Wendeland

Rezension zu Christa Luft: Wendeland. Fakten und Legenden. Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin 2005, 275 S. (8,50 EUR) ... Zu Problemlagen und Fragen, die der Epochenwandel von 1989/90 hervorbrachte.

Tiefe Einschnitte in Wirtschaft und Gesellschaft, in ihre Verfasstheit und Entwicklung, in das differenzierte und umfangreiche Geflecht ihrer Makro- und Mikrostrukturen, kurz: historische Wenden, sind für Christa Luft seit gut fünfzehn Jahren politische wie wissenschaftliche Herausforderungen besonderer Art.

Bereits in ihren Schriften "Zwischen Wende und Ende" (1990) sowie "Die nächste Wende kommt bestimmt" (1994) thematisierte die renommierte Ökonomin und PDS-Politikerin jene gewichtigen Umbrüche, Problemlagen und Fragen, die der Epochenwandel von 1989/90 hervorbrachte. Spezielle Aufmerksamkeit widmete sie hierbei Prozessen und Ergebnissen der Transformation der ostdeutschen Planwirtschaft, ihrer Einordnung in die bundesdeutsche Marktökonomie. Und es ging ihr um die Perspektiven der ostdeutschen Teilgesellschaft, die im Verlauf der Vereinigung praktizierten Politikmuster und verbreiteten Mythen sowie um die Frage möglicher Alternativen zum gewählten Entwicklungspfad. Aus Anlass von eineinhalb Jahrzehnten deutscher Einheit und mit genügendem, fundierte Urteile erlaubendem zeitlichem Abstand zum geschichtlichen Ereignis selbst nimmt Luft diesen Topos wieder auf und - dies gleich vorweg - bearbeitet ihn eindrucksvoll.

Mit "Wendeland" dokumentiert sie nicht nur überzeugend ihre umfassende Kompetenz in Wirtschaftstheorie und -praxis, ihre intime Sicht auf Abläufe und Bilanz, Irrtümer und Irrationalitäten der Transformation. Vielmehr gelingt es ihr, zum einen den Begriff "Wende" inhaltlich zu weiten, ihn für neue, gesamtdeutsche Dimension zu öffnen. Kurz: Es geht um die Erkenntnis, dass sich in der Bundesrepublik gerade in den letzten fünfzehn Jahren eine mehr als problematische Mutation vollzog - die ökonomisch und sozial höchst bedrohliche Wende vom "rheinischen" zum "reinen" Kapitalismus (S. 125 ff.). Daher besteht die Notwendigkeit - und das ist eine Kernbotschaft von Luft -, diese Wirtschaft und Gesellschaft dringend einer grundlegenden Wende zu unterziehen. Insofern leben wir heute in einem "Wendeland". Damit wird auch die Bedeutung der im Vorwort formulierten Position nachhaltig unterstrichen: "Mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus ist ein Denken in gesellschaftlichen Alternativen nicht abwegig geworden. (...) Die Systemdebatte kehrt in neuer Form zurück" (S. 11/12).

Zum anderen präsentiert sie selbst ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie ihr engagiertes Plädoyer für eine Politische Ökonomie (S. 189 ff.) zu verstehen ist und was diese zur ökonomischen Aufklärung innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft beizutragen vermag. Den LeserInnen wird in diesem Kontext nicht nur schlüssig vor Augen geführt, auf welche Erkenntnis- und damit auch Handlungsblockaden die ökonomischen Legenden und Mythen des Neoliberalismus zielen, welche fatalen Folgen gerade dessen Monopol langfristig für die Gesellschaft im allgemeinen wie für ihre Ökonomenzunft im besonderen zeitigt. Zugleich wird - wider die Modellökonomie des neoklassischen Mainstream und der häufig bemühten "reinen Logik des Sachzwanges" - argumentativ auf den Punkt gebracht, dass die Wende innerhalb des bundesdeutschen Kapitalismus ökonomisch wie sozial eindeutig Gewinner und Verlierer kennt. Etabliert wurde eine "Republik für Reiche", in der "eine Reichtumspflege ungeahnten Ausmaßes" stattgefunden hat (S. 155).

