Frauen-Selbsthilfegruppen in Indien
Frauen-Spargruppen sind in Indien eine wichtige Komponente von Armutsbekämpfungsprojekten. Das Spannungsverhältnis zwischen Einkommensschaffung durch Kapitalakkumulation und ...
... dem Versuch der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen führt in der Praxis jedoch häufig zur Fortschreibung von Hierarchien.
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Frauen-Sparclubs in Indien Selbsthilfegruppen genannt (SHGs: Women Self-Help-Groups). Dies deutet bereits an, dass die Organisierung in Gruppen mittels des Zusammentragens von Geld einen Beitrag zur 'Selbstermächtigung' von Frauen leisten soll. Nun ist es schwierig, generelle Aussagen über SHGs zu treffen, denn es gibt große Unterschiede in ihrer Ausrichtung: Empowerment, Micro-Credits, Rural Marketing, Livelihoods etc. Im wesentlichen lassen sich Ansätze mit einem stärker ökonomischen Fokus und solche mit einer eher emanzipatorischen Zielsetzung unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zum größten Teil Frauen betreffen, welche sich zu Spargruppen zusammenschließen. Warum? "Männer können nicht sparen" ist die Antwort von beteiligten Frauen oder NGO-MitarbeiterInnen, und tatsächlich gibt es nur wenige Gegenbeispiele.
In einer typischen Self-Help-Group im ländlichen Gebiet des Bundesstaates Andhra Pradesh sparen die 10 bis 20 Teilnehmerinnen wöchentlich je ca. 10 Rupies (der Tageslohn in der Landwirtschaft beträgt ca. 20-30 Rs.) und akkumulieren den Betrag auf ihrem Sparkonto bei einer Bank. In Zeiten unvorhergesehener Ausgaben oder periodischer Knappheit (z.B. Vorerntesaison) können sie einen 'Kredit' aus dem Sparguthaben beantragen, worüber von der Gruppe entschieden wird. Häufig werden die Beträge für Lebensmittel, Haushaltsbedarfsgüter oder Saatgut eingesetzt und innerhalb einer Erntesaison zuzüglich Zins zurückgezahlt. Üblich sind dabei Zinssätze von drei Prozent monatlich.
Bevor es Frauen-Spargruppen gab, mussten die Familien Geldverleiher oder Großgrundbesitzer um Kredite ersuchen. Sie begaben sich dadurch in noch größere Abhängigkeit - bis hin zur Zwangsarbeit. Da reguläre Banken aus Angst vor mangelnder Rückzahlungsfähigkeit keine Kredite vergaben, waren die Haushalte auf private Anleihen angewiesen. Enorm hohe Zinsen von zehn Prozent monatlich und mehr sind in diesem Geschäft die Regel. Durch die Bildung von Spargruppen kann dieser Mechanismus zumindest teilweise umgangen werden. Für die Familien ist dies eine wesentliche Erleichterung, für die Frauen allerdings mit Mehrarbeit zum Erarbeiten des notwendigen Sparbetrags verbunden.
Stolz auf's Sparbuch
Mit der zusätzlichen Arbeitsbelastung 'erkaufen' sich die Frauen allerdings auch Vorteile. In den Spargruppen verfügen sie zum ersten Mal über eigenes Geld, mit dem sie Investitionen tätigen können. Dies ermöglicht nicht nur größere finanzielle Spielräume, sondern wirkt sich auch auf die soziale Stellung der Frauen aus. Organisierte Frauengruppen haben die Möglichkeit, durch ihre Aktivitäten am öffentlichen Leben des Dorfes teilzunehmen, sie verhandeln mit NGO- und Regierungsvertretern und können sich dadurch neue Handlungsräume eröffnen. "Bevor wir uns zusammenschlossen, saßen wir alleine in unseren Häusern. Heute kommen wir sogar bis in die Städte, zu NGOs, sitzen auf Stühlen und reden wie wichtige Leute", beschreibt beispielsweise eine Frau aus dem Dorf Koddarupallepalem das gewonnene Selbstvertrauen. Es drückt sich auch in dem Stolz aus, mit dem die Gruppen ihre Sparbücher zeigen und ihre Projekte wie z.B. die Anschaffung einer Mühle für Chili-Pulver vorrechnen.
