Exzessive Gewalttätigkeiten - politisch motivierte Taten?

Der Mordfall Marinus Schöberl

In der polizeilichen Erfassung von Gewaltstraftaten durch die Behörden der Inneren Sicherheit wird ein Unterschied gemacht zwischen politisch relevanten und politisch irrelevanten Straftaten.

Für die als politisch relevant erachteten Delikte ist der Staatsschutz zuständig, sie werden in einer eigenen Statistik erfaßt. Auf diese Daten stützen sich die veröffentlichten Berichte der Verfassungsschutzämter. Diese Berichte sind selbst ein Politikum.

Problematische Fokussierung auf Rechtsextremismus

Seit behördliche Statistiken über politische Straftaten geführt werden, wird darüber gestritten, inwieweit sie die dargestellte Realität angemessen abbilden. Auf der einen Seite stehen engagierte Journalisten und private Vereinigungen, auf der anderen Seite die Behörden. Sie müssen den Verdacht entkräften, sie würden - teils aus Inkompetenz, teils aus Imagegründen - die Zahl der politisch relevanten Straftaten aus dem rechten Spektrum zu niedrig ansetzen.
Der politische Konflikt um die angemessene Abbildung der politisch relevanten Kriminalität in der Statistik hat vor einiger Zeit zu einem praktischen Ergebnis geführt: Die Erfassungskriterien für politisch bedeutsame Kriminalität wurden neu formuliert und im Ergebnis erweitert. Seit 2001 gelten auch diejenigen Delikte, die nicht auf eine Beeinflussung politischer Entscheidungen oder auf eine grundlegende Veränderung der Verfassungsordnung zielen, als politisch relevant (vgl. Singer 2004). Die Neufassung der Erfassungskriterien in der Folge einer öffentlichen Diskussion zeigt, daß "politische Gewalt" keine objektive, gewissermaßen ontologische Kategorie ist, sondern ein Etikett, über dessen Vergabe nach Maßgabe gesellschaftlich politischer Kräfteverhältnisse entschieden wird.
Die Fokussierung auf die angemessene Zuordnung einzelner Fälle zum "Rechtsextremismus" ist problematisch: Meistens wird in der öffentlichen Diskussion ausgeblendet, daß die behördliche Klassifikation eine verwaltungslogische Zuordnung und nicht schon eine Erklärung der jeweiligen Handlungen darstellt. Ursachen und Motive von Akteuren sind jedenfalls mit dem Attribut rechtsextrem nicht hinreichend erfaßt, sondern lediglich "kartiert". Für die Zwecke des polizeilichen Handelns und die Beobachtungsaufgaben des Verfassungsschutzes ist eine solche Feldvermessung möglicherweise ausreichend, aus analytischer Perspektive bleibt sie unbefriedigend.
Eine zweite Einschränkung ergibt sich aus dieser Überbewertung der Klassifikationslogik in der öffentlichen Diskussion: Das derzeit brauchbarste Konzept zur Analyse des Rechtsextremismus, das Konzept der sozialen Bewegung, berücksichtigt die Vielfältigkeit von Akteuren, Motiven und Handlungen, die teils aus der Akteurs-, teils aber auch nur aus der Beobachterperspektive verknüpft werden. Die damit verbundene Möglichkeit einer differenzierten Identifikation von vor- und außerpolitischen Aktivkernen innerhalb der rechtsextremen Bewegung wird verschenkt, wenn man die Fälle brutaler Gewalttaten a priori einer politischen Entstehungslogik subsumiert.
Die nachfolgende Darstellung des Mordfalles Marinus Schöberl rekonstruiert, wie sich das Verbrechen zugetragen hat. Dabei wird deutlich, daß seine Bewertung als rechtsextreme Tat die Aufmerksamkeit von anderen Phänomenen wegführen kann. Un- und antiziviles Verhalten, ein "Extremismus im Sozialverhalten" stellen eigenständige Phänomene dar, die sich mit politischem Rechtsextremismus kombinieren können, aber eben auch außerhalb einer solchen Verbindung Gegenstand der Forschung und vor allem der praktischen Bearbeitung sein sollten.

Tat und Tatbewertung

Am frühen Morgen des 13. Juli 2002, einem Samstag, wurde in Potzlow (Gemeinde Oberuckersee, Kreis Prenzlau, Uckermark/Brandenburg) der 16jährige Marinus Schöberl von drei jungen Männern brutal ermordet. Die alkoholisierten Täter hatten ihr Opfer zuvor mehrere Stunden lang im Nachbarort Strehlow beschimpft, gedemütigt und geschlagen. Sie versteckten die Leiche am Tatort, in den nicht mehr genutzten Stallungen einer früheren LPG am Ortsrand des kleinen Dorfes (rd. 600 Einwohner). Die Täter wurden Mitte November 2002 verhaftet, nachdem die Polizei über den Leichenfund informiert worden war.
Der ältere Täter, zum Tatzeitpunkt 23 Jahre alt, und einer der jüngeren (17 Jahre) sind Brüder, die seit Jahren in Potzlow leben. Der dritte, ebenfalls 17jährige, kannte den jüngeren Bruder aus einer Bildungseinrichtung, die theorieentlastete Ausbildungsgänge anbietet. Er war von seinem Mitschüler über das Wochenende nach Potzlow eingeladen worden.
Die Tat wurde von maßgeblichen lokalen Persönlichkeiten, von der überregionalen Presse und von Brandenburger wie Berliner Antifa-Kreisen als rechtsextreme Tat verurteilt: Der älteste Täter rechnete sich in Kleidung, Auftreten, Einstellungsbekundung und mit gewalttätigen Angriffen auf Minderheitenangehörige zur rechtsextremen Szene. Als der Mord entdeckt wurde, war er wegen der tätlichen Attacke auf einen Farbigen in Haft. Sein Bruder hatte in der Vergangenheit die Zugehörigkeiten zu verschiedenen Jugendkulturen mehrfach gewechselt: Er orientierte sich stark an seinem älteren Bruder und legte sich in der Regel dann ein "rechtsextremes Outfit" zu, wenn dieser aus der Haft entlassen wurde. Kurz vor der Tat war der Ältere aus der Haft entlassen worden. Der Dritte fand die rechtsextreme Jugendkultur attraktiv, er bevorzugte Rechtsrock-Musik und besaß szeneübliche Kleidungsstücke, die er dann trug, wenn er sich außerhalb des Einflußbereiches der Bildungseinrichtung bzw. seines Vaters bewegte.
Der Mordfall Schöberl hat mittlerweile eine traurige überregionale Berühmtheit erlangt. Er wird häufig als exemplarischer Fall von rechtsextremer Gewalt oder zur Veranschaulichung einer besonderen Verrohung im ländlichen Raum angeführt.

