Menschenfeindliche Wissenschaft

in (13.09.2003)

Zur Zeit sind an den Universitäten die politischen Hochschulgruppen der Regierungsparteien damit beschäftigt zu erklären, wie sie die mit der "Agenda 2010" geplanten Kürzungen am Nettolohn ...

... aller Arbeitenden und insbesondere die sozialen Grausamkeiten gegen Arbeitslose, Kranke und Rentner mittragen können. An der Universität Münster zum Beispiel bekam man auf einer Podiumsdiskussion, veranstaltet von den Jungsozialisten und der Grün-Alternativen Liste, von einem SPD-Abgeordneten zu hören, daß er trotz sozialer Bedenken für die Agenda ist; von einem Grünen, daß er zwar deren soziale Schieflage ablehnt, aber kaum Argumente hat; von einem Juso-Vertreter, daß auch er die Agenda "nicht sozial ausgewogen" findet, aber es nicht schafft, sich mit seiner Partei anzulegen. Das Übliche eben.
Eindrucksvoll wird eine solche Veranstaltung erst, wenn da auch einer mit der Autorität des Wissenschaftlers sitzt und doziert. In diesem Falle war es Professor Aloys Prinz vom Institut für Finanzwissenschaft der Uni Münster, ein neoliberaler Fundamentalist und Marktradikaler - wie heute die meisten Inhaber wirtschaftswissenschaftlicher Lehrstühle. Prinz stellte klar, daß er kein Freund der "Agenda 2010" sei: Sie gehe nicht weit genug! Notwendig seien ganz andere Eingriffe. Zwar möge es hart erscheinen, Leuten, die nicht arbeiteten, die Unterstützung unter Umständen gänzlich zu streichen, aber nur so werde Gerechtigkeit hergestellt, nämlich wenn die Leute arbeiten müßten - auch zu viel niedrigeren Entlohnungen, als sie sich das bislang vorstellten. Für Krankheit, Rente oder Pflege müsse endlich die Eigenvorsorge durchgesetzt werden; d.h. jeder Einzelne müsse für sich vorsorgen, privat. Für ihn als Wissenschaftler zählten Fakten, betonte Prinz. Gefühle sozialen Mitleids kenne er auch; aber man müsse ökonomische Realitäten und Gesetze zur Kenntnis nehmen. Und da führe eben kein Weg an einer empfindlichen "Abspeckung" des deutschen Sozialstaates vorbei.
Der "Fachmann", der solche "Wissenschaft" verkündete, ließ sich durch die gut gemeinten Wünsche seiner Mitdiskutanten oder Anfragen aus dem Plenum nicht beirren: Ob die Reichen nicht endlich wieder Vermögenssteuer zahlen sollten, anstatt daß nur immer die ärmeren Schichten geschröpft würden? Nein, das gehe nicht, schließlich könnten nur die Leute mit Kapital für Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum sorgen, das sei ökonomisch erwiesen. Ein anderer gab zu bedenken, daß die BRD in der EU die niedrigste Gesamtsteuerrate am Bruttoinlandsprodukt habe; wenn diese nun noch weiter gesenkt werde, fehle eben das Geld für Soziales. Der Professor tat das ab und meinte, jeder wisse doch, daß die Steuern in Deutschland zu hoch seien. Ein dritter: Würden hierzulande die Reichen ähnlich mit Steuern und Abgaben belastet wie in den Nachbarländern, wären die Sozialkassen voll und Stellenstreichungen im öffentlichen Sektor gehörten der Vergangenheit an. Doch der "Fachmann" wich solchen Fakten und ökonomischen Realitäten aus, auch als ihm die wahrhaft wirtschaftsfreundliche OECD als Quelle genannt wurde. Die Veranstalter aber und die anwesenden Politiker verstummten vor dieser "Wissenschaft". Sie hatten bekommen, was sie von dem "Fachmann" offenbar erwartet hatten.
