Störenfried in der linken Idylle?

Anmerkungen zum Interesse, das Pierre Bourdieu hervorruft

Pierre Bourdieu hat mit seiner Initiative, die Intellektuellen als ModeratorInnen einer europäischen sozialen Bewegung gegen den Neoliberalismus zu organisieren, ein enormes Medienecho hervorgerufen.

Pierre Bourdieu ist inzwischen einer der Superstars der europäischen Sozialwissenschaften. Als er im Sommer in Berlin war, war der Hörsaal zu voll, als dass alle, die hören wollten, was Bourdieu zu sagen hat, dies auch konnten. Das ist Grund genug, noch einmal genau hinzuschauen. Was hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu zu sagen? Weshalb rufen sein Appell an den Verstand, sein Aufruf zu Engagement und seine Parteinahme für ein besseres Leben solch eine Resonanz hervor?
Im Folgenden soll das Interesse an Bourdieu näher ergründet werden. Dabei wird zu zeigen sein, dass nicht jede Kritik, die in den letzten Wochen in Deutschland geäußert wurde, den Ansprüchen an eine konstruktive Auseinandersetzung gerecht wird.

Der Sozialwissenschaftler

70 Jahre ist er inzwischen alt, Pierre Bourdieu, Professor für Soziologie am Collège de France in Paris. In mittlerweile 40jähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit hat er ein Werk vorgelegt, dass durchaus beeindruckend ist. Knapp 40 Bücher, über 200 Aufsätze und Vorträge und ungezählte Interviews sind mit seinem Namen verbunden.
Wissenschaftlich erstmals in Erscheinung getreten ist Bourdieu Ende der 50er Jahre mit Studien zur Soziologie der algerischen Kolonialgesellschaft. In den 60er Jahren dann lehrt er an der Sorbonne und forscht am Centre de Sociologie Européenne. Gegenstand seiner Forschungstätigkeit wird das französische Bildungssystem und seine Rolle bei der Reproduktion gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Daneben entstehen Studien zur Kunst und zur Kunstrezeption.

In den 70er Jahren, Direktor am Centre de Sociologie Européenne wird Bourdieu im Jahre 1975, stehen kultursoziologische und klassentheoretische Fragestellungen im Mittelpunkt seiner Forschungen. Ergebnis dieser wissenschaftlichen Arbeit ist sein großes Werk zur Sozialstruktur Frankreichs, La distinction. Critique sociale du jugement. Diese Arbeit wird 1979 unter dem Titel Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft auf deutsch veröffentlicht.

In den 80er Jahren zeichnet sich langsam das Ende seiner von ihm selbst auch so bezeichneten "gelehrten Enthaltsamkeit" ab. Bourdieu beginnt eine Beratertätigkeit bei der Gewerkschaft C.F.D.T. und übernimmt, an das Collège de France berufen, die Federführung bei der Erstellung von "Vorschlägen für das Bildungswesen der Zukunft", die auf Ersuchen des französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand von Professoren des Collège de France verfasst wurden. Am Collège de France entwickelt Bourdieu zugleich seine Überlegungen zur Selbstreflexivität der Soziologie weiter. Diese Tätigkeit mündet in Veröffentlichungen über die Rolle der Intellektuellen in der Auseinandersetzung mit der Macht.

Die 90er Jahre werden zum Jahrzehnt, in dem Pierre Bourdieu zunehmend offensiver seine wissenschaftliche Tätigkeit mit parteiischen Interventionen auf den Feldern der Kultur und der Politik verknüpft. Dabei positioniert er sich als ein Intellektueller, der in der Tradition von Marx, Zola und Sartre Theorie und parteiliche Praxis als Einheit auffasst. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass die Veröffentlichung des von ihm herausgegebenen und mitverfassten Gemeinschaftswerkes La misère du monde von politischen Stellungnahmen gegen das Elend der Welt begleitet ist.

In den Massenprotesten zur Jahreswende 1995/96, als sich in Frankreich eine soziale Bewegung gegen die Demontage des Sozialstaates durch die damalige bürgerliche Regierung formierte, formuliert Bourdieu scharfe Angriffe gegen den Neoliberalismus, gegen den Mythos der Globalisierung, gegen die mediale Bewußtseinsindustrie und gegen die zunehmende Ausgrenzung von Minderheiten im Prozeß des gegenwärtigen Gesellschaftsumbaus. Dieses Engagement gegen das Elend der Welt führt Bourdieu in den Folgejahren weiter. Er gründet raisons d` agir und versucht, gewerkschaftliche Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat zu unterstützen. Seinen vorläufigen Höhepunkt finden die praktischen Interventionen Bourdieus auf dem Feld des Politischen im Frühjahr 2000: Als Mitunterzeichner des Manifests Für die Einberufung von Geneneralständen der sozialen Bewegung in Europa reist er durch Europa, um diese vorzustellen und zu diskutieren.

