Geschichten des Widerstands

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dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen
by
Pun Ngai/Li Wanwei
Publisher:
Assoziation A
Published 2008 in
Berlin/Hamburg
Price:
18,-
Der Transformationsprozess der Volksrepublik China ist gekennzeichnet von in ihrem Ausmaß beispiellosen Wanderungsbewegungen der ländlichen Bevölkerung in die Küstenregionen und Sonderwirtschaftszonen des Landes. Mit der Dekollektivierung der chinesischen Landwirtschaft in den späten 1970er Jahren und begünstigt durch die schrittweise Aufweichung vormals rigider Migrationskontrollen seit Mitte der 1980er Jahre, wurde es transnationalen Konzernen möglich, ihre Mehrwertschöpfung an die Ausbeutung der Arbeitskraft eines Heeres chinesischer WanderarbeiterInnen zu koppeln. Aktuell wird die Zahl der ArbeitsmigrantInnen auf insgesamt 150 bis 200 Millionen geschätzt, wobei es in den Fabrikshallen der Export-orientierten Industrie seit Anfang der 1990er Jahre vor allem junge Frauen – im Chinesischen als dagongmei bezeichnet – sind, deren Mehrarbeit vom Produktionsapparat abgepresst wird. Gleichzeitig stehen diese jedoch auch im Zentrum des zunehmenden Widerstands der WanderarbeiterInnen gegen deren Ausbeutung.
Um die großteils 18- bis 25-jährigen Frauen in ihren Auseinandersetzungen zu unterstützen, gründete Pun Ngai, Professorin am Social Work Research Center der Peking University und an der Hong Kong Polytechnic University, 1996 in der im südchinesischen Perflussdelta gelegenen Stadt Shenzhen das Chinese Working Women Network (CWWN). Gemeinsam mit Li Wanwei, Mitarbeiterin der Hongkonger NGO Industrial Relations Institute, veröffentlichte sie im Jahr 2006 die Ergebnisse eines vom Arbeiterinnen-Netzwerk in Shenzhen durchgeführten Interviewprojektes mit Fabrikarbeiterinnen. Unter dem Titel dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen liegen diese Aufzeichnungen nun auch in deutscher Sprache vor.
Im Vorwort des Buches wird der/die Leser/in an eine der zentralen Thesen in den Arbeiten Pun Ngais herangeführt. Für sie deutet die Bezeichnung dagongmei auf die Entstehung neuer proletarischer Subjekte in China, die in einem deutlichen Gegensatz zu den gongren („ArbeiterInnen“) der Mao-Ära stehen. Während letztere von der einstigen Propaganda gefeiert und in den staatlichen Arbeitseinheiten mit lebenslangen, materiellen Privilegien versehen wurden, verweist der im chinesischen Sprachgebrauch seit etwa 20 Jahren gängige Begriff dagong („für den Boss arbeiten“) auf die Ausdehnung kapitalistischer Arbeitsbeziehungen. Der Zusatz mei („kleine Schwester“) kennzeichnet überdies den geschlechtspezifischen Charakter des Proletarisierungsprozesses. Das auf den dagongmei lastende Ausbeutungsverhältnis sieht Pun Ngai in einer „dreifachen Unterdrückung“ (12) durch das globale Kapital, den chinesischen Staat und patriarchaler Gesellschaftsstrukturen charakterisiert. Despotische Arbeits- und Wohnbedingungen, die Verhinderung eines längerfristigen Verbleibens in den Städten und einer unabhängigen, gewerkschaftlichen Organisierung sowie der Zwang zur Unterordnung unter ein traditionelles Frauenbild sind dabei miteinander verschränkt.
