Alte und neue Zwänge des Sozialstaats

in (30.05.2005)

Rezension von: Holger Kindler / Ada-Charlotte Regelmann/ Marco Tullney (Hrsg.), Die Folgen der Agenda 2010. Alte und neue Zwänge des Sozialstaats. VSA-Verlag Hamburg 2004, 240 Seiten, EUR 16.80

Der Ende 2004 erschienene Band "Die Folgen der Agenda 2010 - Alte und neue Zwänge des Sozialstaats" ist nichts für Zartbeseitete, räumt er doch mit zahlreichen genauso weit verbreiteten wie falschen Annahmen auf, die die sogenannten Sozialreformen der rot-grünen Bundesregierung bisher propagandistisch flankierten. Was wie realgewordene Horrorszenarien anmutet, wird auf 226 Seiten von 12 AutorInnen mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und gleichsam ideologie- und sozialkritischer Perspektive genauestens analysiert und kommentiert.

Anne Alex gibt eine detaillierte Einführung in arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Änderungen und schildert deren direkte soziale Auswirkungen sowie indirekte gesellschaftliche Implikationen. Auch gelingt es ihr einen Zusammenhang vieler als vereinzelt wahrgenommener Aspekte aufzuzeigen. Dreh und Angelpunkt sind dabei dramatische Kürzungen der Sozialleistungen und ein allgemeiner Arbeitszwang in Wechselwirkung von SGB II und SGB XII, die zur massiven Absenkung des Lohnniveaus führen. Hierbei wird der gemeinsame Nenner aller Maßnahmen offenbar: die Unterordnung der Arbeitsmarktpolitik unter die Wirtschaft bzw. wirtschaftliche Kriterien. Objektiv betrachtet, so konstatiert Alex ironisch, ist eine Koppelung von Erwerbslosenfürsorge und verpflichtenden, neuen Arbeitsdiensten unbegründet, ideologisch hinterfragt, drängt sich eine Analogie zur Notstands- und Pflichtarbeit zwischen 1918 und 1927 in Deutschland geradezu auf.

Michael Klundt räumt gründlich mit den Vorstellung auf, dass Armut eine Randerscheinung und der "realexistierende Reichtum" eine Bedingung des "Wohlstands für alle" sei. Stehen beide Dimensionen im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung noch zusammenhangslos nebeneinander, untersucht Klundt die Entstehung, Struktur und Wirkungen von Armut und Reichtum insbesondere vor der Folie derzeitiger Pauperisierungspolitik. In Negation des Kausalzusammenhangs zwischen Armut und Reichtum verkehrt nicht nur die Politik der Bundesregierung Ursache und Wirkung, wenn sie die Schuld für Armut und Deprivation in "Sozialschmarotzern" und "Drückebergern" personifiziert und kulturalisiert. Folgerichtig heizt die aktuelle Steuerpolitik den dem Kapitalismus immanenten Umverteilungsprozess von unten nach oben an, anstatt Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die (Wieder-)Abschottung des Bildungsystems und die Individualisierung sozialer Risiken wie Kinder, Krankheit und Alter, sind weder vermeintlich objektiven leistungsbedingten gesellschaftlichen Unterschieden geschuldet, noch bloße Kollateralschäden, sondern politisches Programm zur Steigerung des privaten Reichtums. Klundt legt nicht nur den Gewerkschaften nahe, endlich ihre affirmative wettbewerbskorporatistische Haltung aufzugeben und wie die Gegenseite konfliktfähig zu werden, sondern fordert mit Marx auch eine Emanzipation jenseits des Klassenverhältnisses.

