

Die APPO denkt unterdessen an eine Volksregierung, die das institutionelle Machtvakuum füllen soll. Die Machthaber Mexikos werden dieses Experiment schwerlich zulassen. Die Art und Weise der Konfliktlösung in Oaxaca wird Signalwirkung für ganz Mexiko haben.