Das Ziel der Veröffentlichung von zwölf biographischen Geschichten in dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen ist es, so erfahren wir ebenfalls im Vorwort, einen „subjektiven Blick der Arbeiterinnen“ (16) auf die in diesem spezifischen Kontext zu verortenden Arbeits- und Lebensverhältnisse zu bieten. Pun Ngai begreift die Erzählungen überdies als ein „Sub-Genre des Widerstands“ (13); die zitierten Erzählungen, die anhand vier thematischer Schwerpunkte gegliedert und von Erläuterungen der Interviewerinnen begleitet werden, sollen insbesondere auch die unterschiedlichen Widerstandspraktiken der dagongmei dokumentieren, die im hegemonialen Diskurs der „Modernisierung“ Chinas ausgeblendet bleiben.
Der Fokus der ersten drei Erzählungen liegt auf den Motiven der dagongmei, ihre ländliche Heimat meist sofort nach dem Schulabschluss zu verlassen. Durch die persönlichen Geschichten wird deutlich, dass die Entscheidungen für ein vorübergehendes Leben als Fabrikarbeiterin auf mehr als bloß ökonomischen Zwängen beruhen. Das Ausbrechen aus einer von der Gewalttätigkeit des Vaters überschatteten Familiensituation tritt in den Ausführungen der jungen Frauen bspw. ebenso in den Vordergrund, wie die Suche nach neuen Herausforderungen und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten abseits der als anstrengend und eintönig empfundenen Arbeit in der Landwirtschaft. Die Stadt wird dabei zur Projektionsfläche von Wünschen nach einem „modernen Leben“ und Konsum. Obwohl die jungen Frauen durch Berichte von ins Dorf zurück kommenden dagongmei über die städtischen Arbeitsbedingungen informiert sind, werden diese Wünsche durch den Anblick der geschminkten und neu eingekleideten Heimkehrerinnen gleichwohl verstärkt. Die Erzählungen vermitteln darüber hinaus einen Einblick in die Gefühlslage der dagongmei, zwischen zwei unterschiedlichen Welten hin und her gerissen zu sein. Die Ausbeutung in den Fabriken und häufiges Heimweh führen dazu, dass sie in Zeiten völliger Erschöpfung in die ländliche Heimat zurückkehren. Da sie ihre Zukunftsperspektiven jedoch weiterhin an eine Arbeit in der Stadt gebunden sehen, dauert es oft nicht lange, bis sie den Entschluss fassen, erneut in die Industriezonen zu wandern.
Die biographischen Geschichten im zweiten Kapitel lenken den Blick auf die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in den ländlichen Regionen Chinas. Die interviewten dagongmei erzählen dabei u.a. von erzwungenen Schulabbrüchen, der elterlichen Entscheidungsgewalt über den Zeitpunkt der Heirat sowie dem Druck, sich einer traditionellen Rolle als Ehefrau unterzuordnen, welche ihr weiteres Leben auf das Gebären und Erziehen der Kinder, die Arbeit im Haushalt und landwirtschaftliche Tätigkeiten beschränkt sieht. Die Erzählungen des zweiten Kapitels zeigen jedoch auch den gegen diese Formen der Unterdrückung gerichteten Widerstand der Frauen auf. Das Verlassen des Dorfes und die Lohnarbeit in den städtischen Fabriken stellen für sie hart errungene Versuche dar, ihre Wünsche nach finanzieller Unabhängigkeit und einem selbst bestimmten Leben zu verwirklichen. Obwohl es neben dem staatlichen Haushaltsregistrierungssystem insbesondere erzwungene Heiraten sind, welche die durchschnittliche Dauer des Aufenthalts von dagongmei in den Städten auf etwa 4-5 Jahre beschränken, verdeutlicht bspw. die Geschichte der 50-jährigen Cuiyi, dass sich die Frauen Wege erkämpfen, aus diesem vorgezeichneten Leben auszubrechen. Durch die Arbeit in der Fabrik fand Cuiyi nicht nur zu einem gestärkten Selbstbewusstsein, sondern widersetzte sich auch erfolgreich der traditionellen Rollenverteilung in der Familie. Nach einigen Jahren der Lohnarbeit zeigt sie sich stolz darüber, nun selbst für das familiäre Einkommen sorgen zu können und ob ihrer Hartnäckigkeit von den Frauen im Heimatdorf bewundert zu werden.