Der Gemeinheiten haben die Hartzgesetze derlei viele zu bieten. Martin Bongards hat diese schon früh erkannt. Angefangen mit Hartz I und II, (Minijobs, Ich-AGs und Zeitarbeit) gilt Hartz IV mit der Abschaffung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als konsequente Fortführung der Absenkung des Lohnniveaus. Von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt, wurde die Diskussion um das so genannte Abstandsgebot entschieden und die Mindestlohnfunktion der Sozialhilfe ausgehebelt. Damit nicht genug, ist das neue "Armenrecht" als ergänzende Sozialleistung konzipiert. Staatlich subventionierte Arbeitspflicht in Armut knapp unter dem Sozialhilfeniveau, stellt nicht nur eine inhumane Zumutung dar, sondern wird auch den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbeziehungen in Deutschland radikal verändern. Ausgenommen vom so genannten Nachrangprinzip sind Arbeitslose künftig nur noch für ein Jahr, danach müssen sie samt ihrer Angehörigen als Bedarfsgemeinschaft ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen. Die Änderung der Zumutbarkeitskriterien zwingt - vorgeblich im Sinne der Gemeinschaft und von den Medien propagandistisch mit der Aufwertung von Ehrenämtern begleitet - alle ALG II EmpfängerInnen zur Annahme jeder von den Ämtern individuell und willkürlich vertraglich verordneten Arbeitsgelegenheit. Besonders betroffen sind die so genannten arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen, die für kommunale Zwangsdienste rekrutiert werden. Zeichneten sich neoliberale Politikkonzepte bisher durch eine wirtschaftliche Deregulierung einerseits und einen schlanken Staat andererseits aus, lässt sich aktuell eine Kombination neoliberaler Wirtschaftspolitik mit einem autoritären Staat ausmachen, der sich einen gesellschaftlich kultisch übersteigerten Arbeitsbegriff zu Nutze machen kann.

Eigentlich verbietet das Grundgesetz Zwangsdienste genauso wie die Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt. Gisela Notz beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Hartz­Gesetzen als großangelegtes Refamilialisierungsprogramm. Schon jetzt arbeiten zu über 70% Frauen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Die politisch forcierte Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen in ungesicherte Billigjobs wird diese Entwicklung weiter verstärken, die Regelungen für ALG II tun ihr Übriges. Analog zum Modell des männlichen Haupternährers und der weiblichen Zuverdienerin hat nur, wer eine "besondere Verantwortung" für Familienangehörige trägt, eine Chance auf "echte" Weiterbildungsmaßnahmen, eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt sowie Kinderbetreuungsplätze. Durch die Definition der Bedarfsgemeinschaft wird zumeist Frauen ein eigenständiger Anspruch auf Sozialleistungen verwehrt. Begünstigte das Ehegattensplitting die "Hausfrauenehe" bisher indirekt, zementiert Hartz IV die finanzielle Abhängigkeit von Frauen nun ganz offen, dadurch dass Einkommen und Vermögen von LebenspartnerInnen angerechnet werden und damit hunderttausende von Frauen aus dem Bezug von ALG II herausfallen. Es sind mehrere Faktoren, von denen die gesellschaftliche Gruppe der Frauen elementar betroffen ist. Frauen werden - mit Haupternährer oder ohne - noch stärker als bisher gezwungen sein, Mini-, befristete und Teilzeitjobs anzunehmen, wobei sich der Konkurrenzdruck auf den Bereich der geringfügig Beschäftigten erhöhen und zu einer zusätzlichen Prekarisierung führen wird. Letztlich wird wirksam, was schon lange als überwunden galt: entzieht sich der Staat der sozialen Verantwortung, fallen soziale Arbeiten vor allem auf die Frauen zurück, eine gleichstellungspolitische Zielsetzung war bei der Agenda 2010 auch gar nicht vorgesehen. Ebenfalls unbeachtet bleiben Wechselwirkungen von Hartz IV und dem neuen Zuwanderungsgesetz. Für die Gruppe der MigrantInnen ergibt sich nicht nur aufgrund der speziellen soziostrukturellen Verteilung eine überdurchschnittliche Betroffenheit der Auswirkungen der Agenda 2010, sondern auch durch Kollisionen mit aufenthaltsrechtlichen Regelungen. Marco Tullney deutet die zum Erscheinungsdatum des Bandes noch schwer absehbaren Entwicklungen mit seinem Beitrag kurz an.