Die Dynamik des Tatgeschehens und ihre Voraussetzungen

Das Geschehen in der Tatnacht läßt sich rekonstruieren als ein komplexes Zusammenwirken verschiedener - nur analytisch isolierbarer - Gegebenheiten und Dynamiken. Generell lassen sich die an die Tatsituation gebundenen Entwicklungen unterscheiden von den Voraussetzungen, die unabhängig von der Tat existierten. Zu den erstgenannten gehören die sozialen Beziehungen der Beteiligten, die im Verlauf des Abends und der Nacht in besonderer Weise aktualisiert wurden und den Hintergrund für die Eskalation der Aggressionen bilden. Zu den allgemeinen Voraussetzungen gehört die unterschiedlich motivierte und unterschiedliche starke Orientierung der Täter an hypermaskulinen Gruppennormen. Dazu zählen Gewalttätigkeiten und ein hoher Alkoholkonsum. Spezifisch für die rechtsextreme Jugendkultur sind darüber hinaus Ausgrenzungs- und Liquidationsdiskurse.
Die Ermordung von Schöberl war das Resultat eines Eskalationsprozesses; sie war nicht die Ausführung eines im vorhinein gefaßten Entschlusses. Die Dynamik einer solchen situationsinternen Entwicklung fußt auf den situationsunabhängigen Voraussetzungen, ohne daß sie daraus im strikten Sinne abzuleiten wäre. Sie läßt sich im nachhinein als eine Geschichte, als eine in sich geschlossene Handlungsabfolge rekonstruieren, sie hätte aber zu verschiedenen Zeitpunkten abgebrochen werden können. Die Rekonstruktion der Eskalationsstufen ist mithin nicht als These einer inneren Zwangsläufigkeit des Geschehens zu verstehen.

Maskuline Szenen

Die rechtsextreme Jugendkultur, zu der die drei Täter unterschiedlich starke Affinitäten hatten, läßt sich beschreiben als eine besondere Variante des allgemeineren Typs der maskulinen Jugendkultur (vgl. u.a. Clarke 1976; Lenz 1991; Kersten 1997). "Jugendkultur" bedeutet, daß der soziale Zusammenhalt der lokalen Cliquen und der überörtlichen Szenen hergestellt wird über einen bestimmten praktizierten Stil des äußeren Auftretens, des Verhaltens, des Redens - kurz: über eine gelebte Praxis. Zugang und Zugehörigkeit erfolgen über das Mittun und über die Übernahme des dort anerkannten Stils oder eben die geteilte Praxis.
Der maskuline Stil ist geprägt von der Kultivierung eines bestimmten Männlichkeitsbildes, eines Typs traditioneller Männlichkeit, der durch ein risikosuchendes, dominierendes und körperbetontes Auftreten charakterisiert ist. Neben den Ausbrüchen aus der Ordnung des Alltags, einem offensiven Machtgebaren und einer aggressiven Körperlichkeit sind zwei bestimmte Mentalitätskomplexe typisch für maskuline Szenen: Sie verbinden ihre autochthone Orientierung (Territorialverhalten etc.) mit einer allgemeinen Fremdenfeindlichkeit, und sie kombinieren die Betonung von Männlichkeit mit einer dezidierten Feindseligkeit gegen "Unmännlichkeit". Für den Mord an Schöberl ist insbesondere die Aggression gegen "Unmännlichkeit" von Bedeutung. Damit verbindet sich die These, daß der Mord in einer zentralen Dimension über die Logik eines bestimmten Typs des "doing masculinity" verstanden werden kann.

Gewalttätigkeit

In der Vorstellungswelt und im Verhalten von maskulinen Jugendkulturen haben Gewalttätigkeiten eine große Bedeutung. Gewalttätiges Auftreten, rücksichtslose Durchsetzung, gewaltvermittelte Dominanz im öffentlichen Raum - das alles sind wichtige Elemente ihres intern als legitim geltenden Verhaltens. Das Leitbild körperlicher Gewalt zeigt sich in der Begeisterung für omnipotente Filmhelden sowie in einer vielfachen Ästhetisierung von Gewalttätigkeiten. Gewalt wird glorifiziert als besonders rasch und effektiv wirksame Aktionsform. Hier kommen die drei wesentlichen Eigenarten physischer Gewalttätigkeit, nämlich Voraussetzungslosigkeit, Allgemeinheit und Erfolgssicherheit, zum Tragen: Die "Sprache der Gewalt" ist leicht zu erlernen, sie wird von jedem und überall verstanden und sie führt unmittelbar zum Erfolg (vgl. Neidhardt 1986).