Shooting star

Als Initiator und Mitunterzeichner des "Manifests" war Pierre Bourdieu Anfang Juni auch in Berlin. Bevor hier nun näher auf diese neueste politische Intervention eingegangen wird, ist allerdings zunächst allgemeiner seine relative Popularität auszuleuchten, die ihn inzwischen auszeichnet.
Bourdieu selbst räumt ein, dass er erst in den letzten Jahren zu der intellektuellen Praxis gefunden hat, die er auch als Ende der Weltflucht beschrieben hat. Und es ist sein Engagement auf dem Feld des Politischen, das ihn nicht nur als kritischen Intellektuellen auszeichnet, sondern auch einen Ruf begründet, der im Umfeld der linken Wissenschaftsszene Interesse hervorruft. In der Rolle des kritischen Intellektuellen tritt Bourdieu glaubwürdig auf. Geradezu selbstverständlich verweist er damit zurück auf den in der linken Szene durchaus immer noch populären, parteilichen Wissenschaftler Karl Marx. Zum einen gelingt dies, in dem er den Zusammenhang von Theorie und Praxis vorlebt , zum anderen ist sein theoretisches Werk auch durch Bezüge auf die wissenschaftlichen Vorarbeiten Marxens gekennzeichnet. Damit wird Bourdieu, unabhängig davon, ob er dies so will oder nicht, zu einer Projektionsfläche, auf der er als Hoffnungsträger und Repräsentant eines modernen Marxismus erscheint.

Dieser Aspekt verweist auf ein ganzes Ensemble wirksam werdender Zusammenhänge: Bourdieu ist zum shooting star in der europäischen Sozialwissenschaft geworden, weil er sich parteilich gegen den Neoliberalismus positioniert und Handlungsorientierung vermittelt. Er macht keinen Hehl daraus, dass sein wissenschaftlicher Werkzeugkasten durch die marxistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft beeinflußt ist. Auf dem Feld des Politischen widerspricht er damit permanent dem Sprüchlein des kleinen ehemaligen deutschen Arbeits- und Sozialministers, der 1989 ausrief, Karl Marx sei tot, aber Jesus lebe.
Gleichzeitig verschafft ihm sein wissenschaftliches Forschungsprogramm eine besondere Autorität. Denn praktisch wie theoretisch agiert Bourdieu auf der gesellschaftlichen Fluchtlinie, die durch das Begriffspaar "Reform" und "Revolution" gekennzeichnet ist. In dem er in seinen Forschungen der Stellung des Individuums in der Klassengesellschaft und den Prozessen gesellschaftlich vermittelter Individualität eine besondere Bedeutung einräumt, gelingt es ihm nicht nur, die Vergesellschaftungen und Anrufungen der Individuen im Neoliberalismus zu erfassen, sondern darüber hinausgehend auch, wissenschaftlich benennbare Entfremdungserfahrungen und Hoffnungen auf dem Feld des Politischen zum Ausdruck zu bringen. Dies zeigen nicht zuletzt die Verkaufszahlen seiner jüngsten Bücher in Frankreich. Wer soziologische Bestseller zu schreiben in der Lage ist, dem gelingt es offenkundig, vorhandene Hoffnungen, es möge eine bessere Welt als diese geben, anzusprechen. Das Interesse an Bourdieu und sein "Erfolg" ist in diesem Sinne nicht allein in seiner Person, sondern zugleich in der Misere in der neoliberalen Welt begründet.