Im Zentrum der im dritten Kapitel unter dem Titel Bittere Wanderarbeit gesammelten Erzählungen stehen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in den Weltmarktfabriken. Neben wiederholten Fällen ausstehender Löhne und der regelmäßigen Ausdehnung der Arbeitszeiten ohne Rücksicht auf gesetzlich festgelegte Standards berichten die Arbeiterinnen vor allem von ihren persönlichen Erfahrungen mit Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen. Die Gefahr von Verletzungen in den Fabriken ist durch veraltete Produktionsmaschinen und fehlende Informationen über notwendige Sicherheitsvorkehrungen groß. Wie die Geschichte der knapp 40-jährigen A’lan, die sich bei der Arbeit in einer Schuhfabrik mit hoch konzentriertem Klebstoff vergiftete und zwei Jahre im Krankenhaus verbringen musste, zeigt, bleiben an die Firmenleitung gestellte Forderungen der dagongmei nach gesundheitlichen Schutzmaßnahmen häufig ohne Reaktionen. Darüber hinaus ist es für die Arbeiterinnen im Falle von Krankheiten und Verletzungen schwer, entsprechende Entschädigungen ausbezahlt zu kommen. Die gesetzlich verankerte Sozialversicherung für WanderarbeiterInnen ermöglicht bisher wenig Rückhalt, da die Firmen nur selten Sozialversicherungsbeiträge abführen. Deutlich wird durch die Erzählungen auch, dass die Einschaltung der lokalen Arbeitsbehörde ohne gleichzeitigen medialen Druck nur begrenzt Unterstützung bietet bzw. deren geringe Entschädigungszahlungen an Stelle der Firmen akzeptiert werden müssen. Denn im Wissen über die Schwierigkeit der dagongmei, auf sich alleine gestellt Gerichtsprozesse zu führen, bleiben die Behörden in erster Linie daran interessiert, direkte Konfrontationen mit den Unternehmen zu vermeiden.
Der Widerstand der dagongmei gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen, welcher im Mittelpunkt des vierten und abschließenden Teils der biographischen Geschichten steht, nimmt nichtsdestotrotz stetig zu. Die Erzählungen dokumentieren, wie sich die Arbeiterinnen u.a. gegen zu niedrige Löhne, regelmäßige Überstunden, Verlegungen der Fabrikstandorte und miserable Wohnverhältnisse zur Wehr setzen. Die systematische Unterbringung von Arbeitsmigrantinnen in Wohnheimen direkt auf dem Fabrikgelände oder in dessen unmittelbarer Nähe, die Pun Ngai als für die Industriezonen Chinas charakteristisch betrachtet und mit dem Begriff „Wohnheim-Arbeitsregime“ (11; siehe auch Pun Ngais Artikel in Perspektiven Nr. 3) fasst, offenbart dabei ihren doppelten Charakter. Einerseits ermöglicht sie den Unternehmen, die Reproduktionskosten der Arbeitskraft niedrig zu halten, die Arbeiterinnen Tag und Nacht zu kontrollieren sowie deren ständige Abrufbarkeit sicherzustellen. Andererseits werden die Wohnheime und Schlafsäle zu Orten, an denen sich die Arbeiterinnen über ihre Erfahrungen austauschen und für gemeinsame Kämpfe vernetzen können. Die dagongmei erzählen von ihren Erfolgen, gemeinsam an Firmenleitung und Arbeitsbehörde gerichtete Beschwerdebriefe zu verfassen, sowie in den Wohnheimen für Unterschriften und Streiks zu mobilisieren. Doch auch Unstimmigkeiten über die Ziele der Auseinandersetzungen und Gegenmaßnahmen des Managements werden beschrieben. Neben der Abschreckung durch Entlassungen oder Beurlaubungen von Rädelsführerinnen bestehen die dargestellten Strategien der Geschäftsleitung u.a. darin, mit Teilzugeständnissen eine Spaltung unter den Arbeiterinnen herbeizuführen. Schließlich verweisen die Erzählungen in diesem Kapitel ebenso darauf, dass die dagongmei über ihre Erfahrungen in Kämpfen sowohl die wichtige Rolle der Kenntnis von Arbeitsgesetzen und des kollektiven Widerstands erkennen, als auch ein zunehmend starkes Klassenbewusstsein entwickeln.