Aggressionen gegen "Unmännlichkeit"

Das in den maskulinen Kulturen praktizierte und normativ gültige Bild von Männlichkeit betont die traditionell als männlich geltenden Eigenschaften, also Stärke, Rationalität, Aktivität und Rigidität. Abgelehnt und attackiert werden die als weiblich geltenden Verhaltensweisen. Im wesentlichen sind dies kulturgeschichtlich tradierte Stereotype, die Weiblichkeit mit Schwäche, mit Passivität und Sensitivität und mit depressiven Gefühlsqualitäten (Angst, Traurigkeit und Peinlichkeit) gleichsetzen. Dieses Weiblichkeitsprofil wird vor allem bei Männern energisch abgelehnt.
Das gültige Bild von Männlichkeit ist Männlichkeit als Aversion gegen Unmännlichkeit. Charakteristisch für die Feindlichkeit ist die Konstruktion einer Bedrohung durch Unmännlichkeit und damit verbunden die Aggressivität gegen diejenigen, die Unmännlichkeit verkörpern. Die Träger von Merkmalen, die aus der Perspektive der Männlichkeit als unmännlich gelten, sind überwiegend Männer. Diese Aversion kann sich gerade bei adoleszenten jungen Männern in einer ausgeprägt antihomosexuellen Haltung und Verhaltensweisen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen auf tatsächliche oder vermeintliche Homosexuelle dokumentieren. "Hypermaskuline Männlichkeit" besteht wesentlich auch in der Feindschaft gegen "Unmännlichkeit".

Droge Alkohol

Jede Jugendkultur hat ihre spezifischen legalen oder illegalen Drogen. In der maskulinen Jugendkultur wie in ihrer rechtsextremen Variante ist Alkohol die wichtigste Droge (vgl. Rieker 2002). Alkohol dient als Distinktionsmerkmal, um sich durch den Konsum von deutschem Bier von "linken" Jugendlichen abzugrenzen; Alkohol fungiert darüber hinaus als wichtiges Mittel zur Herstellung von Gemeinsamkeit, zur Regelung der sozialen Beziehungen und zur Festigung der Hierarchien innerhalb der jugendlichen Gruppen.
Die Bandbreite des exzessiven Alkoholkonsums reicht "von habituellem Trinken als Teil entsprechender Jugendkulturen, die sich auf diese Weise von anderen Jugendlichen abgrenzen, über Trink-Wettkämpfe zur Vergewisserung der Männlichkeit bis hin zum Enthemmungs-Trinken im Vorfeld fremdenfeindlicher Gewalttaten" (ebd.).

Rechtsextreme Jugendkultur

Als eine Form der (hyper-)maskulinen Jugendkultur teilt die rechtsextreme Jugendkultur zentrale Merkmale mit anderen männlichkeitsdominierten Szenen wie den Rockern, den Hooligans oder den Skins. Und wie für alle Jugendkulturen gilt auch für die rechtsextreme Jugendkultur, daß sie ihre Identität lokal und medial sichtbar in einem Kosmos von Symbolen und Emblemen ausdrückt. Sie unterscheidet sich von anderen Szenen durch die Herkunft und die Bedeutung dieser Zeichen. Diese stammen aus den politischen Bewegungen der extremen Rechten bis hin zum Nationalsozialismus; ihre Funktion bewegt sich in einem Spektrum zwischen Provokation und authentischem Gesinnungsausdruck. Angehörige dieser Jugendkultur haben folglich nicht zwingend ein rechtsextremes Weltbild; man kann auch aus einer Zugehörigkeit zu dieser Kultur nicht darauf schließen, daß deren Angehörige zweckrational handeln oder daß sie auf das politische System einwirken wollen. Die rechtsextreme Jugendkultur ist vielmehr als ein Misch- und Übergangsfeld von szenekulturellem Eigensinn und politischem Protest zu verstehen (vgl. Hennig 1980; Knaust/ Linnemann 1984; Paris 2000).

Ausgrenzungs- und Liquidationsdiskurse

Für Jugendkulturen ist charakteristisch, daß sie typische Drogen, eigene Musik, ein besonderes Outfit und auch eigene Kommunikationsmedien und Themen haben. Wie die Fußballfans oder die Punks hat auch die rechtsextreme Jugendkultur ihre "Fanzines", also szeneintern vertriebene Printmedien in kleiner Auflage. Ein fester Bestandteil vieler rechtsextremen Fanzines und Musikstücke ist der Antisemitismus, der in Texten, in Bildern und in Liedern kommuniziert wird (vgl. Erb 2001). Sie zeichnen ein Bild des Juden, das ihn als umfassende Bedrohung und als Unperson darstellt: Die antisemitische Kommunikation konstruiert damit eine phantasmatische Gestalt, die die Fäden der globalen Macht in der Hand hält, die Staaten für ihre Zwecke instrumentalisiert und die Völker kulturell enteignet. Die vermeintlich unheimliche und nicht ohne weiteres durchschaubare Macht "des Juden" zu enttarnen, ist die eine Seite dieses Antisemitismus. Die andere besteht darin, ihn aus der Gemeinschaft der Staatsbürger und damit des Bürgerrechts und aus der Gemeinschaft der Menschen und damit aus dem Schutzbereich der Menschenrechte auszuschließen. "Er ist kein Mensch, er ist ein Jud‘", heißt es in dem Lied "Kein Mensch" auf der CD "Herrenrasse".
Das Wort Jude wird zum Synonym für den dehumanisierten Feind, den zu hassen ein moralisch gerechtfertigtes Gefühl ist. Handlungspraktisch bedeutet die Stilisierung "des Juden" zum Feind die Zulässigkeit von Aggressionen gegen diesen Feind. Gegen eine übermächtige Bedrohung, die auf die eigene kollektive Identität zielt, wird ein Recht auf Notwehr geltend gemacht. Das zweite inhaltliche Element charakterisiert "den Juden" als Unperson, als ein Wesen, das nicht zur menschlichen Gemeinschaft gehört und dessen Behandlung insofern nicht an die gültigen moralischen Normen oder die Gesetze gebunden ist. Die Verknüpfung von "Feind" und "Unperson" legitimiert Ausgrenzung und entregelte Gewalttätigkeit. Die pejorative Verwendung von "Jude" mündet nicht zwingend in Ausgrenzung oder in Gewalttätigkeiten. Sie kann allerdings Verachtung fördern und Gewalthemmungen reduzieren.

