Immer wieder: Die Überraschungs-Mär

Robert B. Stinnett: Pearl Harbor. Wie die amerikanische Regierung den Angriff provozierte und 2476 ihrer Bürger sterben ließ, Verlag Zweitausendeins, 2003, 566 Seiten

Das Spiel ist so alt wie die Geschichte der militärischen Überfälle und Attacken selbst: Man erklärt sie für überraschend. Das macht sich gut für alle Beteiligten. Es gibt dem Angreifer die Möglichkeit, sich selbst als
besonders raffiniert und professionell und den Angegriffenen als besonders unfähig und harmlos darzustellen, und es setzt den Angegriffenen
in den Stand, dem Angreifer besondere Perfidität, Hinterhältigkeit und Gewissenlosigkeit zuzuschreiben und jeden Gedanken an eigene Fehler weit von sich zu weisen. Wer überrascht wird - so die Logik solchen Herangehens -, hatte gar keine Zeit, Fehler zu machen.
Später dann - natürlich - klärt sich auf, daß nichts so überraschend war, wie man es einst gesagt hatte. Aber was heißt schon: "klärt sich auf"? Das tut sich nicht von alleine, nein, das muß getan werden, von Menschen, ganz aktiv, und es ist dann eine Geschichte für sich, mit welchen
Mitteln und Anstrengungen die Überraschungs-Legende bewahrt
und verteidigt wird.
Angehörige meiner heute fünfzigjährigen DDR-Generation werden sich in mein Erstaunen hineinversetzen können, als ich - geprägt von der These, daß der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überraschend gekommen sei, und vom Entsetzen darüber, daß Stalin die Warnungen seines Meisterkundschafters Richard Sorge aus Tokio hinsichtlich dieses Datums nicht ernst genommen hatte - 1987 im chinesischen Staatsarchiv in Nanking auf ein Schreiben des chinesischen Botschafters in Berlin an seinen Regierungschef Tschiang Kaischek vom 31. Januar 1941 stieß, in dem dieser mitteilte, daß Deutschland den Beginn der "Militäroperation gegen Rußland" für "April oder Mai" 1941 plane und das Ziel dieser Operation "über den Ural hinaus" gehe, wofür man "nicht mehr als drei oder vier Monate" brauchen werde. Wenn, dachte ich, der chinesische Botschafter diese Pläne bereits im Januar kannte - wie viele Menschen mehr müssen dann in den folgenden Wochen und Monaten dieses und noch viel mehr gewußt haben! Natürlich auch in Moskau! Und wer dort hat dieses Wissen mit welchen Zielen für sich behalten? Und welche Opfer auf der eigenen Seite billigend in Kauf genommen? Daß der Überfall ein Verbrechen furchtbarster Art und Dimension war, lag doch auf der Hand - warum wurde er dann noch mit der Überraschungs-Legende befrachtet?
Antworten in bezug auf einen anderen "Überraschungs"-Angriff gibt der amerikanische Journalist Robert B. Stinnett mit seinem Buch Day of Deceit. The Truth about FDR and Pearl Harbor (Tag des Betruges. Die Wahrheit über F[ranklin] D[elano] R[oosevelt] und Pearl Harbor), das dieser Tage in deutscher Übersetzung im Verlag Zweitausendeins erschienen ist.
Gegenstand des Buches sind die Wochen und Monate vor dem Überfall Japans auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941, und im Ergebnis seiner auf mehr als 500 Seiten ausgebreiteten, auf Tausende von Akten gestützten Forschungen gelangt Stinnett zu dem Schluß, daß entgegen allen offiziellen Beteuerungen der Überfall auf Pearl Harbor nicht nur keine Überraschung war, sondern im Gegenteil von seiten der US-Regierung sogar provoziert wurde. Den zweiten Teil dieser Schlußfolgerung behandelt Stinnett ohne den Versuch einer abschließenden Bewertung. Mit Recht verweist er auf die Kompliziertheit der Kriegslage im Herbst 1941, als Europa, Asien und
Nordafrika durch die Aggressionskriege Deutschlands und Japans in Flammen standen und in den USA eine große Mehrheit der Auffassung war, man dürfe dennoch in diesen Krieg nicht eingreifen. Präsident Roosevelt wollte diese Mehrheit umstimmen - und die Frage, welche Mittel dazu erlaubt oder nicht erlaubt waren, wird - da ist Stinnett voll und ganz zuzustimmen - wohl immer sehr umstritten bleiben.