Aber die (dörflichen) Machtstrukturen haben sich nicht nur sozioökonomisch etwas zu Gunsten der Frauen verschoben, sondern auch hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse. Wenn der Gruppenzusammenhalt gut ist, können sich die Männer nicht mehr alles erlauben. Gewalt gegen Frauen wird nicht mehr ohnmächtig hingenommen, die Frauen setzen sich gemeinschaftlich zur Wehr. Ein Mann, der seine Frau schlägt, kann erleben, dass sich die anderen Frauen hinter sie stellen und ankündigen: "Wenn das noch einmal vorkommt, schlagen wir Dich kurz und klein!" Und sie machen auch Ernst aus ihren Drohungen. Häufig erkennen die Männer die Leistungen der Frauengruppen an und unterstützen die Beteiligung der Frauen daran. Nicht ganz uneigennützig, denn letztlich wird ihnen so auch die Last des Geldverdienens teilweise abgenommen.
Die Erfolge der Spargruppen im letzten Jahrzehnt sind nicht zu übersehen: Die Anzahl von indischen Frauen, die in SHGs organisiert sind und im Zuge dieser Organisierung ihre Lebensumstände verbessern konnten, ist beachtlich. Mittlerweile schießen SHGs wie Pilze aus dem Boden. In den seltensten Fällen handelt es sich allerdings um spontane Zusammenschlüsse. Schon in der Hochzeit der Frauenbewegung in Indien (80er bis Mitte 90er Jahre) mit ihren zumeist politischen Wurzeln in den urbanen Zentren spielte der Kampf um Selbstbestimmung und gegen die Unterdrückung in patriarchalen Strukturen bei der Bildung von Frauengruppen eine wesentliche Rolle. An diesen Trend schlossen sich soziale Bewegungen und NGOs in den 90er Jahren an.
Sieg der Wortgewaltigen
Seitdem NGOs nun allerdings beginnen, Selbsthilfegruppen anhand von Zielvorgaben wie '1000 neue Gruppen bis zum Jahresende!' aus dem Boden zu stampfen, überwiegen eher ökonomische Aspekte. Soziale Aufgaben wie Gruppenzusammenhalt und gegenseitige Hilfe spielen eine geringere Rolle und gruppendynamische Prozesse werden übersehen. Viele Frauengruppen beginnen zudem, sich nach Kastenzugehörigkeit zu ordnen. Dalits (Kastenlose) werden ausgeschlossen. In Rummangud im Distrikt Gulbarga (Karnataka) beispielsweise, wo das Kastensystem noch sehr ausgeprägt besteht, hatten sich Frauengruppen aus verschiedenen Kasten gebildet - nur die Dalit-Gruppe wurde mit dem Hinweis auf den hohen Alkoholkonsum ihrer Männer für ‚spar-unfähig' erklärt.
So werden durch die SHGs durchaus auch alte Hierarchien der sozialen Herkunft in der 'Dorfgemeinschaft' gefestigt. Aber auch neue Rangordnungen innerhalb der Frauengruppen entstehen. Die Macht über Entscheidungen und Kontobücher wird den Führungsfiguren innerhalb der Gruppe übertragen. Die eloquentesten, am stärksten 'empowerten' Frauen, oder diejenigen mit einem einflussreichen Mann an ihrer Seite, setzen sich auf Kosten der weniger wortgewandten und häufig auch ärmsten durch. Die Konkurrenzsituation innerhalb der Gruppe verstärkt sich oftmals, sobald zusätzlich Geld von außen (z.B. als Micro-Credit oder Revolving-Fund für die Anschaffung von Wasserbüffeln oder Ziegen) zur Verfügung gestellt wird. Die Gruppen treten in Konkurrenz zueinander und wetteifern um den höchsten Kontostand auf der Bank. Hinzu kommt, dass die Buchhalter der Gruppen häufig aus männlichen NGO-Mitarbeitern bestehen, weil die Zeit, der Wille oder das Vertrauen fehlt, Frauen für diese Tätigkeit auszubilden.
NGOs können es sich mit der massenhaften Schaffung von SHGs leicht machen: In Projekten, in denen Frauen-Spargruppen gebildet werden, gelten die 'Gender-Auflagen' der Geldgeber fast automatisch als erfüllt. Ein expliziter Fokus auf die Veränderung von Geschlechter- und Machtverhältnissen wird als nicht mehr erforderlich betrachtet oder fällt Zeitmangel sowie Konfliktvermeidungsstrategien zum Opfer. Kaum noch ein Projekt kann sich dem Druck entziehen, SHGs zu bilden: Entwicklungshilfegelder von der Regierung oder ausländischen Geldgebern gibt es nur, wenn gespart wird, was das Zeug hält. NGOs, die gesellschaftliche Machtbeziehungen in Frage stellen wollen und die eine (politische) Organisierung der Frauengruppen in den Vordergrund rücken, sind damit auf das Vehikel der Spargruppe angewiesen. Dadurch wird Organisierung und Empowerment an wirtschaftliche Aktivitäten und das Guthaben auf der Bank gekoppelt und somit auch monetarisiert.