"Bordsteinkick"

Der "Bordsteinkick" ist kein Handlungsschema, das man - wie etwa das Schlagen mit oder ohne Gegenständen - aus dem Alltag kennt. Auch in den maskulinen Jugendkulturen, selbst in der rechtsextremen Jugendkultur gehört er nicht zu den durchschnittlich praktizierten Arten körperlicher Angriffe. Der Bordsteinkick ist eine besonders brutale und folgenreiche Körperverletzung, bei der schwerste Schäden die Regel sind. In den Jugendcliquen spricht man darüber mit der Faszination am Extremen, wie sie sich auch an anderen besonders brutalen oder spektakulären Körperverletzungen entzündet.
Einem breiteren Publikum wurde dieses Handlungsschema vor allem durch den US-amerikanischen Spielfilm "American History X" des Regisseurs Tony Kaye bekannt. Dieser Film lief in den USA im Oktober 1998 an und war in Deutschland seit Februar 1999 in den Kinos. In diesem Film tötet der rechtsextreme Skinhead Derek Vinyard einen farbigen Autodieb auf diese Weise. "American History X" wurde kurz vor der Tat von einem privaten Fernsehsender ausgestrahlt. Vielen der vor Gericht vernommenen Zeugen war der Film und auch die Bezeichnung "Bordsteinkick" bekannt.

Besondere Voraussetzungen: Das Verhältnis der Täter untereinander

Einen wichtigen Anteil am Zustandekommen der Ermordung hat das Verhältnis der drei Täter untereinander. In der Mitte stand der jüngere Bruder als Bindeglied zwischen dem Ausbildungskollegen und seinem Bruder. Diese beiden lernten sich erst am Nachmittag des Tattages kennen. Die Gruppenzugehörigkeit und Selbstdarstellung des jüngeren Bruders war relativ offen. Der Wechsel in seiner äußerlichen Gestalt anläßlich der Haftentlassung seines Bruders ist ambivalent: Einerseits drückt er mit seinem neuen Outfit seine Freude über das Wiedersehen aus. Andererseits scheint er auch befürchtet zu haben, als Hip-Hopper in der Achtung seines Bruders zu sinken. Sein Verhältnis zu seinem Bruder kann als eine "Angst-Faszination" beschrieben werden.
Der jüngere Bruder trat im örtlichen Kinder- und Jugendzentrum wie in der Bildungseinrichtung defensiv und zurückhaltend auf. Er war dort als Konsument legaler wie illegaler Drogen bekannt, nicht aber als aggressiv oder gewalttätig. Alle Interviewten, die den jüngeren Bruder kannten, waren überrascht, daß er der Haupttäter war und nicht - wie sie vermutet hatten - der ältere Bruder. Wenn die Gewalttätigkeit nicht zum typischen Verhaltensprofil des Jüngeren gehörte, er sich also in der Tatnacht eher untypisch verhalten hat, stellt sich die Frage nach den Ursachen des für ihn fremden Verhaltens.
Der ältere Bruder wurde Anfang Juli 2002 aus der Haft entlassen. Der jüngere betrachtete ihn als sein Vorbild und richtete sich nach dessen Habitus und Szeneorientierung aus. Damit orientierte er sich nun aber an jemanden, dessen Wunsch nach Anerkennung und wirklicher Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene nicht in Erfüllung ging, und der diese Frustration durch Drogen und betont aggressives Auftreten kompensierte. Es war im Dorf bekannt, daß er nach Alkoholkonsum leicht zum Schläger wurde. Bekannt war auch, daß er zwar versuchte, in Verbindung mit weniger aktionistischen Rechtsextremen zu kommen, dort aber kaum Anerkennung gefunden hatte. Dies hing auch mit seiner eingeschränkten Intelligenz, seiner mangelnden Selbstkontrolle und seiner hohen Gewaltbereitschaft zusammen, die ihn auch für diese Kreise zum Risiko machte. Unter der Dorfbevölkerung hatte er ein schlechtes Image. Seit die Familie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nach Potzlow gezogen war, galt er als jemand, der seine geringe soziale Achtung über Normenverstöße zu kompensieren suchte. Innerhalb der jugendlichen Szenen wird der ältere Bruder als potentiell gewalttätig angesehen, zugleich aber auch nicht wirklich anerkannt, da er sich nicht auf der Höhe der Zeit bewegt. "Rechtsextremismus" im Sinne eines äußerlich dargestellten und praktizierten Stils der Vergemeinschaftung unter Jugendlichen sei heute - so einige der jugendlichen Interviewten - "nicht mehr angesagt".
