Notwendige Verbreiterung, inhaltliche Bündelung

Die Weltsozialforen nach Mumbai

Das vierte Weltsozialforum (WSF) in Mumbai im Januar 2004 hat eine zweite Etappe des "Prozesses von Porto Alegre", mit anderen Realitäten, neuen Ergebnissen und Fragen eröffnet. ...

... Zu den drei Pfeilern Lateinamerika, Europa und Nordamerika kam diesmal Asien hinzu. Unter den Delegationen vom gesamten asiatischen Kontinent gab es - wie von vielen bemerkt wurde - eine starke pakistanische und z.B. eine facettenreiche vietnamesische Beteiligung. Die erstmalige Veranstaltung des WSF außerhalb Lateinamerikas zeigte einerseits die Potenziale dieser neuen politischen Form, neue Inhalte und Akteure aufzunehmen, und anderseits die Notwendigkeit, Inhalte und Formen weiter zu entwickeln. Die Debatte über die Zukunft des Prozesses kommt jetzt nicht nur im Internationalen Rat des WSF, sondern unter den Beteiligten selbst in Gang.
Viele Delegierte aus Europa wurden zum ersten Mal mit der Brutalität der Widersprüche in Indien und der kapitalistischen Globalisierung in diesem Teil der Welt konfrontiert - auch die Lateinamerikaner waren von der Massivität und Extremität des Elends überrascht - und konnten die vielfältige und aktive indische und z.T. auch asiatische Sozialbewegung kennen lernen. So wurde an einem Ort, den die Presse "Paradies der Delokalisierungen" nannte, gemeinsam über Konsequenzen der neoliberalen Politik für unsere Gesellschaften diskutiert.

Formen und Inhalte des Forums waren von diesen Schocks der Realitäten stark geprägt. Sie provozierten eine direktere, mehr auf die Wirklichkeit bezogene, oft auch politischere Diskussion. Gab es in Porto Alegre eine doppelte Struktur mit großen Massendemonstrationen auf der einen Seite und einem sehr arbeitsamen, intellektuell geprägten WSF - 70% der TeilnehmerInnen in Porto Alegre haben die Universität erreicht, 10% einen universitären Abschluss - auf der anderen Seite, fand in Indien (40% der Bevölkerung sind Analphabeten) alles gleichzeitig statt. Auf dem sehr dürftigen, aber durchaus den Bedürfnissen des WSF entsprechend ausgestatteten Terrain (im Unterschied zu Porto Alegre und den Europäischen Sozialforen wollte die politisch rechts ausgerichtete Stadtverwaltung von Mumbai das WSF nicht fördern) fand ein doppeltes WSF statt: drinnen in den Hallen, den improvisierten Zelten und draußen, auf der Straße. Demonstrationszüge aus den verschiedenen Gegenden Indiens und Asiens - viele Delegierte waren tagelang in Bussen und Zügen zum WSF gefahren - durchzogen ständig mit Gesängen, Transparenten und künstlerischen Darbietungen das Gelände, während andere Konferenzen besuchten oder Seminare abhielten. Darunter (nach Branchen) gewerkschaftlich organisierte Männer und Frauen sowie Bauern. Sehr aktiv in vielen Fragen waren draußen und drinnen die Frauen. Wohl am beeindruckendsten waren die täglichen Umzüge der Kinder. Großformatige Zeichnungen auf Transparenten erklärten mit großer Deutlichkeit den Inhalt der Kämpfe. Ein Beispiel: Im einzigen Land der Welt, in dem mehr Männer als Frauen leben (927 Frauen auf 1.000 Männer), illustriert das Bild einer brennenden Frau die Methode, mit der oftmals ein Hindernis für eine neue Heirat - mit einer entsprechenden Mitgift - beseitigt wird. Die Frauen verlangten entschieden, das Schweigen zu brechen und der systematischen Gewalt Einhalt zu gebieten. Waren die ersten beiden Treffen in Porto Alegre von den "klassischen" Themen der Altermondialisten geprägt, kam 2003 die Kriegsfrage hinzu und in Mumbai die Problematik der "Ausgeschlossenen" und der Rechte der Frauen insbesondere in den besonders repressiven Gesellschaften.

Mumbai kann man wohl zum ersten Mal mit Recht ein "populäres Forum" nennen. Die Delegierten, von denen 70% weder Englisch noch Hindi sprachen, kamen zum Großteil nicht aus den Kreisen der führenden Besucher solcher Treffen; es waren nicht nur die Vertreter der Bewegungen, sondern die Bewegungen selbst dabei. Für einen Moment zum Zentrum der Alternativbewegung zu werden, von der "Welt" anerkannt zu werden, wurde für sie zu einem prägenden Ereignis. Die "Dalits" - dieses Wort bedeutet "gebrochener, unterdrückter Mensch", es ersetzt zunehmend den Begriff "Unberührbare" und hat einen aktiveren Inhalt, der an die zunehmenden Kämpfe der untersten Schichten der indischen Gesellschaft gebunden ist - prägten das Bild. Als Repräsentanten von fast 200 Millionen Menschen kamen sie nach einem langen Marsch zum WSF.

Spürbar wurde die Vitalität der indischen sozialen Bewegung: Diese besteht zum Teil aus starken Massenorganisationen mit reicher Tradition, die oft auf Initiative der politischen Linken entwickelt wurden, und anderseits aus neueren Bewegungen - von Frauen, Dalits und von Bewegungen, die die Rechte der Kinder einklagen und dem Analphabetismus den Kampf ansagen. Auch hier hat sich gezeigt, dass das "Modell" Sozialforum Geburtshelfer für die Zusammenarbeit von bisher dazu nicht bereiten Kräften wird, wobei allerdings die Gründung eines indischen Vorbereitungskomitees, an dem sich schließlich über 200 Organisationen beteiligten, natürlich nicht ohne Probleme über die Bühne ging.