Agentinnen des Weltmarkts
Deutlicher noch wird die ökonomische Bedeutung der Frauen-Spargruppen, wenn man sich einen neuen Trend ansieht, der besonders in Andhra Pradesh rapide um sich greift: den Einsatz von SHGs im Rural Marketing. Allein im Bundesstaat Andhra Pradesh mit seinen 80 Mio. EinwohnerInnen gibt es ca. 450.000 Frauen-Spargruppen. Ihr Erspartes beträgt zusammen ca. 6 Mrd. Rs. (ca. 150 Mio. Euro). Und wo es Geld gibt, gibt es auch etwas zu verdienen. Das haben fixe Köpfe in Unternehmen wie Hindustan Lever Limited (HLL), einem multinationalen Konzern für den alltäglichen Konsumbedarf, schnell herausgefunden. Auf der Suche nach dem Zugang zu den abgelegenen ländlichen Märkten kommen bereits existierende Strukturen wie zum Beispiel SHGs gerade recht. Insbesondere, wenn sie aus motivierten Frauen bestehen, die Zugriff auf Erspartes sowie Erfahrung im Umgang mit Geld haben und außerdem ans Geldverdienen denken.
Heraus kommt eine subtile Absatz- und Marketingstrategie: Die auf regionaler Ebene zusammengeschlossenen Frauen-Spargruppen können sich bei HLL einen Warenkorb einkaufen, bekommen einen Lehrgang im Verkaufen und in der Werbung und dürfen elf Prozent vom Umsatz als Prämie behalten. Verkauft werden kann alles: von Colgate-Zahncreme, Palmolive-Seife und Haarshampoo bis hin zu Softdrinks einschlägiger westlicher und indischer Marken. Für beide Seiten ein guter Deal: Der Konzern spart enorme Vermarktungskosten, und die Verkäuferinnen verdienen auch etwas daran.
Wer Einwände dagegen hat, gilt nicht nur als Spielverderber, sondern auch als Paternalist: Man darf den Menschen doch nicht verweigern, dass sie bessere Marken-Produkte kaufen, als lokal hergestellt werden können, heißt es. Auch in den ländlichen Regionen sollen sich die Leute nicht mit No-Name-Zahnpasta oder Neem-Zweigen die Zähne putzen oder lokal produzierten Alkohol trinken, der potenziell blind macht. Dieser Argumentation kann sich kaum jemand verschließen, weshalb die größeren unter den Entwicklungsprojekten bereits in den Handel eingestiegen sind. Aufbegehren tun dagegen bislang nur die traditionellen Kleinhändler, die lokale Produkte verkaufen. Sie haben nicht so leicht Zugang zum Ersparten der Frauengruppen und sind auch nicht gut organisiert. Es ist abzusehen, dass auch diejenigen Frauen, die nicht oder nur wenig am Verkauf verdienen, weil sie entweder schlechteren Zugang zum HLL-Warenkorb haben oder nicht so fix im Verkaufen sind, in dem Konzept benachteiligt werden. So werden sozio-ökonomische Ungleichheiten verstärkt und erhebliches Konfliktpotenzial geschaffen. Nebenbei erodieren lokale Produktionsstrukturen und das Kapital fließt noch schneller aus den ländlichen Regionen ab, als dies bisher schon der Fall war.
Frauen-Spargruppen befinden sich damit in einem schwierigen Spannungsfeld: Einerseits stärken sie die Frauen auf ökonomischer, sozialer und psychischer Ebene und tragen so zur effektiven Verbesserung der Lebensbedingungen von Armen bei. Andererseits bindet die Partizipation in einer Spargruppe die Frauen stärker in den Markt ein; manche werden gar als Verkaufs-Agentinnen für Markenprodukte aus aller Welt instrumentalisiert. Den existierenden ökonomischen Marginalisierungsprozessen wird so kaum etwas entgegen gesetzt.
Steffen Schülein ist Mitarbeiter im iz3w und hat in Indien mit verschiedenen NGOs zusammengearbeitet.
erschienen in: IZ3W 264