Zum 1. Mai 2000 nun hat Pierre Bourdieu das "Manifest" veröffentlicht, mit der er und die MitunterzeichnerInnen durchaus nicht kleinmütig ein großes Ziel verfolgen. Sie wollen mit dem Manifest, das nach eigenem Bekunden "aus vielen Diskussionen in verschiedenen Ländern in den letzten Jahren" hervorgegangen ist, einen Anstoß dafür geben, dass sich alle kritischen und fortschrittlichen Kräfte in Europa in einer Sammlungsbewegung zusammenschliessen. Mit einer solchen Sammlungsbewegung, so Bourdieu in seiner Vorbemerkung zum "Manifest", sollen die intellektuellen und institutionellen Voraussetzungen entstehen, um in einer großen, gemeinsamen Anstrengung Grundsätze für eine echte Alternative zu der neoliberalen Politik zu erarbeiten, die sich heute auch unter sozialdemokratischen Regierungen immer weiter durchsetzt. Dabei geht Bourdieu davon aus, dass vor allem auch ein organisatorischer Rahmen dafür geschaffen werden muß, im europäischen Maßstab gegen diese Politik gemeinsam vorgehen zu können.
Deutschland kritisch

Mit der Veröffentlichung des "Manifests" hat Pierre Bourdieu auch in der Bundesrepublik Deutschland einen ersten Gipfel der Popularität erreicht. War er vorher außerhalb des universitären Betriebs nur durch seine veröffentlichten Statements und seinem Engagement im gewerkschaftlich orientierten Zirkel kritischer Sozialwissenschaft bekannt, so erzeugt die Nennung seines Namens nunmehr bereits größere Aufmerksamkeit in der kritischen und progressiven Szene in Deutschland. Auch haben sich bereits erste KritikerInnen zu Wort gemeldet.
Besonders bemerkenswert ist dabei zunächst, dass die KritikerInnen reflexhaft darauf reagieren, dass sich Bourdieu mit dem "Manifest" und seinen Stellungnahmen gegen den Neoliberalismus in der gesellschaftlichen Fluchtlinie bewegt, die - markiert durch das Begriffspaar "Reform" und "Revolution" - selbstverständlich als Zuhause für die eigene linke Weltanschauung beansprucht wird. So kann es nicht wirklich überraschen, dass die politische Intervention Bourdieus mit den Stempeln "Reformismus" oder auch schon einmal "Revisionismus" bedacht wird. Dabei wird allerdings übersehen, dass Bourdieu diese Klassifizierung recht gleichgültig ist, da sie sich in Sprache und Stil der Auseinandersetzung auf theoretische Kämpfe der 70er Jahre bezieht, während es das Anliegen Bourdieus ist, ein Terrain abzustecken, auf dem sich in Zukunft eine kritische Gegenmacht gegen die Vorherrschaft neoliberaler Politik und der internationalen Macht des Marktes entwickeln kann. Während die Kritik sich auf das Bourdieu`sche Begriffssytem stürzt, um es an den Kategorien der eigenen wissenschaftlichen Weltanschauung zu messen, agiert dieser auf dem Feld der Organisierung einer pluralen Sammlungsbewegung, aus der er sprachlich möglichst wenig Menschen ausgrenzt.

Überhaupt erscheint die Kritik, die Bourdieu nach seiner ersten Vorstellungsrunde des "Manifests" in Deutschland entgegenschlug, ein wenig irritierend. Im Kontext der gesellschaftlichen Debatte um Nationalismus und Neofaschismus in der Mitte der Gesellschaft ist es gewiß sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass es ideologisch bedenklich ist, wenn die Rede Bourdieus anti-amerikanische Vorurteile zu bedienen geeignet ist. Nur, der Punkt auf den das Vorhaben einer Sammlungsbewegung der kritischen und fortschrittlichen Kräfte in Europa ausgerichtet ist, ist ein anderer: Ihr liegt die politisch-ökonomische Einschätzung zu Grunde, dass es in der Triaden-Konkurrenz im globalen Kapitalismus politisch nötig und machbar ist, das Modell des rheinischen Kapitalismus gegen das des atlantischen Kapitalismus zu verteidigen und zu gestalten.
In diesem Zusammenhang verweist Bourdieu implizit auf die Verknüpfung zwischen dem System der spekulativen Finanzmärkte, der dort verankerten Orientierung am shareholder-value und der Existenz recht großer volkskapitalistischer Aktienfonds als Strukturelement des US-amerikanischen Systems der Altersvorsorge. Nun mag die Einschätzung von Bourdieu, in den Strukturen des Weltfinanzsystems sei eine Vormachtstellung der USA eingeschrieben, ja falsch sein. Nur, um zu dieser Feststellung gelangen zu können, genügt Ideologiekritik nicht. Zur notwendigen Kritik der politischen Ökonomie im Casino-Kapitalismus fühlt sich offensichtlich noch niemand so weit herausgefordert, um damit in die Öffentlichkeit zu treten.

