Tripper, Bandwurm, Anarchie

Erich Mühsams Tagebücher bieten Einblick ins Seelenleben, in die Ideenwelt, in Irrungen und Wirrungen eines sympathischen Anarchisten

Erich Mühsam: Tagebücher. Bd. 1 & Bd. 2: 1910-1911, 1911-1912
by
Erich Mühsam
Editor:
Chris Hirte und Conrad Piens
Publisher:
Verbrecher Verlag
Published 2012 in
Berlin
704
pages
ISBN-13:
ISBN 978-3-940426-77-2
Price:
56 Euro

Juli 2012, zwei Wochen Kreta, zwei Wochen offline. Genug Zeit, um sich bei rund 35° Grad im Schatten der Lektüre der prächtig aufgemachten Tagebücher Erich Mühsams zu widmen.

 

Erich Mühsam

Erich Mühsam (1878-1934) war neben Gustav Landauer, Ru­dolf Rocker und Ernst Friedrich einer der bekanntesten und einflussreichsten Anarchisten in Deutschland.

Seine schrägen und oft genialen Gedichte finden sich heute in unterschiedlichen, auch musikalischen Interpretationen, bei­spielsweise von Kon­stantin Wecker, Harry Ro­wohlt, Christoph Holzhöfer und Slime, wobei mir Dieter Sü­verkrüps Schallplatte „Erich Mühsam: Ich lade euch zum Re­quiem“ als besonders gelungene Auslegung von Mühsam-Texten erscheint.

Mühsam publizierte unzählige Gedichtbände, Bühnendramen, Sachbücher und politische Aufsätze. Als Schriftsteller berühmt wurde er vor allem durch seine satirischen Artikel und Gedichte. „Sich fügen heißt lügen“ und „Der Lampenputzer“ gehören bis heute nicht nur zum libertären Liedgut.

Als anarchistischer Agitator war Mühsam 1919 maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Dafür saß er fünf Jahre in Festungshaft. 1933 wurde er verhaftet und schließlich am 10. Juli 1934 auf bestialische Weise im KZ Oranienburg von SS-Schergen ermordet. Er wurde nur 56 Jahre alt.

 

Zenzl und die Odyssee der Bücher

Wenige Tage nach der Ermordung ihres Mannes gelang es Mühsams Witwe Zenzl, seinen schriftlichen Nachlass nach Prag zu schmuggeln. Nach drei Jahren im tschechischen Exil folgte sie 1936 einer Einladung in die Sowjetunion. Man hatte ihr versprochen, Erichs Werke „in vielen Sprachen“ zu veröffentlichen. So gelangten die Tagebücher und Briefe nach Mos­kau.

Dort wurden sie „ausgewertet“, und es ist anzunehmen, dass sie vom sowjetischen Geheimdienst als Belastungsmaterial gegen deutsche ExilantInnen missbraucht wurden. Einige Tagebücher und viele Briefe, die dabei abhanden kamen, bleiben wohl für immer verschwunden. Wenig später, auf dem Höhepunkt der stalinistischen „Säuberungen“, wurde Zenzl als „Trotzkistin“ verhaftet. Bezichtigt hatte sie Herbert Wehner, der 1926 als junger Anarchosyndikalist Sekretär im Hause Mühsam war und ab 1927 ein eifernder KPD-Funktionär wurde, bevor er nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere in der SPD machte.

Zenzl wurde in der Haft misshandelt. Sie überlebte achtzehn Jahre Gefängnis, Straflager und Verbannung, bevor sie 1955 in die DDR ziehen durfte.1  

Dort ließ sie Mikrofilmkopien vom Nachlass anfertigen, der im Moskauer Gorkij-Institut lagert, und bemühte sich um die Veröffentlichung der Mühsam-Schriften.

Doch die Mikrofilme gelangten nicht in ihre Hände. Das ZK der SED übergab sie der Ostberliner Akademie der Künste. Zenzl kämpfte bis zu ihrem Tod am 10. März 1962 gegen diese Beschlagnahme und setzte durch, dass 1958 eine Auswahl von Mühsams Gedichten und die „Unpolitischen Erinnerungen“ in der DDR erscheinen durften.

 

Der Bandwurm zieht sich durch das Buch

„Erich Mühsam, Dichter, Anarchist, Antifaschist und vieles an­dere – oft wurde er für antiquiert erklärt, und genauso oft hat er neue Anhänger und Verehrer ge­funden. Das Geheimnis seiner Strahlkraft und seiner fortwährenden Aktualität ist nicht einfach zu erklären. Wir finden auch, es soll ein offenes Geheimnis bleiben, eins, das weiter neugierig macht und immer neue Fragen provoziert. Antworten jedenfalls gibt es in Hülle und Fülle – in Mühsams Tagebüchern“, so die konservative FAZ, die sich in ihrem Feuilleton gelegentlich libertäre Tendenzen erlaubt.

