Von A zur agit 883

Revolutionärer Anspruch in Form und Inhalt. Die radikale Linke Westberlins 1969-72

in (01.01.2002)

Vorweg die Einschätzung: Mit dem im Herbst 2006 bei Assoziation A erschienenen Sammelband ist der Herausgebergruppe rotaprint 25 ein fakten- und anekdotenreiches Werk zu linkem Wirken und Selbstverständnis gelungen.
Die legendäre Untergrundzeitung "agit 883" stellt dabei Ausgangsbasis wie Bindeglied für ein ausdifferenziertes Panorama über alternatives Leben in Westberlin Anfang der 70er Jahre dar. Ein ambitionierter Versuch linker Geschichtsschreibung; und in diesem Fall sind Versuch wie Ergebnis durchaus zu loben.
Geschichte in ihrem Sinne zu deuten, ist das Vorrecht der Sieger - in der BRD bislang selten linke Kräfte - weswegen es um den dezidiert linken Blick, die von linker Seite erlebte und wiedererzählte Geschichte meist schlecht bestellt ist. Dieses Buch ermöglicht einen generellen und dennoch sehr genauen Gegen-Blick auf eine politisch brisante Zeitspanne. Am tiefroten Faden "agit 883" wird an Zuständen, Problemen, Utopien und realen Umsetzungen theoretischer Überzeugungen entlang erzählt, die hier und da auch über den Westberliner Tellerrand hinausreichen können.
Dabei wechseln in den Überkapiteln "Gegengesellschaft - politische Bewegung - Institutionen" Themensetzungen der Außerparlamentarischen, welche manchmal kaum mehr nachvollziehbar scheinen mit anderen ab, die nach wie vor bedauerlich aktuell sind (etwa Szenekriege um Alleinvertretungsansprüche...). Bildlich verstärkt werden diese Eindrücke durch die auf CD gebannten Originalausgaben, auf deren jeweils 4 bis 26 Seiten sich einiges zum Entdecken anbietet:
Berichte über Streiks und Proteste auf allen Ebenen (Schulen, Firmen, Lehrlinge, Studis); Kritik an Knast, Psychiatrie und Heimunterbringung; Theoretisches zu Kapitalismus, Geldwirtschaft, und "Zinssystem"; Theoretisches und Persönliches zum Thema Faschismus; Kritik an Erziehung und Wissenschaft; Überlegungen und Provokantes zu Sexualität, Geschlecht und Frustration über beides; Prozessberichte; Militantes Wollen und Fordern; Kronstadt und die Rätedemokratie als Vorbilder; Demonstrationen und Polizeiübergriffe; Auseinandersetzungen mit Imperialismustheorien und noch einiges mehr.
Es ist ein Nachschlagewerk zum Entdecken, Vertiefen und vielleicht auch Verstehen - nicht alles ist zum unterhaltsamen Schmö­kern geeignet. Aber es bietet die Möglichkeit, sich in eine Zeit zurück zu versetzen, die von Vielen als ebenso prägend wie faszinierend angesehen wird. Mit einem notgedrungen lachenden und einem weinenden Auge stellt sich hier eine Phase linker Geschichte samt ihrem Facettenreichtum vor.

Rotaprint (Hg.): Agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, 296 Seiten, Beigelegte CD mit sämtlichen Ausgaben der Agit 883, Berlin: Assoziation A, 22 EUR