Aber hart geht Stinnett mit all denjenigen in den USA ins Gericht, die, nachdem der Krieg gewonnen war und es keine militärischen Gründe zur Geheimhaltung mehr gab, immer weiter an der Überraschungs-Legende strickten und jeden, der an ihr zu rütteln versuchte, verfolgten, einschüchterten oder für verrückt erklärten. Und indem er die Fakten minutiös aneinanderreiht, zeichnet er ein bedrückendes Bild von Manipulation, Informationsunterdrückung, tödlicher Konkurrenz der Geheimdienste untereinander und nachfolgender Lüge und Täuschung - und auch davon, wie unter solchen Bedingungen tausend- und zehntausendfache Heldenleistung zur puren Unsinnigkeit verkommen kann.
Denn all das, was amerikanische Funker und Kryptologen (Entschlüsseler geheimer Codes) in den Jahren 1940 und 1941 geleistet haben, um den japanischen Funkverkehr im Pazifik lückenlos überwachen und damit sowohl die lang- und kurzfristigen Vorbereitungen des Überfalls als auch den gewaltigen Flottenaufmarsch selbst, der am 25. November 1941 begann und über den Nordpazifik hinweg bis Pearl Harbor führte, aufs Genaueste verfolgen und analysieren zu können: All dies hat den Überfall nicht zu verhindern vermocht, weil - so Stinnett - schon im Oktober 1940 im Weißen Haus eine nur dem Präsidenten und einigen wenigen seiner engsten Vertrauten bekannte Strategie entwickelt worden war, die die Japaner zur Führung eines Erstschlages gegen die USA verleiten sollte.
Den Entwicklern dieser Strategie - so weist Stinnett nach - war an zweierlei gelegen. Sie wollten erstens die Japaner in ihren Pearl-Harbor-Plänen nur ja nicht stören und zweitens die zu erwartenden Verluste auf der eigenen Seite so kanalisieren, daß es nicht zu der von den Japanern erhofften Zerschlagung der Seekriegsfähigkeit der USA kommen würde. So schufen sie - zum Beispiel - eine "geräumte Zone" im Nordpazifik, damit die japanische Armada bei ihrem Vormarsch nicht auf Handels- oder gar Kriegsschiffe treffen konnte, und sie sorgten mit eigenartig zwielichtigen Befehlen dafür, daß am 28. November und am 5. Dezember die 21 modernsten der in Pearl Harbor stationierten Kriegsschiffe - darunter die Flugzeugträger Enterprise und Lexington - den Hafen in Richtung der westlich von Hawaii gelegenen Inseln Wake und Midway verließen und damit nur ältere oder ganz und gar überalterte Schiffe zurückblieben. Eine Seekriegsübung, die der Oberbefehlshaber der Pazifikflotte, Admiral Kimmel, im November 1941 von Hawaii aus mit allen großen und modernen Schiffen hatte durchführen wollen, weil er glaubte, einem möglicherweise auf Pearl Harbor gerichteten Angriff auf offener See begegnen zu müssen, war durch Weisung aus Washington abgebrochen worden.
So war - wie Stinnett überzeugend darzustellen in der Lage ist - die Überraschung des 7. Dezember 1941 keine wirkliche, sondern eine selektive. Sie traf nicht den Präsidenten - aber sie traf zum Preis von fast 2 500 Toten die Soldaten, die auf Pearl Harbor Dienst taten, und deren Angehörige, sie traf Admiral Kimmel, den man aus dem Kreise der Mitwisser herausgehalten hatte, und sie traf, wie man im Weißen Haus gehofft hatte, die Bevölkerung der USA, deren Stimmung rasch zugunsten eines Kriegseintritts umschlug.
Das Buch von Robert B. Stinnett stammt aus dem Jahre 2000. Die Fragen, die es aufwirft, sind seit dem 11. September 2001 noch brennender geworden.

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 15. September 2003, Heft 19

aus dem Inhalt:
Jürgen Scheich - 11. September, Erhard Crome - Chile, eine Erinnerung, Wolfram Adolphi - Immer wieder: Die Überraschungs-Mär, Horst Grunert - Lehren aus der Geschichte, Hans Walter, Budapest - Bedenkliches, Kai Biermann - Übermenschen für das Pentagon, Max Kreth - Forschungsobjekt PDS, Christian Funke - Es war nicht alles echt, Gerd Kaiser - Paraden in Polen, Kurt Merkel - Berliner Ausstellungen, Renate Hoffmann - William und Roswitha, Gerhard Wagner - Münchener Friedensengel