100 Jahre nachdem Mühsam den ersten Band der Tagebücher zu Papier gebracht hatte, haben Chris Hirte und Conrad Piens 2011 den ersten (und 2012 den zweiten) von 15 Bänden herausgegeben.

Unter anderem auf den Feuille­tonseiten von FAZ, Spiegel, SZ, ND und taz wurde das Buchprojekt bejubelt. Der erste Band wurde daraufhin ein Bestseller und die Herausgeber müssen sich heute keine Sorgen mehr um die Finanzierung der bis 2018 geplanten, fast 7.000 Seiten umfassenden Folgebände machen.

 

Eine Fundgrube

Erich Mühsam hat in seinen Tagebüchern alles beschrieben, was er erlebt, gedacht und gefühlt hat. Das ist ehrlich, manch­mal genial, manchmal haarsträubend oder nervig banal.

Sein Liebesleben und seine begeisterte Triebhaftigkeit beschreibt er bisweilen im Stil eines frühen Charles Bukowski. Sein Bandwurm kriecht mühsam von Kapitel zu Kapitel und der Tripper, den er monatelang mit sich herumschleppt, hüpft fröhlich von Tagebuchseite zu Tagebuchseite und über auf eine Geliebte, mit der er vor lauter Geilheit schläft, obwohl er um seine Krankheit weiß.

Tagebucheintrag vom 27. Mai 1911: „Von vorgestern ist einiges zu notieren, vor allem eine arge Sünde. Emmy verführte mich zum Koitus. Ich warnte sie, ich sträubte mich, ich kämpfte gegen mich, aber ich war schwach. Nun werde ich sie wohl angesteckt haben, und Kätchens Tripper wird die Runde durch München machen.“ (S. 131)

Was heute mit dem englischen Modebegriff „Polyamory“ bezeichnet wird, wurde vor 100 Jahren von Erich Mühsam als „Freie Liebe“ propagiert: „Ich habe diese Tage viel an diese Liebe und an die Frieda gedacht. Wie ungeheuer töricht sind die Menschen, die da meinen, ein Herz könne nicht gleichzeitig nach mehreren Seiten gezogen werden. Meine Liebe zu Frieda leidet gar nicht durch diese Aufwallung. Denke ich Friedels, dann füllt sich alles Herz mit Sehnsucht und Zärtlichkeit, und doch zweifle ich nicht einen Moment an der Richtigkeit und dem Wert des Gefühls, das mich dem Puma verbündet.“ (S. 207, Bd. 1)

Es geht in Mühsams Tagebüchern nicht nur um Sex und Liebe. Befremdlich wirkte auf mich seine immer wieder geschilderte Hassliebe zum Vater, der Erich als Kind brutal misshandelt hatte und auf dessen Tod der erwachsene Mühsam nicht zu­letzt wegen des zu erwartenden Erbes hoffte.

 

Anarchismus und Antimilitarismus

Auch sein wechselhaftes Verhältnis zu seinem Mentor Gus­tav Landauer wird von Mühsam immer wieder angesprochen.

Als Redakteur der Graswurzelrevolution kann ich viele Parallelen zur heutigen GWR-Zei­tungsarbeit entdecken, wenn es z.B. um die Auseinandersetzungen des Sozialist-Autors Mühsam mit dem Sozialist-Redakteur Landauer geht. Vor 100 Jahren spielte die vom libertären „Sozialistischen Bund“ mit einer durchschnittlichen Auflage von 2.000 herausgegebene und von Landauer redaktionell verantwortete Zeitschrift Der So­zialist eine ähnliche Rolle bei der Verbreitung und Diskussion anarchistischer und antimilitaristischer Ideen wie heute die Graswurzelrevolution. Von den bürgerlichen Medien wurde Der Sozialist – ähnlich wie die heute existierenden anarchistischen Zeitschriften – weitgehend ignoriert, was Mühsam zu Recht beklagte: „Der ‚Sozialist‘, das bestgeschriebene und bestgelei­tete Blatt, das zur Zeit in Deutschland erscheint, wird nie und nirgends erwähnt. Alles trottet im alten Stumpfsinn weiter. Und die Sozialdemokratie hütet ihre Lämmer am bravsten, auf daß sie nicht etwa auf die Idee kommen mögen, es gäbe außer dem allgemeinen Wahlrecht in Preußen noch Dinge, die eines Kampfes wert sind.“ (S. 12)

Mühsams antimilitaristische Grundhaltung kommt in den Ta­gebüchern immer wieder zum Vorschein: „Ich las dieser Tage die in den Verlag des ‚Sozialistischen Bundes‘ übergegangene Broschüre des Dr. Hermann Wetzel ‚Die Verweigerung des Heerdienstes und die Verurteilung des Krieges und der Wehrpflicht in der Geschichte der Menschheit`. Eine überaus wertvolle erfreuliche Schrift, die in großen Zügen brevierhaft den Gedanken des Weltfriedens und der Gewaltlosigkeit als Erkenntnis der Großen aller Zeiten nachweist.“ (S. 91)