Worin bestehen die Vorzüge dieses Buches? Die Antwort könnte und müsste eigentlich viele Facetten benennen. Doch das würde den zur Verfügung stehenden Platz sprengen, weshalb ich mich auf vier Punkte konzentrieren will. Erstens fällt aus methodischer Sicht positiv ins Auge, dass sowohl die drei Hauptkapitel wie auch die meisten Unterkapitel mit einer klar umrissenen und vor allem gewichtigen Problemstellung, mit einer konkreten Leitfrage eröffnet werden. So wird etwa im ersten Kapitel ("Nach dem Fall der Mauer - Kapitalismus ohne Schamgrenze") analysiert, "wie der Kapitalismus mit seinem ›Sieg‹ umgeht" (S. 17), im Mittelpunkt des zweiten Kapitels ("Vom ›rheinischen‹ zum reinen Kapitalismus ") steht die Frage, "wie das einst gezähmte Kapital seine Zügel abwirft und der Sozialstaat praktisch zur Abwicklung freigegeben wird" (S. 126). Im abschließenden Kapitel ("Alternativlosigkeit - ein Mythos") wird dem Problem nachgegangen, "wie das natürliche Spannungsverhältnis zwischen betriebswirtschaftlicher Logik und gesamtgesellschaftlicher Vernunft produktiv gemacht" und der Sozialstaat unter vielfach veränderten Verhältnissen erneuert werden kann (S. 188).

Zweitens wird eine mit Fakten gut unterlegte, stringent an zentralen Problemlagen und Prozessen entwickelte Analyse des globalen Kapitalismus der Gegenwart vorgelegt. Sie benennt neue Phänomene und Entwicklungen in dessen Ökonomie, Politik, Ideologie und sozialer Landschaft ebenso wie präzise die konkreten Folgen für Klassen und soziale Gruppen, für ihre Lage und Perspektive. Die treffliche Abhandlung zur Politischen Ökonomie des heutigen Kapitalismus provoziert die Frage, ob Luft - die sich hierzu nicht explizit äußert - vielleicht in Sachen wissenschaftlicher Verallgemeinerung zu neuen, systematisierten Erkenntnissen gekommen ist? Da die marxistische Kapitalismuslehre eine offene Baustelle ist, ihre Qualifizierung seit längerem Diskursobjekt innerhalb der emanzipatorischen Linken ist, sollten Chancen zur Weiterentwicklung der ökonomischen Kapitalismustheorie unbedingt genutzt werden.

Drittens zeichnet sich Wendeland dadurch aus, dass das historisch und sozialbiographisch geprägte Interesse von Luft an Umbau und Entwicklung ostdeutscher Ökonomie, ihre Einwendungen zu entsprechenden Strategien und Entwicklungspfaden keineswegs "regionalwirtschaftlich" bestimmt sind. Ihr Ansatz, ihre Forderungen basieren vielmehr auf der Optik der Makroökonomie, zielen auf eine gesamtwirtschaftliche Perspektive, verorten die Ostdeutschland betreffenden Fehldiagnosen und -steuerungen in den Grundfehlern einer die bundesdeutschen Verhältnisse generell prägenden neoliberalen Wirtschafts- und Ordnungspolitik. Nicht zufällig reklamiert sie daher eine "Renaissance makroökonomischen Denkens in der Wirtschaftswissenschaft" bzw. "eine entsprechende Ausrichtung der Wirtschaftspolitik " (S. 188).

Viertens bereichert Luft die aktuelle Debatte über wirtschaftliche Alternativen. Nicht nur, dass sie sich anregend mit dem Spannungsverhältnis von betriebswirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlicher Vernunft auseinandersetzt, dabei verdeutlicht, dass Maßstab für das Funktionieren einer Gesellschaft nicht die Maximierung unternehmerischen Gewinns sein kann, sondern dass es um "eine neue, gemeinwohlorientierte demokratische Regulationsweise der Wirtschaft" geht, "die sich betriebliches Gewinninteresse zunutze macht, es sowohl stimuliert, als ihm auch Grenzen zieht" (S. 188). Souverän greift sie zudem alle relevanten Themen dieser Debatte auf - zu Eigentum und Zukunft der Arbeit, Wachstum und Arbeitszeitverkürzung, Grundeinkommen und Mindestlohn sowie Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme. Ihre diesbezügliche Polemik mit dem ökonomischen Mainstream wie mit problematischen linken Positionen offenbart Sachkenntnis und Problembewusstsein und hält fraglos gut begründete Lösungsangebote parat. In diesem Kontext fällt allerdings auf, dass der Produktivität der unterschiedlichen theoretischen Quellen, die für wirtschaftliche Alternativen relevant sind, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil wird.

Kein Zweifel: Mit "Wendeland" hat Christa Luft ein wahrlich inspirierendes und ermutigendes Buch vorgelegt.

in: UTOPIE kreativ, H. 182 (Dezember 2005), S. 1142 f.