Einst, so lesen wir in alten Büchern, mußte aller Hader und Streit ruhen, wenn es galt, Angreifer abzuwehren.
Im ersten Weltkrieg wurde der "Burgfrieden" in anderer Absicht ausgerufen: um sozialdemokratische Kritik an den imperialen Kriegszielen des deutschen Reiches zu unterbinden. Nachher, als der Krieg verloren war, wurden Kritiker als "Nestbeschmutzer" bezeichnet und wegen "Dolchstoßes in den Rücken der tapferen Krieger" zu inneren Feinden erklärt. Hitler verkündete: "Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns!" Und in den Schützengräben des Kalten Krieges galten Remilitarisierungsgegner und Sozialisten als "Fünfte Kolonne Moskaus" oder als "die Freunde Ulbrichts" und fielen unter Adenauers Blitzgesetze und Organisationsverbote, später unter Berufsverbot. In der "bleiernen Zeit" der Siebziger konnte jeder unter Terrorismusverdacht geraten, der auch nur auf Datenschutz bestand und die Geheimdienste kritisierte. Und in der DDR observierte und verfolgte die Staatssicherheit etliche Aktivisten der christlichen Friedensbewegung.
Dieses für überwunden geglaubte politische Klima kehrt zurück, seit die US-Regierung und die NATO zur Bekämpfung des Terrorismus aufs Militär setzen. Millionen von Menschen in aller Welt haben Angst, durch Vergeltungsschläge in einen Krieg hineingezogen zu werden. Das wird vor allem in Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen deutlich. Viele Schülerdemonstrationen haben das Motto "Gegen Terror und Krieg". Doch der Aufmarsch rollt. In der Welt am Sonntag heizte der ehemalige US-Verteidigungsminister Kissinger an: Es gelte, "über bloße Vergeltung hinauszugehen". "Der Krieg" müsse "gewonnen werden" - und er meinte damit den "Krieg der Guten gegen die Bösen". Die FAZ kommentierte, potentielle Terroristen, "die unserer Leitkultur feindlich gegenüber stehen", müßten erkannt und ausgesondert werden.
Und schon begann im Innern eine Hetzjagd auf Andersdenkende. Gleich in der Woche nach den Anschlägen bekamen es der Gesamtschullehrer Bernhard Nolz in Siegen, Sprecher der "PädagogInnen für den Frieden", und drei Lehrerinnen in Sachsen zu spüren. Bernhard Nolz hatte in Absprache mit der Schulleitung seiner Bertha-von-Suttner-Gesamtschule und mit Schülervertretungen auf einer Demonstration von 3000 Siegener Schülern "Gegen Terror, Gewalt und Krieg" eine nachdenkliche Rede gehalten. Die Bild-Zeitung reagierte mit einem Artikel unter der Überschrift "Skandal bei Friedens-Demo: Lehrer greift Amerikaner an", und der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Paul Breuer, warf Nolz vor, "daß er eine klammheimliche Freude über das in New York Geschehene empfindet. Dieser Mann muß aus dem Staatsdienst entfernt werden." Im Fernsehen ergänzte Breuer, Nolz sei ein "Rad am Wagen des internationalen Terrorismus". Die Siegener CDU sprach in der Westfälischen Rundschau" von einem "Netzwerk von Gesinnungstätern" und einer "unheimlichen Allianz mit den Terroristen".
Lehrer Nolz, nebenbei Geschäftsführer des Siegener "Zentrums für Friedenskultur", dessen Bezuschussung durch das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Siegen der CDU ohnehin ein Dorn im Auge ist, hatte in seiner Rede u.a. zur friedlichen Konfliktlosung gemahnt, an Betha von Suttner erinnert, vor einem Vergeltungskrieg gewarnt, zur Verweigerung des Kriegsdienstes aufgerufen und die Einschaltung der UNO verlangt. Bild pickte einen Satz als anti-amerikanisch heraus: "Seit vielen Jahren beeinträchtigen die USA die Arbeit der Vereinten Nationen, das reichste Land der Welt kommt seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nach und bezahlt seine Beiträge nicht; derselbe Staat stellt jetzt 40 Milliarden Dollar bereit, um aufzurüsten und andere Länder mit Krieg zu überziehen." Inzwischen wird gegen Nolz disziplinarrechtlich ermittelt. In der Lokalpresse und im Internet sowie in einer überfüllten Versammlung in Siegen brach eine heftige Diskussion los: "Sie sind ein Brunnenvergifter der üblen Sorte", "Es ist pietätlos, auf einem Trauermarsch politisch Stellung zu nehmen", "Ich will auf meiner eigenen Beerdigung auch niemanden gegen meine Verwandten wettern hören" - das ist das eine Spektrum der Meinungen. Das andere: "Ein Trauermarsch ist in der jetzigen Situation an sich schon ein politischer Akt. Es ist weder pietätlos noch zynisch, wenn ein Pädagoge auf Fehler in der Vergangenheit hinweist und friedliche Lösungsmöglichkeiten aufzeigt, statt in stummer Trauer zu verharren."
