Schweizer Selbstdemontage

Am 29. November 2009 waren die Schweizer Stimmbürger dazu aufgerufen, über eine Initiative abzustimmen, die den Bau von Minaretten ab sofort verbieten und das baurechtliche Detail zudem in der Verfassung (!) verankern wollte. Und was davor kaum einer für möglich gehalten hätte, trat ein: 57 Prozent der Bürger, die an der Abstimmung teilnahmen, stimmten für das Verbot (die Abstimmungsbeteiligung lag bei 53,4 Prozent aller Stimmberechtigten). Und auch die zweite Mehrheit, diejenige der 26 Kantone, wurde spielend erreicht. Einzig die drei französischsprachigen Kantone Genf, Waadt und Neuenburg sowie Basel, die einzige weltoffene Stadt in der deutschsprachigen Schweiz, votierten mit Nein.

Als jedoch anschließend die ganze Elite der Eidgenossenschaft in heilloser Aufregung über das „PR-Debakel“ suggerierte, diese Entscheidung wäre präzedenzlos gewesen, vernebelte sie die wahren Hintergründe. Zwar schritten die vermeintlich zivilen Bürger in der Tat zu ihrer höchst souveränen Selbstdemontage, das jedoch immer getreu dem Motto: „Was den Oberen recht ist, ist den Unteren billig“.

Über viele Jahre hatten nämlich die wirtschaftlichen und politischen Eliten der Schweiz die eigene Zivilität selbst demontiert: mit ihrem Kampf für das Bankgeheimnis, für Steuerbetrüger und für Fluchtgeldschieber aller Kaliber. Das begann bereits Mitte der 90er Jahre mit den „verwaisten jüdischen Konten“ bei Schweizer Banken. Nur auf Druck der US-Administration und jüdischer Interessenorganisationen gelang es damals, die Schweizer Eliten davon zu überzeugen, dass diese trübe Vergangenheit endlich aufgeklärt werden müsse. Das geschah dann in einer 40köpfigen Kommission unter Leitung des Schweizer Historikers Jean-François Bergier, die 2002 ihren Schlussbericht vorlegte (der ergänzt wurde von über zwei Dutzend Spezialberichten). Entgegen den nationalen Lebenslügen und Geschichtsunterrichtsweisheiten machte die Bergier-Kommission deutlich, dass die Schweizer Eliten im Zweiten Weltkrieg Handlungsspielräume hatten, die sie – etwa für die Wirtschaft – nutzten, aber in der Flüchtlingspolitik bewusst nicht ausschöpften.

1997 wurde nach dem Bericht über die nachrichtenlosen Bankkonten in der Schweiz der Holocaustfonds eingerichtet und von den Schweizer Banken und der Nationalbank mit je 100 Mio. und von der Wirtschaft mit 73 Mio. Franken ausgestattet. 309 000 überlebende Opfer vor allem in Osteuropa, Weißrussland und in der Ukraine erhielten daraufhin Leistungen aus dem Fonds.

Doch wer gemeint hatte, die Schweizer Eliten wären durch diesen Imageschaden irgendwie klüger geworden, sah sich alsbald getäuscht. Als USA und EU vor zwei Jahren intensiver nach Steuerbetrügern fahndeten, stießen sie bei Schweizer Banken und Behörden auf den alten Starrsinn, mit dem beide an der feinsinnigen Unterscheidung zwischen nur mit Bußen belegter Steuerhinterziehung und strafbarem Steuerbetrug festhalten wollten, um ihre dubiose Kundschaft aus aller Welt zu schützen. Kurzum: Bei so viel Durchtriebenheit derer da oben wird man sich über die Ressentiments von unten kaum wundern können.

Alpenländischer Chauvinismus

Denn natürlich ging es bei der Abstimmung nicht um die Minarette, von denen es in der Schweiz ganze vier gibt. Die Kampagne setzte auf Ressentiments gegen Muslime und den Islam und mobilisierte angesichts steigender Arbeitslosigkeit in der Krise den alten alpenländischen Chauvinismus gegen Fremde. Die Kampagne, vom deutschen „Kreativen“, sprich: Werbefritzen, Alexander Segert konzipiert, trug eindeutig rassistische Züge, besonders jenes Plakat, das eine Frau in einer Burka zeigt, die neben sieben Minaretten steht, die aus einer Schweizerflagge sprießen wie Raketen, die angeblich die Schweiz bedrohen.