Stärker als der jüngere Bruder war sein Ausbildungskollege auf die rechtsextreme Jugendkultur ausgerichtet. Er besaß und hörte Rechtsrock-Musik und bekundete auch sonst seine Nähe zu dieser Szene. Der ältere Bruder verkörperte für ihn die männliche Härte, die er selbst nicht ausgelebt hat. Ebenso wie der jüngere Bruder war auch der dritte Tatbeteiligte vor der Tat nicht durch besondere Gewalttätigkeiten aufgefallen.
Der dritte Beteiligte folgte den Vorgaben des Ältesten, weil er sich als Sympathisant der rechtsextremen Jugendkultur an dem dort geltenden Habitus orientiert und sich gegenüber dem Älteren, einem "anerkannten Schläger", positiv darstellen möchte. Mit seiner aktiven Rolle bei den Drangsalierungen von Schöberl zeigte er seinem Vorbild, daß auch er den gruppeninternen Standards der Maskulinität, der eigenen Härte und der Aggression gegen das Weiche und Schwache entspricht.
Die Eskalation der Tatnacht wurde auch durch die Erwartungen gefördert, die aus der sozialen Konstellation der drei jungen Männer erwuchsen: Der jüngere wollte dem älteren Bruder zeigen, inwieweit auch er den Gruppennormen maskuliner Szenen entspricht. Seine Suche nach einem festen Profil richtete sich mit der neuen Präsenz des haftentlassenen Bruders an dessen Schlägerstil aus. Seinem Besucher versuchte er etwas zu bieten: Der ältere Bruder galt als Repräsentant der rechtsextremen Schlägerszene und war damit für den dritten Beteiligten eine Orientierungsgröße. Er selbst verhält sich im Verlauf der Nacht in einer Weise, als ob er sein defensives Auftreten in der Bildungseinrichtung konterkarieren möchte.
Beide Brüder konnten sich ihrem Gast gegenüber als Kerle präsentieren, die einen Abend nicht einfach nur vertrinken, sondern die wirklich etwas "losmachen": Sie dringen bei den Nachbarn ein, sie organisieren spät noch Alkohol und sie haben die Macht und die Skrupellosigkeit, einen Bekannten zum "Juden" zu machen. Mit ihrer Rücksichtslosigkeit demonstrieren sie sich selbst und dem auswärtigen Besucher, wie wenig sie sich an die normalen Verhaltensstandards gebunden fühlen.
Beim dritten Tatbeteiligten wurde seine zuvor bereits bestehende Szeneorientierung die Brücke zur Tatbeteiligung: Er fühlte sich verpflichtet, diesen bis dahin erst nur symbolisch erhobenen Zugehörigkeitsanspruch auch durch eigenes Verhalten einzulösen.
Die beiden jüngeren Täter wurden somit von unterschiedlichen Wünschen und Selbsterwartungen geleitet, deren Aktualisierung an die konkrete soziale Situation, insbesondere die Anwesenheit des älteren Bruders gebunden war. Dieser hat das Verhalten der beiden Jüngeren nicht intentional gesteuert, sein Image und seine Funktion als persönliches Vorbild bzw. als Repräsentant einer rechtsextremen Maskulinität aber haben dem Handeln der beiden Jüngeren die Richtung gewiesen.
Die zentrale Funktion des Älteren war es, einen Anfang zu setzen. Er war es, der als erster gegen Schöberl aggressiv wurde und der damit das spätere Geschehen einleitete. Ausschlaggebend dafür war sein vorheriger Alkoholkonsum. Dies war ein für ihn typisches und auch gerichtlich mehrfach festgestelltes Verhaltensschema.