Von einer Begegnung mit dem Militarismus in Bern berichtete er am 21. Juni 1911: „Etwas, was ich neulich auf der Straße sah und was mich abscheulich bewegte, will ich notieren. (…) In der Länggasse kam mir mit Musik und Getrommel eine Abteilung Soldaten entgegen. Als sie näher kamen, sah ich, daß in den Uniformen lauter Knaben steckten, ein langer Zug, Gewehre über den Schultern. Ich war tief empört und angewidert von dieser ‚Jugendwehr‘. Kinder mit Mordwaffen umgehen zu lehren, sie zu Massenmörderei zu erziehen, ehe sie noch ausgewachsen sind. Pfui Teufel! Aber echt schweizerisch-demokratisch!“ (S. 158)

 

Kriegstreiberei? Pfui Deibel!

Würde Mühsam in der heutigen Zeit leben, hätte ihn die Propaganda, die die antideutsche Rumsfeld-Linke ab 2001 z.B. in der Wo­chenzeitung Jungle World für die NATO-Kriege gegen den Irak und gegen Afghanistan betrieben hat, sicher ähnlich angewidert wie seinerzeit die militärischen und propagandistischen Vorbereitungen zum Ersten Weltkrieg.2 

Im Grabe umgedreht hätte er sich vermutlich, wenn er mitbekommen hätte, in welchem Verlag seine Tagebücher jetzt erscheinen. Der „Verbrecher Verlag“ steht der Jungle World na­he. Er publiziert zwar auch Lesenswertes, zum Beispiel zu B. Traven, vor allem aber Bücher, in denen antideutsche Bel­lizis­ten wie Thomas von der Os­ten-Sacken und Tjark Kunstreich Kriege von NATO-Staaten gegen den Irak, Afghanistan und den Iran propagieren.

Am 8./9. September 2012 hat das Neue Deutschland ein Interview mit dem „Verbrecher“-Verleger Jörg Sundermeier abgedruckt. Das ND fragte u.a.: „Ihr Verlag zeichnet sich nicht gerade durch ein anarchistisches Verlagsprogramm aus. Warum geben ausgerechnet Sie die Tagebücher heraus?“

Darauf Sundermeier: „Niemand anderes wollte es zu den Bedingungen der Herausgeber tun. Die meisten Verlage wollten entweder entsetzlich viel Geld oder das Projekt nicht in dem Umfang anfassen. Wir waren dann die Verrückten, die zu diesem verrückten Projekt am besten passten.“

Erich Mühsams Tagebücher neben „Wenn man dich nicht fragt, sag nein. Deutsche, Pazifisten und Antiimperialisten im Krieg gegen den Krieg gegen den Terror“, dem Buch von Jungle World-Redakteur Joachim Roh­loff? Nein, das passt nicht!

Niemand wollte die Bücher zu den Bedingungen der Herausgeber verlegen? Unsinn. Unter an­derem der Verlag Graswurzelre­volu­tion wurde von Chris Hirte und Conrad Piens nicht angesprochen.

Warum also ausgerechnet ein zum „linken“ Bellizismus neigender Verlag?!

Das hätte mensch dem Antimilitaristen und Anarchisten Erich Mühsam nicht antun müssen.

 

Fazit

Erich Mühsams Tagebücher erreichen nicht die hohe Qualität seiner schon zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften. Gründliches Redigieren und vielleicht sogar das Herauskürzen vieler Banalitäten und Dönekes (aus der Münchner Bohème) hätte dem Projekt gut getan.

Im Vergleich etwa mit Emma Goldmans großartigem „Gelebtes Leben“ (Edition Nautilus, Hamburg 2010) sind Mühsams Tagebücher zwar unterhaltsam, aber über weite Strecken zu eitel, bis hin zur Belanglosigkeit.

Jeder Besuch von Museum, Theater, Kneipe und Oper wird minutiös protokolliert, jede Krankheit bis ins kleinste Detail beschrieben und jede Affäre süffisant ausgebreitet.

Trotzdem kann diese Strandlek­türe nicht nur Bohème- und An­ar­chismusforscherInnen wärms­tens empfohlen werden. Sie macht Spaß, ist kurzweilig und bietet eine einmalige Sicht ins seelische Innenleben, in die Irrungen und Wirrungen unseres Genossen Erich Mühsam.

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

 1 vgl.: www.muehsam-tagebuch.de/tb/vorwort.php#_ftn22

 2 Siehe dazu: Linke Bellizisten auf Gespensterjagd. Militärpolitische Normalisierung mit Antisemitismus- und Antiamerikanismus-Vorwürfen, Artikel von Alfred Schobert, in: GWR 266, Februar 2002, www.graswurzel.net/266/jungle.shtml

 

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 372, Libertäre Buchseiten, Oktober 2012, www.graswurzel.net

http://www.graswurzel.net/372/libertaere_buchseiten_2012.pdf