Der Grundsatz des "Forderns und Förderns" steht nicht etwa in der Tradition des emanzipatorischen pädagogischen Konzepts der "Hilfe zur Selbsthilfe", sondern kommt einem Bruch mit dem liberalen und sozialen Rechtsstaat gleich, so Frank Rentschlers These. Dieser Paradigmenwechsel manifestiert sich nicht nur in einer Abstrafung breiter Massen, für ihr vermeintliches Vergehen der Arbeitslosigkeit, sondern kommt vor allem auch in der Ambivalenz des Charakters der Arbeitsbehörden zum Ausdruck. Diese verstehen sich einerseits als moderne Dienstleister für Unternehmer und Wirtschaft und sind andererseits zuständig für die staatliche Fürsorge für Bedürftige. An die Stelle einklagbarer Rechte treten mit Hartz IV jedoch eine neue Form der Behördenwillkür und soziale Kontrolle durch die FallmangerInnen. Dieses neue Modell der autoritären Fürsorgeangebote hat eindeutig die Funktion so genannte Vermittlungshemmnisse wie Inflexibilität, Immobilität und zu hohe Gehaltsansprüche auf seiten der Arbeitnehmenden abzubauen. So sollen Bedürftige gefügig gemacht werden für den Arbeitsmarkt. Die Eingliederungsvereinbarung ist ein vertraglich bindendes Dokument, bei deren Abschluss sich zwei sehr unterschiedliche VertragspartnerInnen gegenüberstehen. Deswegen ist nicht nur deren moralische, sondern auch juristische Legitimität unbedingt in Frage zu stellen. Die eine Seite steht unter dem unmittelbaren Zwang die nackte Existenz zu sichern (einen Anspruch auf Sozialhilfe gibt es nicht mehr), die andere Seite versteht sich wie bereits erwähnt als "moderner Dienstleister am Arbeitsmarkt". Doch nicht nur die AntragsstellerInnen selber treten hier die Rechte an der eigenen Person und Arbeitskraft ab, sondern auch Dritte als Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft können und sollen hierbei vertraglich miteinbezogen werden.

Begründet wird Sozialabbau nicht selten mit drastischen und unausweichlichen demographischen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und daraus resultierenden Entwicklungen, die die Sozialversicherungssysteme nachhaltig beeinflussten. Rolf Schmucker entlarvt diesen vermeintlichen Sachzwang am Beispiel der Gesundheitsreform als Mythos und beschreibt die Transformation von PatientInnen zu KundInnen auf dem Gesundheitsmarkt.

Die vielerseits angenommene derzeitige "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen ist empirisch unhaltbar, stattdessen blieb die Kostenentwicklung über einen Zeitraum von 30 Jahren relativ konstant. Ein Anstieg der Versicherungsbeiträge hingegen, resultiert aus Verlusten auf der Einnahmeseite bedingt durch Arbeitslosigkeit und zunehmende sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigung. Mit der These der "Überalterung der Gesellschaft" verhält es sich ähnlich. Die vielzitierten Prognosen beziehen sich allesamt auf einen Zeitraum von genau 50 Jahren, der sich zum einen politisch und damit demographisch schlecht kalkulieren lässt, weil zu lang, und sich zum anderen genau auf die kurze Zeitspanne beschränkt, in der die geburtenstarken Jahrgänge der heute 30-40-jährigen alt sind. Grundsätzlich, so konstatiert Schmucker, sind demographische Bevölkerungsentwicklungen nicht naturgegeben, sondern über Bereiche wie die Zuwanderungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik politisch beeinflussbar. Die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung geht auch nicht wie behauptet mit einer Kostenzunahme durch vermehrte Krankheit im Alter einher, sondern im Gegenteil mit einem verbesserten Gesundheitszustand der älteren Bevölkerung.

Um Kürzungen in der Kranken- und Rentenversicherung durchzusetzen und dabei von ökonomischen Interessen abzulenken, wird ein Generationenkonflikt künstlich konstruiert. Mit dem Argument der zu hohen Lohnnebenkosten und viel Standortlogik, wird schließlich die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung zugunsten von Unternehmerseite aufgehoben. Durch Annäherungen der gesetzlichen Krankenkassen an die privaten und die Notwendigkeit von privaten Zusatzversicherungen werden Krankheitsrisiken in Abkehr vom gesellschaftlichen Solidarmodell individualisiert. Von der Privatisierung des Gesundheitssektors, dem System der Zuzahlungen sowie einer Einschränkung der Leistungskataloge (Splittung in Grund- und Wahlleistungen) profitieren nicht zuletzt private Versicherungen, sinnvolle präventive Maßnahmen werden durch die Lobby von Ärzteverbänden und Pharmaindustrie verhindert.