Im Lessing-Gymnasium in Hohenstein-Ernstthal bei Chemnitz hatte eine Geschichtslehrerin am Tag nach den Anschlägen auf Schülerfragen nach dem Motiv der Attentäter sinngemäß geantwortet, diese hätten wohl den USA eine Quittung verpassen wollen wegen deren weltweiter Einmischung. Eltern beschwerten sich beim Kultusministerium in Dresden, das suspendierte die Lehrerin sofort, untersuchte den Fall. Dann wurde sie abgemahnt und an eine andere Schule versetzt. Der Elternratsvorsitzende erfuhr das aus der Zeitung, worüber er sich beschwerte. In der Radebeuler Grundschule Oberlößnitz hatte eine Grundschullehrerin am 12. September auf die Dresdener Bombennächte im Februar 1945 hingewiesen; sie wurde an eine andere Schule versetzt und arbeitsrechtlich abgemahnt. Am Lessing-Gymnasium in Dresden geriet eine Geschichtslehrerin "durch Äußerungen zu den Ereignissen in den USA in die Kritik" (Leipziger Volkszeitung), was immer das heißt, und wurde abgemahnt. Man wolle ihr noch einmal eine Chance geben, sagte das Regionalschulamt Dresden und ließ sie weiter an der Schule unterrichten. Alle drei sächsischen Lehrerinnen müssen nun Fortbildungsmaßnahmen besuchen und mit verstärkten Hospitationen von Fachberatern rechnen.
Dies sind Vorboten eines großen Versuchs, Empörung und Trauer über die terroristischen Anschläge umzumünzen in eine kritik- und bedingungslose "uneingeschränkte Solidarität" mit der US-amerikanischen Regierungspolitik, womit einerseits die militärische Unterstützung bei der Vorbereitung eines völkerrechtswidrigen Angriffs gemeint ist und andererseits die Ausschaltung von Kritik im Innern. Aufklärung über historische Zusammenhänge und Tatsachen, Diskussion politischer Alternativen, Erörterung der Ursachen von Terror und Krieg, Vermeidung der Produktion solcher Feindbilder wie "die Araber", "die Muslime", "die Ausländer" - das alles könnte den Kreuzzug der Guten gegen die Bösen behindern. In den Schützengräben dieses Krieges wird nicht mehr diskutiert, basta! Gilt jetzt nur noch Befehl, Gehorsam, Gefolgschaft? Sollen Lehrer wie ihre Altvorderen Kriegsfreiwillige züchten, die sich auf die afghanischen Schlachtfelder stürzen wie weiland die Kriegsfreiwilligen von Königgrätz oder Langemarck?
Gerade jetzt, wo das Kanzlerwort von der "uneingeschränkten Solidarität" seine unheilvolle Wirkung entfaltet, gilt es, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern demokratische Grundrechte wie die Lehr- und Meinungsfreiheit zu verteidigen, indem man massenhaft davon Gebrauch macht. Deshalb ist zu begrüßen, was der Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in einer Erklärung "Gegen die Eskalation von Gewalt und Haß - für eine gerechte Weltordnung" geäußert hat: PädagogInnen und Eltern "nehmen verantwortungsvoll die Aufgabe wahr, die Ursachen, Hintergründe und Folgen von Gewalt und Terror zum Thema zu machen und zu vermitteln, daß Gewalt und Gegengewalt niemals Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker sein können ... Die Kritik an der Politik der USA und der NATO in diesem Zusammenhang darf nicht tabuisiert oder diffamiert werden ... Wir wenden uns entschieden gegen eine militärische Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Strafaktionen", heißt es da.
Übrigens: Eine Schülerin aus Siegen schlug in der Internet-Diskussion vor, "uneingeschränkte Solidarität" zum Unwort des Jahres zu erklären.