Wozu noch Gewerkschaften?

Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift, Göttingen: Steidl, 2004. B.Riexinger/W.Sauerborn: Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle. Vorwärts zu den Wurzeln! Hamburg, VSA, 2004.

Es dürfte schwer fallen, das neue Buch von Oskar Negt ohne große Emotionen zu lesen. Wenn es einen deutschen linken Intellektuellen gibt, der für die neuesten sozialen Bewegungen eine vergleichbare Rolle hätte spielen können wie Pierre Bourdieu für die französischen, so er. Anfang/Mitte der 90er war es dann auch Negt, der für Furore in den großen Medien sorgte, als er gegen den entfesselten Raubtierkapitalismus wetterte und dem neuen gesellschaftspolitischen Unmut eine Sprache lieh. Doch seine persönlichen wie politischen Bindungen an den Hannoveraner Kanzler in Wartestellung - seinerseits, das muss selbstkritisch eingeräumt werden, Ausdruck eines historisch tiefer liegenden Problems, dass da heißt: die (west-)deutsche Linke - haben ihm und uns einen Strich durch die politische Rechnung gemacht. Seine 1998 veröffentlichte Streitschrift für die SPD markierte sicherlich den Tiefpunkt dieses linken politischen Intellektuellen. Dass er trotzdem ein intellektuelles Schwergewicht geblieben ist, das rechts liegen zu lassen grundverkehrt wäre, zeigte schon seine monumentale Studie Arbeit und Menschenwürde (2001, vgl. SoZ 5/02).
Glanz und Elend dieses Denkers werden nun erneut sichtbar in seiner kleinen Streitschrift zur Krise der Gewerkschaften. Negt interpretiert diese im Kontext seiner Diagnose einer gesellschaftspolitischen und kulturellen Erosionskrise, die eben auch die Gewerkschaften treffe. Mit Verve geißelt er den neoliberal entfesselten Kapitalismus und beklagt ein Gesellschaftsklima, in der "die Frage nach den Zwecken und dem Lebenssinn fortwährend in Rechtfertigungsnot gerät". Und er erinnert die Gewerkschaften an ihre ureigenste Aufgabe: "Solange Kapital- und Marktlogik die Realitätsdefinitionen dieser Gesellschaft vorgeben, haben Gewerkschaften gleichsam den historischen Auftrag, die Lebensinteressen jener Menschen kollektiv zu vertreten, die als vereinzelte und in isolierter Konkurrenz kämpfende Individuen nicht fähig sind, aus eigener Kraft (ohne solidarische Hilfe anderer) würdige Lebensbedingungen herzustellen."
So radikal Negt an die Wurzel der Probleme geht - und was er zur notwendigen Veränderung der Gewerkschaftsformen zu sagen hat, ist nicht minder radikal und treffend (Stichwort: neue soziale Gewerkschaftsbewegung) -, immer wieder bricht allerdings seine Bindung an die neoliberal Regierenden und ihre gewerkschaftlichen Komplizen durch. Die Rolle der Gewerkschaftsführungen und ihres bürokratischen Apparats, das Problem des Widerspruchs zwischen Bewusstsein und Interesse, Ideologie und Tat, wird vollkommen ignoriert, die Taten und Verantwortung rot- grüner Politiker vollständig verschwiegen. Die Bösen, das sind immer nur die Konservativen und Liberalen, und gelegentlich Karl Marx, weil ausgerechnet der für bürokratische Funktionärshaltungen verantwortlich zu machen sei.
Über weite Strecken kommt die Schrift daher, als verharre Negt noch in den 80er Jahren. Trotzdem, welcher Intellektuelle seines Einflusses würde noch heute einen Satz formulieren wie: "Wer nicht die Herrschaftsverhältnisse als Ganzes abschaffen will, wird sie auch in ihren Teilaspekten nicht überwinden können."
Auch Bernd Riexinger und Werner Sauerborn sehen den zentralen Widerspruch gewerkschaftlicher Politik im Auseinanderklaffen von mikro- und makroökonomischer Rationalität. Stärker jedoch als Negt arbeiten sie heraus, dass dieses Auseinanderklaffen sich innergewerkschaftlich widerspiegelt in einer fortschrittlichen Rhetorik gegen Sozialabbau und Lohnverzicht auf der einen, und der gleichzeitigen permanenten Organisierung desselben Prozesses (Co-Management) auf der anderen Seite.
Die Gewerkschaften müssen, so die Autoren, im Bruch mit ihrer bisherigen Praxis ihre Konfliktfähigkeit politisieren, mindestens Elemente einer radikalen Kapitalismuskritik reaktivieren, gesellschaftspolitische Alternativprogramme entwickeln und Tariffragen zu Gesellschaftsfragen machen. Sie müssen autonom werden und sich von der betrieblichen Ebene und ihren Kämpfen ausgehend erneuern. Doch gerade dies, so ihre zentrale These, werde nicht funktionieren, wenn sie nicht gleichzeitig gewerkschaftliche Schutzpolitik europa- und weltweit neu organisieren. Die Überwindung von ökonomischer und sozialer Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse kann unter globalisierten Bedingungen nur noch ebenso global, entlang von Wirtschafts- und Branchengrenzen und nicht von Nationalstaaten, vonstatten gehen (vgl. nebenstehenden Artikel).
Die diesen Folgerungen zugrundeliegende Analyse der Globalisierungsprozesse mag strittig sein, sie verdeutlicht aber die strukturellen Dilemmata der Gewerkschaftspolitik und zeigt, dass und wie Gewerkschaftspolitik und Gewerkschaftstheorie integraler Bestandteil einer zeitgenössischen politischen Ökonomie des "Turbo"-Kapitalismus sind.