Die finanzielle Situation der Kommunen, besonders der ostdeutschen ist desolat. Dies ist für viele direkt spürbar, da freiwillige kommunale Leistungen rigoros gestrichen und selbst verpflichtende öffentliche Aufgaben der Städte und Kommunen in den privaten Bereich zurückverlagert werden. Ursache sind auch hier Verluste auf der Einnahmenseite durch vom Bund verursachte Einbrüche der für Kommunen so wichtigen Gewerbesteuer zur Finanzierung der Unternehmenssteuerreform einerseits sowie sinkende gemeindliche Einnahmen und steigende Sozialausgaben aufgrund des Anstiegs der Arbeitslosigkeit andererseits. Enttäuscht von der Gemeindesteuerreform ließen sich die Spitzenverbände nun durch finanzielle Versprechungen mittels Hartz IV ködern und stimmten der Abschaffung des Arbeitslosenhilfe zu. Anstatt einem Geldsegen, beschert Hartz IV derzeit den Städten und Gemeinden Zusatzkosten in unerwarteter Höhe. Wie durch Steuern wieder Geld in die Gemeindekassen kommen könnte, zeigt Jörg Heuer in seinem Beitrag.

Durch den Abbau des Zivildienstes entstehen den Sozialhilfeträgern personelle Versorgungslücken. Einst als militärpolitische Alternative zum Wehrdienst konzipiert und aus dem Verteidigungshaushalt finanziert, deckte diese - vor allem als Abschreckungsmaßnahme für junge Männer konzipierte - Einrichtung in den 1980er und 1990er Jahren nicht unbedeutende Teile der staatlichen Pflegeleistungen ab. Heute warnt Rüdiger Bröhling davor, den Zivildienst durch eine neue Form der Zwangsdienste, basierend auf dem SGB II, zu schließen. Ein Dienst auf Freiwilligenbasis ist auch keine Alternative, da beides suggeriert, qualifizierte Vollzeitstellen im Pflegebereich, könnten durch unqualifizierte befristete ersetzt werden. Durch die Kürzung staatlicher Finanzierung im Sozial- und Gesundheitsbereich und nicht zuletzt durch Einrichtung der Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre ist die Ökonomiesierung in der Pflege mittlerweile so weit fortgeschritten, dass der psychosoziale Anteil der Tätigkeiten auf Seiten öffentlicher wie privater Träger radikal dezimiert wurde. Vor dem Hintergrund aktueller Pläne der öffentlichen Träger reguläre Pflegestellen durch ALG II-Zwangsmaßnahmen zu ersetzen, erweist sich der Abbau von Zivildienststellen als geringes Problem, hat sich dessen Anteil an der Pflege schon seit den 1990er Jahren beständig und fast unmerklich reduziert. Jetzt besteht die Gefahr, dass die Job-Agenturen den auf billige ambulante Pflegekräfte angewiesenen PflegegeldbezieherInnen massenhaft unqualifizierte ALG II-AnwärterInnen vermitteln. Die systematische Entwertung der Arbeit im Sozialbereich, angefangen mit der Beschäftigung von Zivildienstleistenden, würde auf Kosten der Pflegebedürftigen, durch neue Zwangsverpflichtungen noch weiter fortschreiten.

Angela Klein ordnet den derzeitigen Sozialabbau in der BRD in seinen westeuropäischen Kontext ein. Auffälig ist, dass die meisten Entwicklungen länderübergreifend historisch parallel verliefen, angefangen bei schlichten Leistungskürzungen der Sozialversicherungen über Privatisierungen in öffentlichen Bereichen bis hin zu einer weitgehenden Flexibilisierung der Arbeitsmärkte mit Leih- und Zeitarbeit und der Lockerung des Kündigungsschutzes sowie Arbeitszeitverlängerung. Bei diesen Deregulierungsmaßnahmen von Wirtschaft und Arbeit und dem Rückbau der Sozialversicherungssysteme seit den 1980er Jahren handelt es sich nicht etwa um eine einheitliche und koordinierte europäische Sozialpolitik, sondern um gemeinsame EU-Standards in der Wirtschafts- und Währungspolitik, die zu einer großangelegten Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an das Gebot der Wettbewerbsfähigkeit führten. Als wichtige gemeinsame Konstante, macht Klein das Einvernehmen der Gewerkschaften aus, das als "quasi nationale Bedingung" in vielen europäischen Ländern schon in den 1980er Jahren Sozialabbau im großen Stil ermöglichte und in Deutschland erst nach Zusammenbruch des real-sozialistischen Gegengewichts wirksam wurde.

