Rodenstock, Randolf: Chancen für Alle. Die Neue Soziale Marktwirtschaft

Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2001

Das Buch quillt über von neoklassischen Werturteilen, Grundannahmen und neoliberalen Phrasen. Sozial heißt, frei nach Adam Smith, dass das Handeln der Gesellschaft nutzt...

Rezension in DAS ARGUMENT 252, Heft 4/5 2003, S. 270ff:

Ludwig Erhards Motto "Wohlstand für Alle" wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für breite Bevölkerungsschichten Wirklichkeit, so der Verf. Dazu haben den Deutschen Fleiß und Marktwirtschaft verholfen. Sichtbar wird das an der Kaufkraft des Lohnes am Beispiel Bohnenkaffee. Für eine Stunde Arbeit bekomme man heute die dreißigfache Menge (16).

Die Marktwirtschaft bedarf aber einer Sozialordnung, die die Solidarität mit den Schwachen regelt (wobei Verf. Jedoch nicht die Kaffeebauern einbezieht). Soziale Absicherung der Bürger in Deutschland und anderen Industrieländern darf deshalb als bedeutendste Errungenschaft des vergangenen Jahrhunderts gelten. Grundlage dafür ist die Marktwirtschaft. Sie ist an sich sozial und basiert grundsätzlich auf Leistungs- und Chancengerechtigkeit (25). Soziale Sicherheit ist auf Dauer nur mit den Marktkräften und nie gegen sie zu erreichen (106). Das "Wieselwort" sozial im Begriff der Sozialen Marktwirtschaft vernebelt diese Erkenntnis, so der Verf.., womit er auf den neoliberalen Vordenker F.A.v. Hayek Bezug nimmt. Die Soziale Marktwirtschaft habe in den vergangenen Jahren zu viel Speck angesetzt. Auch das Umfeld habe sich geändert. Auf diese Herausforderungen müssen neue Antworten gefunden werden, die sich an den alten Grundsätzen orientieren. Es geht heute um nicht weniger als die Umsetzung einer Neuen Sozialen Marktwirtschaft (29). Die Marktwirtschaft müsse flexibler werden. Dann biete sie jedem Einzelnen mehr Möglichkeiten, sich, seine Talente und Fähigkeiten einzubringen und am Fortschritt teilzuhaben (32). Neue Technologien (Bio-, Gen-, Nano-) sollten genutzt werden, dann "werden wir alle älter, gesünder, wohlhabender und hoffentlich auch glücklicher werden" (187). Freiheit ist die Wurzel der Marktwirtschaft: "Jedermann soll - innerhalb eines festgelegten Ordnungsrahmens - einen Beruf oder ein Gewerbe seiner Wahl ausüben dürfen: Anbieter und Nachfrager begegnen sich in einem unbehinderten Markt und einem freien, aber fairen Wettbewerb. Auch die Preise sollen sich frei und ohne staatlichen Einfluss am Markt bilden; jedermann mag seine Ausbildung, seinen Wohnort und seinen Arbeitsplatz wählen." (33) Schuld am Elend der Wirtschaft seien heute zu viele Regeln und staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess. Tarifverträge seien Arbeitsplatzkiller (63). Es ist untauglich, das Demokratieprinzip auf die Wirtschaft überzustülpen (81). Demokratie zeigt sich jedoch tagtäglich in millionenfachen Abstimmungen auf Märkten (181).

Das Buch quillt über von neoklassischen Werturteilen, Grundannahmen und neoliberalen Phrasen. Sozial heißt, frei nach Adam Smith, dass das Handeln - und sei es noch so egoistisch motiviert - der Gesellschaft nutzt. Dafür sorgt der Wettbewerb am Markt (23). Dass der Verf. Damit keine "neuen akademischen Wahrheiten" zur Sprache bringt, erwähnt er zu Beginn gleich selber (13). Darum geht es auch nicht und das Buch könnte ob seiner Naivität getrost mit einem Schmunzeln zur Seite gelegt werden, wäre es nicht repräsentativer Ausdruck der Inhalte der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, (INSM), die sich zum Ziel gesetzt hat, die gesamte Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen (31). Wie in einem Brennglas bündelt die INSM neoliberale Theorie und Politik in Deutschland. Hier werden Neoliberale theoretisch und praktisch fassbar. Rodenstock verlässt sich auf die wissenschaftliche Kompetenz des Instituts der Deutschen Wirtschaft (Gerhard Fels) und den Wirtschaftsjournalisten Peter Gillies (marktwirtschaft.de). Unterstützer der Initiative finden sich in allen etablierten Parteien, von der SPD (Wirtschaftsminister Clement) über die CSU (Stoiber) bis hin zu den Grünen (Kuhn, Metzger), die Bundesanstalt für Arbeit fehlt ebenso wenig (Gerster) wie Schatten-Wirtschaftsminister Späth. Vorsitzender der Initiative ist Ex-Bundesbankchef Hans Tietmeyer, der wie kein anderer als Symbol für das neoliberale "Einheitsdenken" steht. Ihr Einfluss wird vor dem Hintergrund der gegenwärtig durchgesetzten "Reformen" deutlich, von der Gesundheits- über die Arbeitsmarkt- bis zur Bildungspolitik.

Für die versprochenen sozialen Ergebnisse des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses sind in der Praxis bestimmte Grundlagen (z.B. Solidarität in Familie und Kleingruppen) und Werte (Rechtschaffenheit der Beteiligten) fundamental, schreibt Verf. (36f). Die Praxis der oben beschriebenen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik fördert allerdings hemmungslosen Individualismus, die Ethik wird zur Privatangelegenheit. Den neoliberalen Marktmodellen liegen enge Ausgangsbedingungen und Annahmen zugrunde. Nur unter Einhaltung dieser Voraussetzungen könne die Dynamik des Marktes ihre volle Wirksamkeit entfalten. Doch vielfältigste Gruppen behindern den freien Markt (z.B. Gewerkschaften und Parteien). Daher zielt neoliberale Politik darauf, diese möglichst zu beseitigen oder ihre Macht einzuschränken. Rodenstocks Buch ist der pseudowissenschaftliche Ausdruck eines politischen Aktionsprogramms, das darauf abzielt, durch neoliberale Reformpolitik die Grundlagen ("Betriebsbedingungen") der Theorie in der Realität erst herzustellen: es ist ein planmäßiges Programm zur Zerstörung der Kollektive (soziale Sicherungssysteme, öffentliche Dienstleistungen), wie es Bourdieu in seinem Buch Gegenfeuer beschreibt. Die akademischen Darstellungen kapitalistischer Marktwirtschaft führen eher zu Verwirrung und Desorientierung vieler Bürger, so der Verf. (13). Was die akademischen "Neuen Sozialen Marktwirtschaftler" inhaltlich zu sagen haben, übersetzt Rodenstock mit ihrem Einverständnis in allgemein verständliches Deutsch. Doch mit diesem Angriff auf den Alltagsverstand geben sich die Neoliberalen zugleich eine intellektuelle Blöße, die erstaunlich ist. Es liegt nun an kritischer Wissenschaft, dies in allgemein verständlichem Deutsch darzulegen und in den öffentlichen Diskurs einzubringen.