Im Anschluss an die Geschichten der dagongmei finden sich in der deutschen Ausgabe des Buches zwei Texte, die gegenüber dem chinesischen Original ergänzt wurden. In den Nachbetrachtungen von Li Wanwei reflektiert diese über die Beweggründe für die Beteiligung am Interviewprojekt sowie über die Bedeutung der Interviews für die Beziehung zwischen ihr und den Fabrikarbeiterinnen. Dafür beschreibt sie ihre Politisierung in Hong Kong und das daraus erwachsende Interesse an der Unterstützung der neuen ArbeiterInnenklasse in den Industriezonen des angrenzenden Perflussdeltas. Die Zusammenarbeit mit den dagongmei charakterisiert Li als „gemeinsamen Lernprozess“ (196), wobei sie den gegenseitigen Erfahrungsaustausch unter den Arbeiterinnen als einen zentralen Aspekt im Verlauf der Interviews hervorhebt. Die sich hinsichtlich der Veröffentlichung der Interviewaufzeichnungen stellende Frage nach dem Verhältnis zwischen (kommentierenden/ überleitenden) Interviewerinnen und (zitierten) Fabrikarbeiterinnen wird von ihr jedoch nicht thematisiert. Den Abschluss der Publikation bildet das übersetzte Kapitel Sozialer Körper, Kunst der Disziplin und Widerstand aus dem im Jahr 2005 erschienen Buch Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace von Pun Ngai, für dessen Erstellung sie selbst acht Monate in einer Elektronikfabrik in Shenzhen arbeitete. Pun Ngai setzt ihre ethnographischen Aufzeichnungen in Bezug zum foucaultschen Konzept der Disziplinarmacht und präsentiert eine ebenso detaillierte wie aufschlussreiche Analyse der auf die weiblichen Körper gerichteten Disziplinartechniken des Produktionsregimes. Darüber hinaus dokumentiert sie den alltäglichen Widerstand der dagongmei gegen die tayloristischen Arbeitsbedingungen und zeigt dessen Möglichkeiten und Grenzen innerhalb der Machtbeziehungen an konkreten Beispielen auf.
Hinsichtlich bisheriger Publikationen zur Lage chinesischer WanderarbeiterInnen stellt der auf die biographischen Geschichten fokussierte Ansatz des vorliegenden Buchs eine Ausnahme dar. Die Besonderheit dieser Herangehensweise ist dabei insgesamt betrachtet gleichsam dessen große Stärke. Mittels der subjektiven Erzählungen gelingt es zum einen, die spezifische Situation der dagongmei aus deren eigenem Blickwinkel begreifbar zu machen, ohne gleichzeitig die Heterogenität der Arbeiterinnen in Frage zu stellen. Zum anderen können die biographischen Geschichten die den dagongmei im hegemonialen Diskurs zugeschriebene Passivität widerlegen und ihre unterschiedlichen Perspektiven auf emanzipatorische Veränderungen aufzeigen. Des Weiteren ist positiv festzuhalten, dass die Lektüre keinerlei Vorkenntnisse voraussetzt, was neben den Ausführungen im Vorwort vor allem auch einem umfangreichen Glossar mit grundlegenden Begriffsklärungen zu verdanken ist. Das Buch ist somit ein sehr wichtiger Beitrag für eine kritische, an Vorstellungen und Erfahrungen der ArbeiterInnen anknüpfende Auseinandersetzung der deutschsprachigen Linken mit den sozialen Umwälzungsprozessen in China.