Der Eskalationsprozeß im ganzen

Der Tatverlauf erklärt sich vor allem über die Eigendynamik der sozialen Interaktion zwischen den Beteiligten und einer Eskalation, die aus verschiedenen Gründen (Tatzeit, subjektive Bedrohung der Zeugen, Lage des Tatorts) von keinen äußeren Interventionen unterbrochen wurde.
Mit dem Wechsel von der ersten Zechstation des Abends zur zweiten begannen die körperlichen Aggressionen. Einen konkreten Konflikt hat es nicht gegeben. Entscheidend scheint auch nicht der Anlaß gewesen zu sein. In der Interaktion zwischen den vier jungen Männern ging es den beiden Hauptakteuren um eine Demonstration ihrer sozialen Macht, deren Ausmaß sie mit den Tätlichkeiten unter Beweis stellten. Der Gast initiierte die Aggression nicht und war anfangs auch verwundert über die Feindseligkeit und die Drangsalierungen des Opfers. Im Verlauf der Attacken aber orientierte er sein Verhalten an dem älteren Bruder und beteiligte sich aktiv an den Mißhandlungen der zweiten Eskalationsstufe.
Die eigene Macht wurde gegenüber den erwachsenen Trinkern demonstriert, in viel extremerer Weise aber gegenüber Schöberl. Im Fortgang des Abends wurde er immer stärker zu einem Medium der Macht: Während es bei der ersten Zechrunde bei verbalen Aggressionen gegen Schöberl blieb, war Station zwei von Demütigungen und körperlichen Attacken geprägt. Allerdings weist hier nichts auf eine im vorhinein bestehende Absicht hin, Schöberl zu töten.
In ihrem Verhalten orientierten sich die drei Täter am Männlichkeitshabitus der rechtsextremen Jugendkultur und dessen antifemininem Männlichkeitskonzept. Vor diesem Hintergrund spielten die äußere Erscheinung von Marinus Schöberl und seine Kleidung eine wichtige Rolle: Schöberl war ein schmächtiger junger Mann mit weichen Gesichtszügen und einem kleinen Sprachfehler. Von anderen jungen Leuten aus der Gemeinde Oberuckersee wurde er als freundlicher und harmloser Zeitgenosse beschrieben. Er gehörte nicht zu denjenigen, die im Ort als aggressiv oder gar als Schläger bekannt waren. Anders als die drei Täter trug er seine Haare länger. Sie ließen sich die Köpfe kahlscheren und brachten damit symbolisch eine forcierte Männlichkeit zum Ausdruck. Schöberl dagegen trug weite Hosen und hatte sich die Haare gefärbt. Er dokumentierte damit vielleicht auch eine Zugehörigkeit zu der Hip-Hopper-Szene, auf jeden Fall aber praktizierte er eine eher ästhetisch akzentuierte und auch spielerische Selbstdarstellung: Das Färben der Haare ist ein Akt bewußter Veränderung, der idealtypisch ein weibliches Verhalten repräsentiert.
Schöberl wurde gezwungen, eine hochprozentige Mischung von Bier und Schnaps zu trinken. Schöberl wurde damit geprüft, ob er, wie man landläufig sagt, "etwas verträgt", ob er "etwas aushält", ob er also imstande ist, gegen sich selbst Härte zu beweisen und seinen Widerwillen gegen das widerliche Gesöff überwinden kann.
Schöberl wollte und konnte diesen "Männlichkeitstest" nicht bestehen. In den Augen der drei Täter hatte er damit gezeigt, daß er nicht wirklich zu ihnen gehörte: Er war kein richtiger Mann, er hielt nichts aus, er war ein Weichling. Ihm wurde so übel, daß er mehrfach die Terrasse verlassen mußte. Dabei wurde er jeweils von einem oder mehreren der Täter begleitet. Während einer dieser Zwangspausen urinierte mindestens einer der Täter auf den am Boden liegenden Schöberl.
Das Urinieren auf Symbole ist ein bekanntes Verhalten, um mit deren Verachtung zugleich die Verachtung der Gruppen auszudrücken, für die das Symbol eine Bedeutung hat (vgl. Gaßebner 2003). Das Urinieren auf lebende Personen ist ein historisch wie aktuell bekannter Akt der Depersonalisierung, mit dem sie zum bloßen Objekt herabgewürdigt werden. Jüngstes Beispiel sind die Folterungen von irakischen Gefangenen durch Angehörige der US-amerikanischen und der britischen Armee.
Dies ist eine wichtige, jedoch nicht die einzige Bedeutung, die der Akt des Urinierens auf Personen haben kann. Im Zusammenhang mit der Darstellung der eigenen Hypermaskulinität und dem damit verbundenen Männlichkeitstest, dem Schöberl zwangsweise unterzogen wurde, wird noch eine andere Facette sichtbar: Schöberl war bei den Dreien als Mann "durchgefallen".
Durch den anschließenden Akt des Urinierens wurde dies in besonderer Weise bekräftigt: Der am Boden, also "unten liegende", unmännliche Schöberl wurde in einem weiteren Schritt als Repräsentant der verachteten Unmännlichkeit definiert, indem (mindestens) einer der Täter über ihm seinen Penis entblößte und ihn "markierte". In symbolischer Form wurde Schöberl damit sowohl als unterlegene "Frau" definiert; zugleich wurde eine symbolische Vergewaltigung vollzogen. Die Bedeutung dieses Aktes lag nicht in der sexuellen Befriedigung der Täter, sondern in der Machtausübung und der Selbstinszenierung als überlegene Subjekte. Die Markierung mit Urin ist dabei als ein für die sinnliche Wahrnehmung evidenter Beweis für die Machtpotenz des Akteurs zu verstehen. Schöberl war als Mann durchgefallen und konnte deshalb die Funktion übernehmen, die Unmännlichkeit für den weiblichkeitsfeindlichen Typ von Männlichkeit hat: Sie ist Objekt seines Willens und in ihrer Unterlegenheit das erforderliche Korrelat und Konstituens seiner Überlegenheit.
Eine wesentliche Dimension des Falls läßt sich als das Ausagieren einer weiblichkeitsfeindlichen Maskulinität beschreiben. Schöberl entsprach nicht den klassischen Feindbildern, wie man sie aus der politisierenden Betrachtung der rechtsextremen Jugendkultur kennt: Er war kein Farbiger, kein Asylbewerber, kein "Linker" und kein Verräter aus den eigenen Reihen, aber er wurde als das Gegenbild zur eigenen sehr traditionell und eng gefaßten Männlichkeit wahrgenommen. Seine Fremdheit wurde auch geschlechtlich definiert.
