Nachdenken über D.

Ist es anrüchig, ab und zu an Deutschland zu denken? Heinrich Heine hielt so etwas für selbstverständlich, und fühlte sich sogar um den Schlaf gebracht. Heute beschäftigen wir uns in diesem unser

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Lande vielfach so sehr mit uns selbst, daß wir genau das unterlassen. Darauf wird man dann gestoßen, wenn es andere tun. Mir ging es kürzlich so in Moskau.

Da sagt ein älterer Herr, einst vielzitierter Botschafter seines Landes in unserem, als jenes noch die Sowjetunion war, die Beziehungen zu Deutschland seien stabil und zukunftsträchtig. Doch die Lage Rußlands heute sei vergleichbar mit der nach dem Brester Frieden von 1918; das Land habe umfangreiche Gebiete im Westen verloren, jetzt auch in Zentralasien, und ist Quelle billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte für Europa. Ohne einen einzigen Schuß abzufeuern, habe Deutschland alle geopolitischen Ziele erreicht, die es im Ersten und Zweiten Weltkrieg verfehlte, diesmal als Verbündeter der USA und als führende Macht der EU. Und die russische Führung habe sich mit dieser Lage abgefunden. Die deutsche Regierung müßte wahnsinnig sein, wenn sie jetzt keine guten Beziehungen zu Rußland unterhielte. Allerdings habe Deutschland Rußland immer als Partner zweiter Klasse betrachtet, im Vergleich zu seinem Verhältnis zur angelsächsischen Welt.

Andere Diskutanten führen unterschiedliche Fakten an. In wenigen Jahrzehnten werde Rußland fünfzig Millionen weniger Einwohner haben als heute. Eine Deindustrialisierung habe stattgefunden: Wurden 1990 65 000 Werkzeugmaschinen hergestellt, so seien es heute noch sechstausend; 1990 wurden 235000 Traktoren gebaut, heute achttausend. Die Armutsfaktoren sprechen für sich: Auf dem Dorf, zweihundert Kilometer von Moskau entfernt, liegt der Verdienst zwischen 600 und 800 Rubel im Monat. Das sind zirka zwanzig Euro. In der Regionsstadt sind es 1 600 bis 1800 Rubel. Ein Schlosser im Moskauer Straßenbahndepot erhält zweitausend Rubel, bei der Moskauer Metro - wegen "Unter-Tage-Arbeit" - viertausend. Die Zahl der Ärzte und Landkrankenhäuser nimmt ab. Notare oder staatliche Stellen, die erforderliche Stempel verteilen, gibt es nur noch in der Stadt. Der öffentliche Nahverkehr vom Dorf in die Stadt wird ebenfalls ausgelichtet. Er rechnet sich nicht in Zeiten des Neoliberalismus, der auch in Rußland viele Verwaltungshirne vernebelt.

Dann kam die Sprache wieder auf die geographisch-militärischen Vorgänge. Hatte der alte Bush 1990 noch versprochen, es werde keine Ausdehnung der NATO geben, so stehen NATO- und USA-Truppen heute nicht nur im Baltikum und in Polen, sondern auch in Georgien, in Zentralasien und Afghanistan. Da sind der Krieg im Irak und der beabsichtigte Krieg gegen den Iran noch gar nicht erwähnt. Hinzu kamen jüngst die strategischen Abkommen der USA mit Indien, das einst Partner der Sowjetunion war. Wer an Einkreisung denkt, sieht den Kreis enger werden. Jetzt soll die Ukraine in die NATO. Die russischen Geopolitiker haben die alten Schriften gelesen und wissen, daß die Strategen in den USA die gleichen Schriften gelesen haben und, schlimmer noch, ihrem Handeln solche strategische Überlegungen zugrundelegen. Danach beherrscht die Welt, wer das Zentrum Eurasiens besetzt hält. Das muß sich gegen Rußland richten. Und Brzezinski hat schon immer gesagt, daß der Westen die Ukraine braucht, damit Rußland schwach bleibe.