Außer der Blocher-Partei SVP und ein paar rechtsradikalen Sekten waren alle Parteien, alle Kirchen, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände gegen das Verbot. Insofern ist das Abstimmungsergebnis in der Tat eine Sensation. Besonders peinlich ist die Niederlage für das Parlament, das die Initiative mit 70 Prozent der Stimmen ablehnte, aber die Volksabstimmung dennoch zuließ, obwohl das Minarett-Verbot eindeutig gegen die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verstößt. Diese parlamentarische Zustimmung war rechtlich nicht zwingend, sondern entsprang purem Opportunismus bzw. der Angst, einer SVP-Initiative Verfassungswidrigkeit zu bescheinigen. Da es in der Schweiz aus logisch-systematischen Gründen kein Verfassungsgericht gibt – in der direkten Demokratie hat das Volk das letzte Wort, nicht ein Gericht –, wird nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entscheiden.

Längst feiert eine gesamteuropäische Internationale rechtsradikaler Parteien, etwa aus Österreich, Italien, Frankreich und den Niederlanden, zusammen mit den selbstgerechten Schweizer Chauvinisten den Sieg über Vernunft und Toleranz. Roberto Calderoni, ein Minister der Lega Nord in Berlusconis Regierung, kündigt gleich an, was in Italien auf der rechten Tagesordnung steht: „Ja zu Kirchtürmen, Nein zu Minaretten.“ Ähnliche Parolen kommen von den „Freiheitlichen“ in Österreich – FPÖ wie BZÖ fordern unisono ein europaweites Verbot. Und in den Niederlanden kündigte Geert Wilders, der Chef der „Partei für Freiheit“, an, auch die Holländer würden Gelegenheit erhalten, über ein Minarett-Verbot abzustimmen. Beflügelt von diesem Erfolg, erklärten die Schweizer Initianten, sollen bald auch Abstimmungen über „Zwangsheirat“, „Ehrenmord“ und „Burkas“ stattfinden – kurz: das volle Programm der auch hierzulande zunehmend populären Islam-Hetze.

Dass in Zürich und Bern umgehend jeweils mehrere hundert, zumeist junge Menschen mit Transparenten wie „Peinlich, Schweizer zu sein“ demonstrierten, ist nur ein kleiner Trost, verglichen mit der Tatsache, dass in 15 Kantonen jeweils zwischen 60 und 71 Prozent für das Verbot stimmten. Zum miserablen Ergebnis passt, dass am gleichen Tag eine Initiative, die den Kriegsmaterialexport verbieten wollte, mit mehr als einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt wurde (in den kleinen Kantonen lag die ablehnende Mehrheit sogar zwischen 77 und 88 Prozent). Dabei wird in der Schweiz kein Fetisch höher gehängt als die Neutralität. Wie sich diese mit Waffenhandel à tous azimuts verträgt, spielt im bigotten Mehrheitsdiskurs allerdings keine Rolle. Für die weltweit geachtete „Neue Zürcher Zeitung“ war die Initiative denn auch prompt ein Versuch, die Waffenexportindustrie „partiell zu entwaffnen“.

Europäischer Rechtsruck

Was also bedeutet das Resultat der Minarett-Abstimmung? Erstens: Auch wenn die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ umgehend kommentierte, dass die direkte Demokratie und Volksabstimmungen automatisch einen „populistischen Faktor“ enthielten, bleibt diese Grundsatzkritik grundfalsch. Bei der direkten Demokratie ist der Populismus nicht serienmäßig eingebaut, sondern rechte und rechtsradikale Formationen bedienen sich des Instruments der direkten Demokratie (durchaus gegen deren eigene Intentionen), um ihre trübe Suppe zu kochen. Der legitime Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf direkte Partizipation ist auch keine kleinstaatlich-alpine Marotte, wie viele deutsche Intellektuelle von rechts bis links oft behaupten, sondern eine Kernforderung emanzipatorischer Staatsbürgerlichkeit. Die nordamerikanischen Kolonien befreiten sich aus der Bevormundung durch die englische Krone und das plutokratische englische Parlament mit der direktdemokratischen Forderung „no taxation without participation“.