Die Aufforderung der Täter an Schöberl, sich als "Jude" zu bekennen, zeigt im Zusammenhang der gegen ihn gerichteten Aggressionen, daß sie "Jude" in einer pejorativen Bedeutung verwendeten und damit eine soziale Ausgrenzung verbanden. Diese aggressionslegitimierende Verwendung ist eine Übernahme aus dem rechtsextremen Diskurs.
Die Zuschreibung der Andersartigkeit und Nichtzugehörigkeit sollte das Opfer selbst vollziehen. Darin wird die Funktion als Legitimation einer Aggression überdeutlich: Die Akteure zwingen den bereits als Außenseiter Definierten, seinen Status mit einem eingeführten Ausgrenzungsterminus zu ratifizieren. Diese erzwungene Selbstausgrenzung bietet ihnen die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten nicht als initiative Aggression zu verstehen, sondern als Reaktion auf eine aktive Definition des Opfers. Mit der Zuschreibung "Jude" produzieren die Täter einen Status des Ausgegrenzten, mit dem sie bestehende Hemmschwellen weiter absenken. Die Täter schaffen sich damit - gleichsam in einer Spiralbewegung der Radikalisierung - eine weitere Voraussetzung für die kommenden Drangsalierungen.
Auf dem Weg von Strehlow nach Potzlow schlug der älteste Täter laut Polizeivernehmung vor, Marinus noch "etwas Angst einzujagen". Was dem ersten Eindruck nach als verharmlosende Schutzbehauptung erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein Akt "sprachlicher Gewaltenthemmung" (Hermanns 1996). Er enthemmt die Akteure, da er die Folgen der Gewalt ausblendet und sie damit verharmlost: "Wir wollten ihm noch ein bißchen Angst einjagen" bedeutet, daß noch nicht genug passiert war, so daß man die Aggressionen fortsetzen wollte. Deutlich macht dieser Satz auch, daß wohl die Absicht, nicht aber die Mittel ihrer Verwirklichung feststanden. So klar es war, wem Angst gemacht werden sollte, so offen war das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten. "Angst einjagen" kann sehr vieles heißen und vom momentanen Erschrecken bis zur systematisch erzeugten Todesangst reichen. Die aus der Erinnerung der Täter formulierte Absicht scheint den diffusen Horizont ihrer Erwartungen gut zu beschreiben: Die Drangsalierungen sollten weitergehen, und man würde sich etwas einfallen lassen. Diese Struktur abstrakter Selbsterwartungen ist ein wichtiges Element in der Erklärung der Steigerung der Attacken. Angst hatte er ja spätestens seit den Angriffen bei der zweiten Station des Abends, so daß weitere Angst nur erzeugt werden konnte über neue, bislang nicht praktizierte Quälereien. Die Täter wußten selbst nicht, was ihnen noch alles einfallen würde, aber sie hatten sich mit der Idee "Wir wollten ihm noch ein bißchen Angst einjagen" darauf festgelegt, neue Brutalitäten zu kreieren. Mit der Sprechhandlung hatten sie einen Handlungsrahmen geschaffen, den es nun auszufüllen galt: Jeder der drei war gefragt, mit neuen aggressiven Ideen den anderen beiden zu imponieren, seiner Phantasie Raum zu geben, um damit dem allgemeinen Motto "Angst einjagen" konkret zu entsprechen.
Station drei steigerte die Macht- und Gewalt-Eskalation, indem die Täter die eigenen Gewalttätigkeiten und Bedrohungen durch das Zitat der Filmszene verstärken. Da - vielleicht mit Ausnahme des älteren Bruders - allen die fragliche Filmszene bekannt war, konnten die Täter die Faszination dieser verabsolutierten Machtausübung für die eigene Selbstdarstellung nutzen.
Die Machtausübung als solche und der Genuß dieser Macht bestimmten das Handeln der Täter. Das Fehlen von Handlungszielen, die über den Tatvollzug selbst hinausreichen, hat für die Erklärung der Tat eine negative Bedeutung. Damit kann die Frage beantwortet werden, warum es überhaupt eine Steigerung gab und warum die Abfolge der Gewalttätigkeiten nicht unterbrochen wurde: Es gab eben keinen positiven Grund aufzuhören.
Warum aber wurde weitergemacht? Der Gewaltexzeß des Bordsteinkicks verschafft, wie dies Wolfgang Sofsky für Gewaltexzesse generell festgestellt hat, dem Täter ein spezifisches und auf anderem Wege nicht erreichbares Selbstbewußtsein. "Er überspringt alle inneren und äußeren Schranken. Indem er das Opfer zu einem Körper, schließlich zu einem reaktionslosen Ding macht, erlangt er die Gewißheit, zu allem fähig zu sein. Der Exzeß ist ein Akt ungehemmter Selbstexpansion." (Sofsky 1990) Mit dem Bordsteinkick macht sich der Täter zu einem bösen Gott.
Die konkrete Tatausführung ist aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung. Der Tod Schöberls stellt sich als Resultat einer besonderen Attacke in der Reihe der Angriffe dar, einer Attacke allerdings, deren konkrete Form tödlich war. Wäre der Haupttäter nicht auf die Idee verfallen, seine Überlegenheit im Nachstellen der Ausgangssituation des "Bordsteinkicks" darzustellen, wäre es vermutlich zu weiteren körperlichen und seelischen Verletzungen von Schöberl gekommen, aber nicht zu seiner Tötung. Das Bild des vor ihm liegenden Schöberl ließ den Haupttäter die letzte Distanz zu seinem eigenen Tun überspringen und das Handlungsschema des "Bordsteinkicks" vollständig ausführen. Der Haupttäter hat sich - seiner Erinnerung zufolge - nicht bewußt für oder gegen etwas entschieden. Er hatte eine Art von ichlosen Zustand erlebt, in dem es keine Distanz zwischen seinem Tun und seinem kontrollierenden Ich mehr gab. Er ging in der Aktion auf. Man kann diese Verschmelzung mit Csikszentmihalyi als ein "autotelisches Erleben" und damit das völlige Aufgehen des Handelnden in seiner Aktivität bezeichnen (vgl. Csikszentmihalyi 1985).
Die Vollendung der Eskalation, der Schritt von der Simulation des Bordsteinkicks zu seiner wirklichen Ausführung, hatte die drei Tatbeteiligten wieder in die Realität zurückgeholt. Der ältere Bruder befürchtete in Verkennung der tödlichen Verletzungen, das Opfer könne sie gegenüber der Polizei belasten. Zur Verdeckung der Tat müsse Schöberl ausgeschaltet werden. Die beiden Brüder töteten daraufhin Schöberl mit schweren Steinen. Anschließend vergruben sie die Leiche in einer der verfüllten Güllegruben.