Kai Eicker-Wolf untersucht die Steuerpolitik der Bundesregierung und weist nach, dass insbesondere die Senkung bzw. Abschaffung der Gewinn- und Vermögenssteuern sowie die Einkommenssteuerreform Unternehmen und Privathaushalte mit hohem Einkommen überdurchschnittlich begünstigt haben, während die öffentliche Hand drastische Einnahmeausfälle zu verzeichnen hatte. Als Alternative zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer und Erhöhung der Erbschaftssteuer stellt Eicker-Wolf das von verdi und attac entwickelte Modell der Solidarischen Einfachsteuer (SES) vor, das eine vereinfachte und sozial ausgewogene gleichmäßige Besteuerung aller Einkünfte zur Sicherstellung der öffentlicher Ausgaben vorsieht.

Mag Wompel fiel mit dem letzten Beitrag des Bandes die undankbare Aufgabe zu, einen Ausblick auf Möglichkeiten des Widerstandes gegen Sozialabbau zu geben. Zu diesem Zweck betrachtet er daher zunächst die Vorraussetzungen unter denen die Hartz-Gesetze gesellschaftlich installiert wurden. Unter immensem Zeitdruck und mit Hilfe eines "Kommissionswesens", konnte die Bundesregierung sowohl alle wichtigen Akteure miteinbinden als auch alle Betroffenenvertretungen umgehen. Die Medien, zuvor versorgt mit unterschiedlichsten Teilinformationen und Halbwahrheiten, stimmten die Öffentlichkeit mit Scheindebatten über "Sozialschmarotzer" auf die anstehenden Reformen ein. Zwar schließt der Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften zumeist offiziell auch Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen mit ein, praktisch sind diese jedoch nicht in die Strukturen eingebunden und waren so aus den Entscheidungsprozessen ausgenommen. Auch LohnarbeiterInnen, insbesondere Jugendliche, Frauen und Ältere, sind als EmpfängerInnen von Sozialleistungen von den Kürzungen betroffen. Schließlich galt es nur noch die einzelnen Betroffenengruppen propagandistisch gegeneinander auszuspielen, um möglichen Widerstand schon im Keim zu ersticken. Da Widerstand nicht (mehr) besteht und die gesellschaftliche Akzeptanz der Entrechtung breiter Massen groß ist, besteht in der Konsequenz für Staat und Kapital auch nicht länger die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung sozialer Sicherungssysteme.

Deswegen plädiert Wompel für eine Rückbesinnung auf rechtliche und soziale Ansprüche jenseits der bloßen Abwehr neuer Zumutungen. Nur ein breites Bündnis aus linken GewerkschafterInnen, die nicht der Arbeits- und Standortideologie aufgesessen seien, sozialen Bündnissen, Arbeitenden und Erwerbslosen auf regionaler, bundesweiter Ebene, könne durch langanhaltenden und lauten Protest den "größten Angriff des deutschen Kapitals und der politischen Parteien im Bundestag in der Nachkriegsgeschichte der sozialen Sicherungssysteme" (Alex) stoppen.

Viele wissen derzeit nicht genau, wie ihnen geschieht. Wer es dennoch ganz genau wissen will, sollte unbedingt zu diesem lehrreichen wie aufklärerischen Sammelband greifen, dessen nahezu prophetischer Inhalt alles andere als beschönigend beschreibt, was er verspricht: "Die Folgen der Agenda 2010 - Alte und neue Zwänge des Sozialstaats".

Grit Meier, Politikwissenschaftlerin, ehemalige Referentin für feministische Wissenschaftkritik und Vorstandsmitglied im AStA Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Feministische Theorie, Esoterik-Kritik, Antifaschismus, Antirassismus und Sozialpolitik. Studiert in Marburg Erziehungswissenschaften und arbeitet als Sozialarbeiterin.