Aber dafür ist doch nicht Deutschland verantwortlich, wendet man ein. In gewissem Sinne verschwimmen die Linien zwischen dem alten Feind und den neuen Bedrohungen. Dieses Deutschland hat nicht all jene Schwächungen Rußlands herbeigeführt; es ist die strategische Niederlage der realsozialistischen Sowjetunion gegen die geballten Kräfte des Westens, unter deren Folgen Rußland leidet. Die deutsche Vereinigung war eine Folge dessen, nicht die Ursache. Bemerkenswert aber bleibt: Die britische Führung führte im Jahre 1989 genau jene Debatte, mit der Grundannahme, der Kohl erreiche jetzt das, woran Wilhelm II. und Hitler scheiterten. Heute sind die Briten gegenüber dem realexistierenden Deutschland gelassener. In Rußland dagegen wird weiter in dieser Vergangenheit nach den Ursachen für Jetziges gesucht.

Antje Vollmer hatte bereits Anfang der neunziger Jahre geschrieben, die deutsche Einheit sei eine Sache gewesen, die die alten Männer von damals den nachfolgenden Generationen hinterlassen wollten; bereits die Generation von Schröder und Fischer hätte das nicht mehr getan. Und diese alten Männer hatten keine strategischen Pläne, nicht einmal für die deutsche Einheit selbst. Die Deindustrialisierung auf dem Gebiet der DDR sieht kaum anders aus als die in Rußland.

Und das heutige Deutschland? Eine vergreisende Bevölkerung zettelt keine Kriege an, sondern sorgt sich um das eigene Häuschen und kauft eher Bundesschatzbriefe als Aktien. Die Geburtenrate ist - wie in Rußland - eine der niedrigsten der Welt, während vor 1914 das großspurige Deutschland mit seinen Weltmachtambitionen über die jüngste und am schnellsten wachsende Bevölkerung verfügte. Das Großkapital, zu dessen Gunsten Kohl noch Deutschland- und Ostpolitik gemacht hatte, um sich Eigentumstitel anzueignen und Märkte zu erschließen, bekam unter Schröder jene Bedingungen, die es wollte, um alles, was in Deutschland zusammenzuklauben ist, ins Ausland zu transferieren und in "Wachstumsmärkte" zu investieren. Die ortsansässige Bevölkerung wird zunehmend als störend empfunden und soll gefälligst für sich selber sorgen.

Ein Fazit? Die Bevölkerungen Deutschlands und Rußlands heute bleiben auf ihre gegenseitigen Beziehungen verwiesen. Beide Länder spielen in der Weltpolitik nicht mehr die Rolle, die sie im 20. Jahrhundert hatten, schon deshalb, weil die große Musik jetzt zwischen den USA, China und Indien und partiell Japan spielt. Die EU (als Ganzes) versucht, dabeizusein. Doch für die Stabilität Europas sind die deutsch-russischen Beziehungen auch weiterhin wichtig. Eine Hauptgefahr für beide ist die abenteuerliche Weltpolitik der USA. Dem können beide, aus Eigeninteresse, gemeinsam besser entgegenwirken als einzeln. Und am wichtigsten ist: Im Denken der politisch Verantwortlichen in Deutschland sollte Rußland nie wieder ein "Partner zweiter Klasse" sein.

in:Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 18. April 2006, Heft 8

aus dem Inhalt
Erhard Crome: Nachdenken über D.; Marat Abrarov: Krankes Rußland; Roland M. Richter: Problemfall Tschernobyl; Marina Mai: Vietnam am Scheideweg; Uri Avnery, Tel Aviv: Was zum Teufel ist geschehen?; Wolfram Adolphi: Im Grenzstreifen; Klaus Hart, São Paulo: WM und Brasilienklischees; Gerd Kaiser: Urban supra portam; Ursula Malinka: Frühlingserwachen?; Uwe Stelbrink: Anwärter; Detlef Kannapin: Erschlichene Versöhnung; Werner Abel: Wolfgang L.;