Resümee

Die seit Jahren mit erheblichen öffentlichen Mitteln geförderte kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus wird im wesentlichen durch zwei Momente beeinträchtigt. Mit ihrer "Feindfixierung" bleibt sie bloße Kritik und formuliert kein eigenständiges Ziel, das ohne die Existenz dieser Herausforderung Bestand hätte. Demokratie ist mehr und anderes als ihre Verteidigung, Zivilcourage ist nicht die Substanz, sondern lediglich ein Element von Zivilgesellschaft. Dessen ungeachtet ist es weithin gelungen, "Rechtsextremismus" als Thema einer Problemsemantik höchster Dringlichkeit zu etablieren. Dieser Erfolg der "Bewegung gegen Rechts" führt allerdings in der Tendenz dazu, daß die politisierende Kategorisierung von Gewalttaten als Rechtsextremismus überdehnt wird oder - was auf das gleiche hinausläuft - die Selbständigkeit und die Eigenart der großflächig als rechtsextrem apostrophierten Phänomene unterbelichtet wird.
Die Analyse des Mordfalls Schöberl ist geeignet, die Grenzen dieser skandalisierenden Rechtsextremismusbekämpfung aufzuzeigen, indem gerade auch die nichtpolitischen Wirkkräfte in den Blick kommen: Das Verbrechen geht auf eine besondere soziale Beziehung zwischen den drei Tätern zurück, die durch die Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit geprägt war. Die unterschiedlich starken individuellen Fähigkeiten, eigene Emotionen zu reflektieren, stoffliches Suchtverhalten und aggressive Impulse zu kontrollieren, haben die Ausgangskonstellation in Richtung auf fremdschädigendes Verhalten hin entgrenzt. Für die weitere Eskalation war der Erwartungs- und Erfahrungsraum jugendkultureller Praktiken maßgeblich, wie er sich als eine Inszenierung hypermaskuliner Männlichkeit beschreiben läßt: Die Ausgrenzung und Etikettierung des als unmännlich geltenden männlichen Opfers erfolgte über die Bezeichnung als "Jude". In dieser Bezeichnung kreuzen sich die antisemitische Weltanschauung des Rechtsextremismus und die Verachtung des "Unmännlichen". "Jude" wird in Jugendszenen häufig nicht als Bezeichnung einer religiösen Gruppe, sondern als generalisiertes Synonym für Opfer und unmännliche Schwäche verwendet.
Unterscheiden läßt sich die Ausgangssituation von der Dynamik des Fortgangs. Am Anfang standen die Aggressionen des älteren Täters, die unmittelbar auf dessen Kontrollverlust infolge des erhöhten Alkoholkonsums zurückgingen. Das weitere Geschehen läßt sich als Eskalation beschreiben, für die die Lust der Machtausübung sowie eine Rationalisierung durch die Etikettierung maßgeblich waren (vgl. Sutterlüty 2002; Graser/Fittkau 2004). Die kommunizierte Exklusionsbegründung stammte aus der rechtsextremen Kommunikation, während für das Exklusionsmotiv ein politischer Kontext gerade fehlt. Es läßt sich genauer verstehen aus der Analyse des Bedürfnisses, "daß noch etwas passieren muß". Anders gesagt: Ohne Thematisierung der Langeweile, das "Erlebnis einer ziellosen Strebung", wird es keine befriedigende Erklärung von nicht-instrumentellen Gewaltakten geben (Revers 1949: 44). Gewalttätigkeit ist eine mögliche Bewältigung der Erfahrung einer "erfüllungslosen Bedürftigkeit" - gerade weil sie wie wenige andere Handlungsweisen das unmittelbare Erlebnis der eigenen Selbstwirksamkeit garantieren und nahezu voraussetzungslos praktiziert werden kann (vgl. Klinkmann 1982).
Die Analyse des Mordfalls Schöberl zeigt, daß es nicht der Unterstellung weitgespannter politischer Motive bedarf, um ein scheußliches Verbrechen zu erklären. Triviale Umstände können zu spektakulären Taten führen. Eine andere - theoretisch wie praktisch relevante - Frage bezieht sich indes nicht auf die Erklärung eines Mordes, sondern auf die Verhinderung von Zuständen, in denen aus Langeweile, forciertem Alkoholkonsum, maskulinen Identitätsinszenierungen und rechtsextremen Feindbildern eine Gefahr für Leib und Leben entsteht.

Literatur

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Csikszentmihalyi, Mihaly: Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen (1975). Stuttgart: Klett-Cotta 1985
Erb, Rainer: Der ewige Jude. Die Bildersprache des Antisemitismus in der rechtsextremen Szene. In: Archiv der Jugendkulturen (Hg.), Reaktionäre Rebellen. Rechtsextreme Musik in Deutschland. Bad Tölz 2001, S. 131-156
Gaßebner, Martina: Gruppen, Szenen, Parteien. In: Wahl, Klaus (Hg.), Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 171-197
Graser, Peter/Fittkau, Karl-Heinz: Töten ohne Anlass. Ein soziologisches Modell der Gruppentötung durch Jugendliche und Heranwachsende. In: Kriminalistik 59 (2004) 8-9, S. 533-541
Hennig, Eike: Jugendprotest und Rechtsextremismus: Gestern und heute. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 9 (1980) 4, S. 211-214
Hermanns, Fritz: "Bombt die Mörder nieder!" Überlegungen zu linguistischen Aspekten der Erzeugung von Gewaltbereitschaft. In: Diekmannshenke, Hajo/Klein, Josef (Hg.), Wörter in der Politik. Analysen zur Lexemverwendung in der politischen Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 133-161
Kersten, Joachim: Die Gewalt der Falschen. Opfermentalität und Aggressionsbereitschaft. In: Farin, Klaus (Hg.), Die Skins. Mythos und Realität. Berlin: Ch. Links 1997, S. 96-117
Klinkmann, Norbert: Gewalt und Langeweile. In: Kriminologisches Journal 14 (1982) 4, S. 254-276
Knaust, Manfred/Linnemann, Lutz: Das Bremer Fan-Projekt. Sozialpädagogik im Umfeld des Profi-Fußballs. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Gesellschaftliche Funktionen des Sports. Beiträge einer Fachtagung. Bonn: Bundeszentrale 1984, S. 244-265
Lenz, Karl: Kulturformen von Jugendlichen: Von der Sub- und Jugendkultur zu Formen der Jugendbiographie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/1991, S. 11-19
Neidhardt, Friedhelm: Gewalt - Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs. In: Bundeskriminalamt (Hg.), Was ist Gewalt? Auseinandersetzungen mit einem Begriff, Bd. 1. Wiesbaden: BKA 1986, S. 109-147
Paris, Rainer: Schwacher Dissens - Kultureller und politischer Protest. In: Rucht, Dieter/Roth, Roland (Hg.), Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? Opladen 2000, S. 49-62
Revers, Wilhelm Josef: Die Psychologie der Langeweile. Meisenheim: Westkulturverlag 1949
Rieker, Peter: Alkohol in rechtsextremen Jugendszenen. Ausdrucksformen, Hintergründe und Möglichkeiten der Intervention. in: Abhängigkeiten 8 (2002), S. 18-28
Singer, Jens Peter: Erfassung der politisch motivierten Kriminalität. In einem neuen Definitionssystem mit mehrdimensionalen Analysemöglichkeiten. In: Kriminalistik 59 (2004) 1, S. 32-37
Sofsky, Wolfgang: Absolute Macht. Zur Soziologie des Konzentrationslagers. In: Leviathan 18 (1990) 4, S. 518-535
Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt a.M.: Campus 2002

Dr. Michael Kohlstruck, Politikwissenschaftler, Technische Universität Berlin
M.A. Anna Verena Münch, Ethnologin, Humboldt-Universität zu Berlin