Die Wirtschaftsprofessoren sind heute die "Weisen". Ihre "Prognosen" erweisen sich zwar regelmäßig als Kaffeesatzleserei, dennoch werden sie gern zu Rate gezogen. Und so fühlte sich auch hier der SPD-Abgeordnete von den "Fakten" bestätigt, die von der "Wissenschaft" vorgetragen worden seien, wenngleich er als "politisch Handelnder" alles gern etwas "sozialverträglicher" gestalten würde. Der Vertreter der Grünen blieb zwar bei seinem Engagement für mehr Soziales und mehr Forderungen an die Besitzenden - aber ganz schnell resignierte er, wenn der "Fachmann" ihm die "Fakten aus der ökonomischen Realität" vorhielt. Auch der brave Juso-Vorständler wirkte eingeschüchtert.
Daß da einer saß, der die Dogmen der Strategie zur weltweiten Durchsetzung von Kapitalinteressen verkündigte wie zur Zeit der Gegenreformation die Kardinäle die päpstlichen Inquisitionsdekrete, wurde von ihnen als Fatum hingenommen; sie akzeptierten - bedauernd und resignierend die einen, andere wohl mit stiller Zustimmung - die herrschende Lehre wie die bestehende Kapitalherrschaft selber, im festen Glauben, es gebe "keine Alternative" - was alle Herrschenden seit eh und je behaupten.
Der Professor dekretierte vorgebliche ökonomische Gesetze, und die sind unter Umständen gnadenlos. Gefragt, wie er denn die Zukunft für die vielen Arbeitslosen sehe, antwortete er: Da gebe es ein Problem; denn mit noch so vielen Ausbildungsprogrammen werde man nicht verhindern können, daß die Zahl jener wachse, die zwar "im medizinischen Sinne arbeitsfähig", aber "im ökonomischen Sinne nicht mehr beschäftigungsfähig", weil für die ständig steigenden Anforderungen einfach nicht geeignet seien. Und was soll dann mit den "nicht Beschäftigungsfähigen" geschehen? Darüber schwieg er sich aus.
Wirtschaftswissenschaftler brauchen, um in ihrem Fach Erfolg zu haben, nichts von Menschenrechten zu wissen. Oder von Geschichte. Umgekehrt lassen viele Historiker wirtschaftliche Themen beiseite. Wer erinnert im einzelnen an die Wirtschaftskrise Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre, an die Massenarbeitslosigkeit, den Sozialabbau, die Schwächung der Gewerkschaften, die allmähliche Einführung von Zwangsarbeit, den Arbeitsdienst für Drecksarbeiten, die Konzentrationslager mit langsamer Vernichtung durch körperliche Schwerstarbeit? Alles ökonomisch rationell und nützlich: Essensentzug, Zyklon B für die schnelle Vernichtung der nicht Arbeitsfähigen, Menschenmaterial für medizinische VersucheÂ…
Jeder heutige deutsche Professor wird sich gegen solche Konsequenzen verwahren wollen. Die Studierenden aber, die Betriebs- und Volkswirtschaft belegt haben, sollten wissen, in welche geschlossenen Systeme man sie einübt. Der neoliberale Marktradikalismus tendiert zu einem totalitären Wahnsystem. Wer keine Alternative mehr denken und ausprobieren darf, muß bald wie ein Wahnsinniger agieren. Die Realitätswahrnehmung wird selektiv; nicht ins Wahnsystem passende Tatbestände oder auch Möglichkeiten können nicht mehr ins Bewußtsein dringen - so wie besagter Professor Prinz beispielsweise die für sein Konzept nicht tauglichen Angaben zur niedrigen Steuer- und Abgabenrate in Deutschland nur noch ignorieren konnte.
Von Studierenden aus Hochschulgruppen, die sich jungsozialistisch oder grün-alternativ nennen, sollte man Neugier und Kritik erwarten. Aber vielleicht können sie an nichts anderes als an ihre zukünftigen Parteikarrieren denken.