In den Konferenzen und Seminaren waren Ton und Motivation direkter. Vielfach ging es darum, über die Analyse hinausgehend unmittelbar Vorschläge für Initiativen und Kampagnen zu erarbeiten. Das passierte nicht nur in der so genannten "Versammlung der Sozialbewegungen", die die Altermondialisten regelmäßig im Anschluss an die Sozialforen abhalten, sondern im Rahmen des gesamten WSF - in den internationalen Seminaren und Treffen seiner verschiedenen Komponenten, unter Gewerkschaftern, Frauen, Bauern und "Ausgeschlossenen". Die beiden indischen kommunistischen Parteien, in enger Beziehung zu Gewerkschaften und Massenorganisationen, waren im Unterschied zu anderen WSF- und ESF-Treffen unmittelbar beteiligt.

Intensiver wurde diesmal die Frage diskutiert, wie eine größere politische Effizienz im Hinblick auf die Erarbeitung von Alternativen, die Herstellung von Konvergenzen, das Erzielen konkreter Ergebnisse, die in Anbetracht der sozialen Verschärfungen immer dringlicher werden, zu gewinnen wäre. Das Scheitern der WTO-Konferenz von Cancún und die Präsenz der Stimme des Südens gibt der Bewegung Auftrieb. In den Strategiefragen prallen weiterhin unterschiedliche Auffassungen aufeinander. Deutlich spürbar sind in Indien die Traditionen aus der Zweiten und Dritten Internationale. Sie wurden konfrontiert mit jenen Strömungen, die sich in Lateinamerika und Europa auf die Erfahrung der Zapatisten berufen. Die Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchú rief dazu auf, mehr Kraft in die Entwicklung von Alternativvorschlägen zu investieren; demokratischer und pazifistischer Widerstand allein reichten nicht aus. Die bisherige Bandbreite der WSF-typischen Inhalte und Formen ist trotz ihrer rapiden Entwicklung in vier Jahren unzureichend.

Die Auswertung der neuartigen Erfahrungen in Mumbai prägen die zahlreichen Diskussionen in den Organisationen und die Arbeiten des Internationalen WSF-Rates. Es geht um die Zukunft des WSF. Man kann wohl von einer Wachstumskrise sprechen. Da aber der WSF-Prozess keinerlei institutionellen Rahmen hat und nur auf der Motivation der Beteiligten beruht, könnte die Nichtlösung der anstehenden Fragen für die Dynamik äußerst negative Folgen haben. Das WSF, ein Ort, in dem Tausende von Bewegungen zusammenkommen und gemeinsam nach neuen Wegen suchen, ist zu einem Knotenpunkt des Widerstandes gegen den Neoliberalismus geworden. Weder eine weitere quantitative Ausweitung - in vier Jahren hat sich die Teilnehmerzahl verfünffacht -, noch die Integration zusätzlicher geographischer Zonen - eines der nächsten Weltsozialforen soll in Afrika statffinden - werden ausreichende Antworten zur Vergrößerung der Kraft und Effizienz der Bewegung darstellen. Die Dezentralisierung des Prozesses über Kontinental-, Lokal- und thematische Foren ist im Gang, muss aber wohl ständig neu mit dem Geschehen anderswo verknüpft werden. Die Entstehung neuer thematischer Vernetzungen wird vermutlich in nächster Zeit die inhaltliche Arbeit fördern. Wenn man tatsächlich verstärkt Alternativen, nicht unter Spezialisten, sondern breit angelegt mit den Akteuren erarbeiten will, dann muss die Zeit zwischen den Treffen der Foren aufgewertet, die Arbeit kontinuierlich organisiert und die Ergebnisse der Foren allgemein zugänglich gemacht und verarbeitet werden. Die Organisationen werden damit vor neue Anforderungen gestellt, was aber wohl die einzige Antwort auf die notwendige Verbreiterung der sozialen Basis darstellt. Damit würden sich die Sozialforen selbst weg von den großen Konferenzen hin zu arbeitsintensiveren Treffpunkten umbilden. Eine inhaltliche Bündelung wird auch notwendig, um eine größere politische Wirksamkeit zu erzielen. So stellt der portugiesische Soziologe Bonventura Souza Santos fest, dass ein Fokussieren nur auf die Diversität der Bewegung, die unzweifelhaft eines ihrer wesentlichen Merkmale ist, sie zugleich wenig sichtbar macht.

Im Hinblick auf eine neue Qualität wird es auch notwendig, die Arbeitsmethoden zu differenzieren, um den Bedürfnissen aller TeilnehmerInnen Rechnung zu tragen. Die Erfahrungen in Mumbai führten zu der Frage, ob es nicht dringend notwendig ist, auf das Konzept der "éducation populaire" zurückzugreifen - unter Anwendung von Methoden, die es auch den von Bildung und Wissen weitgehend Ausgeschlossenen erleichtern, sich am gesamten Prozess zu beteiligen. Dies markiert eine neue Herausforderung, die in Mumbai sehr konkret gestellt wurde, Theorie und Praxis zu vereinen. Vielleicht können in einem Rahmen wie dem WSF diesbezüglich Fortschritte erzielt werden.

Obey Ament ist Leitungsmitglied, Elisabeth Gauthier Generalsekretärin von Espaces Marx (Paris). Beide sind Mitglieder des europäischen Netzwerkes transform!, das im Internationalen Rat des WSF mitarbeitet.

aus: Heft Nr. 3 (März 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 275