Dass das Grundgesetz in der Frage direkter Partizipation defizitär ist, hat gute historische Gründe, mehr aber auch nicht. Das Misstrauen gegen ein Volk, das zwölf Jahre lang fast geschlossen hinter einem verbrecherischen Führer herlief, war damals berechtigt und hat sich heute schlicht überlebt.

Zweitens: Das Schweizer Abstimmungsergebnis kam tatsächlich überraschend – alle Prognosen lagen 15 bis 20 Prozent daneben und rechneten mit einer klaren Ablehnung der Initiative. Demoskopen sprechen in diesem Zusammenhang von „Faust-in-derTasche-Effekten“, das heißt, die Befragten äußern nicht ihre wirkliche Meinung, weil diese als irgendwie „unfein“ oder „ungehörig“ gilt. Diese Selbstverleugnung deutet immer auf ein reales Problem hinter dem vordergründigen hin: Vordergründig geht es um die Angst vor der angeblich drohenden „Islamisierung“ und „dem“ Islam. Dahinter aber steht die Angst vieler Bürger vor sozialer Deklassierung, Arbeitslosigkeit und Armut – Probleme, auf die die Eliten keine Antwort haben.

In der Schweiz brachte die Krise 2009 erstmals nach 1945 eine nennenswerte Arbeitslosenquote von rund vier Prozent. Die SVP redet bereits davon, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU neu auszuhandeln, also auf den „Ausländer-raus-Kurs“ einzuschwenken. Letztlich ist das Abstimmungsergebnis ein Zeichen für die allgemeine Verunsicherung vieler Bürgerinnen und Bürger und vor allem ein Ausdruck der Distanz zwischen diesen und den wirtschaftlichen und politischen Eliten. Und diese Distanz ist ein aussagekräftiger Indikator für das Legitimationsdefizit der politischen Klasse und – in der Krise – für das Misstrauen gegenüber den wirtschaftlich tonangebenden Eliten. Das aber gilt für ganz Europa. Angesichts dieser Befunde wäre es längst angezeigt, dass Parteien und Gewerkschaften, Regierende und Profitierende in ihrem eigenen Interesse dazu übergingen, die Ängste und Verunsicherung breiter Schichten der Bevölkerung in ihre politischen Kalküle einzubeziehen und entsprechend zu handeln.

Drittens: Innenpolitisch vergrößert sich der Graben zwischen den liberalen westschweizerischen Kantonen und den ostwärts immer reaktionärer werdenden Kantonen. Dieser Graben existiert seit 1914, als sich frankophile und germanophile Politiker und Militärs gegenüberstanden, aber er wurde nie zu einer realen Bedrohung der Einheit des Landes. Die Abstimmungen der letzten Jahre zeigen jedoch, dass der Graben eher breiter wird. Politisch isoliert sich die Schweiz in Europa, weil sie mit dieser Entscheidung das zivilisatorische Mindestniveau von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz entschieden unterbietet und sich obendrein mit einer baurechtlichen Norm mit Verfassungsrang schlicht wieder so lächerlich macht wie zu den Zeiten, als die Weißwein-Lobby 1908 das Verbot von Absinth in der Verfassung verankerte. Es hielt sich 97 Jahre und fiel erst im Jahr 2005. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich das Verbot von Minaretten so lange wohl nicht halten wird. Die absehbare Ohrfeige des Straßburger Gerichtshofs wird das Image des Landes vollends ruinieren.

Mit dem guten Ruf der Schweiz als freiheitlich-demokratisches Land dürfte es nun für längere Zeit vorbei sein. Im wärmsten November seit Menschengedenken brach in den Alpen der Winter ein. Politisch könnte es eine lange Eiszeit für die eidgenössische Politik werden.

Kommentare und Berichte - Ausgabe 01/2010 - Seite 9 bis 12