Erst auf der Grundlage einer zu schreibenden Kritik des Casino-Kapitalismus läßt sich abschätzen, ob es realpolitisch sinnvoll ist, Europa als politische Handlungsebene für linke Politik zu benennen. Wenn Bourdieu im "Manifest" vorschlägt, "Generalstände der sozialen Bewegung in Europa" einzuberufen, um unter anderem gemeinsame Ziele auf nationaler wie internationaler Ebene auszuarbeiten, wie zu einer solidarischeren Gesellschaft zu gelangen sei, so geht er davon aus, dass es politisch nicht mehr genügt, politischen Widerstand und politische Alternativen im nationalstaatlichen Rahmen zu diskutieren. Nötig sei eine Internationalisierung, denn in ihrem Mangel sieht Bourdieu einen Grund für die Durchsetzung neoliberaler Politikkonzepte. Auch dieser Gedanke allerdings wird von den KritikerInnen Bourdieus nicht wirklich aufgegriffen. Es gibt gute Gründe, den Einwand, dass linke Politik sich nicht an der Kritik des bürgerlichen Staates vorbeimogeln kann, nicht in falsch verstandener Solidarität zu unterschlagen. Deshalb ist die Skepsis, die der realistischen Utopie der Gestaltung eines europäischen Sozialstaates entgegen gebracht wird, auch ernst zu nehmen.

Allerdings ist es politisch ein Unterschied, ob sich in der skeptischen Abneigung gegen die Vision europäischer Sozialstaatlichkeit ein in ideologischer Borniertheit begründeter Reflex ausdrückt oder ob sich sich darin ein Gespür dafür zeigt, dass gegen politische Staatsfixiertheit der kritische Hinweis erforderlich ist, in staatlichen Strukturen stecke auch disziplinar- und kontrollgesellschaftliche Macht. Über die Frage nach Reform und Revolution, Parlamentarismuskritik und Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderungen durch parteipolitisches Engagement ließe sich lange diskutieren. Insoweit mag so manche Linke den Geruch des Reformismus in der Nase spüren, wenn Pierre Bourdieu über die Perspektive eines europäischen Sozialstaates redet. Doch geht auch diese Reaktion am Anliegen, dass Bourdieu und andere mit dem "Manifest" verknüpfen, vorbei. Es soll ein Anstoß gegeben werden, dass ein intellektueller wie politisch praktischer Zusammenhang von "Generalständen der sozialen Bewegung" entsteht, der sich als unabhängig von Parteien und Regierungen versteht. Es soll ein Diskussionszusammenhang geschaffen werden, in dem sich überhaupt erst kritische Gegenmacht gegen das heraufziehende neoliberale Empire entwickeln könnte. Diesem Vorschlag als desorientierenden Reformismus abzukanzeln, kann nur glaubwürdig vertreten, wer eine bessere Handlungsorientierung in der momentanen Phase der Klassenkämpfe zur Diskussion stellt.

ReFormierung der Linken

Zu hoffen ist deshalb zunächst, dass die deutschen Kritikerinnen verstehen lernen, dass Pierre Bourdieu nicht mit einem politischen Zielekatalog an die Öffentlichkeit getreten ist, der nunmehr einer Gesinnungsüberprüfung zu unterziehen ist, sondern mit der Aufforderung an alle kritischen und fortschrittlichen Kräfte in Europa, darüber nachzudenken, wie gesellschaftlich wirksame Gegenmacht sich entwickeln kann und welche Schritte der ReFormierung der Linken dazu erforderlich und hilfreich sind. Dazu allerdings ist es erforderlich, auch die bisherige eigene Praxis zu hinterfragen - im übrigen auch die des BdWi; ein entsprechender Antrag lag der letzten MV in Berlin ja bereits vor. Statt also vorschnell einen praktischen Vorschlag mit der theoretischen Darlegung der eigenen Weltanschauung zu kontern und Differenzen zu benennen, ist zu wünschen, dass die These Bourdieus ernsthaft erörtert wird, ob nicht in der momentanen Hegemonie des Neoliberalismus und im durchaus auch faßbaren Unbehagen über die Transformation sozialdemokratischer Regierungsparteien ein Moment der möglichen und nötigen Entstehung einer neuen sozialen Kraft, andere nennnen es neues historisches Subjekt, verborgen ist.
Bernd Mex ist Jurist und lebt in Braunschweig

(Forum Wissenschaft 4/00)