Das rote Hanau: Arbeit und Kapital 1830 - 1949

...weil die Hanauer auf der Grundlage ihrer spezifischen Tradition die verheerenden Fehler der obersten Instanzen nicht mitmachen, opponieren, bitter Recht behalten am Ende.

Rezension von:

Judit Pákh, Das rote Hanau: Arbeit und Kapital 1830 – 1949, Darstellung und Dokumente, hrsg. von der IG Metall Hanau/Fulda, Hanau: Cocon-Verlag 2007. 1 112 S., 33 Tabellen, zahlreiche Abbildungen.- 39,80 Euro

„Hanau ist keine Stadt wie jede andere.“ Man kann diesen Satz in der Ankündigung des Verlages nur unterstreichen. Schon das Kartenbild (S. 871) mit den sich rechtwinklig kreuzenden Straßen im regelmäßigen Kranz ehemaliger Befestigungsanlagen stellt den Zusammenhang zu den Planstädten Europas her, und so tun es auch die Menschen. Niederländer und Wallonen, wegen ihres protestantischen Glaubens Verfolgte, erbauen seit dem Ende des 16. Jh. die „Neustadt“ und legen damit den Grund für eine kontinuierliche Entwicklung. 1832 zählt die Stadt knapp 14 000 Einwohner, 1890 rund 25 000, darunter ein Fünftel Katholiken und 2,4 Prozent Juden. Bis 1912 wächst die Bevölkerung auf rund 38 000 an. Das ist im prosperierenden Kaiserreich nichts Ungewöhnliches. Auffallender ist, dass in der Reichstagswahl desselben Jahres 51,4 Prozent ihre Stimme der Sozialdemokratie geben. Seit 1893 wird Hanau im Reichstag durch Gustav Hoch vertreten, eine Persönlichkeit, die für Hanau in etwa das bedeutet, was August Bebel für das ganze Reich ist. Bebel stirbt 1913 geliebt, verehrt und selbst von seinen Feinden anerkannt. Gustav Hoch stirbt 1942 im Elend des Ghettos Theresienstadt. Kaum drei Jahrzehnte liegt die andere Welt zurück, das Hanau der selbstbewussten, hoch organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter, die Bijouteriewaren herstellen, Tabak aufbereiten und Zigarren drehen, Hüte machen, Teppiche weben und am 1. Mai unter der Losung des Achtstundentages durch die Stadt in den Lamboywald hinausziehen. Dabei sind sie sich völlig sicher, dass ihr Tag kommen wird, dass es möglich ist, in geduldiger Agitation durch Partei und Gewerkschaften, in den Genossenschaften und Vereinen dem Sozialismus Schritt für Schritt näher zu kommen, am Tag der Entscheidung endlich so stark zu sein, dass es möglich ist, die Reaktion unter Gelächter davon zu jagen.

Draus ergeben sich die beiden großen Themen, die Judit Pákh in ihrem über tausend Seiten starken Band bearbeitet: Der Aufstieg  der Arbeiterbewegung von den Geheimbünden der Handwerksgesellen in den 30er Jahren des 19. Jh. bis zum vielgliedrigen, weltweit bewunderten Bau der deutschen Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jh. Das andere Thema ist die Tragödie, die sich vom August 1914 an entrollt, alles mit sich reißend, aushöhlend, von der gemeinsamen Sache, dem hohen Ziel nur missbrauchte Namen zurücklassend. Das „rote Hanau“ ist dabei nicht bloße Illustration, nicht einfach Spiegel der großen Politik im kleinen Format, sondern auch Kontrapunkt, weil die Hanauer auf der Grundlage ihrer spezifischen Tradition, ihres Andersseins von den ersten Tagen an, die verheerenden Fehler der obersten Instanzen nicht mitmachen, opponieren, ihre eigenen Wege gehen, bitter Recht behalten am Ende. Das ist so in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“, das ist so in der Novemberrevolution, das ist so im Verhältnis zum Vorstand des Metallarbeiterverbandes und genauso im Verhältnis zur KPD-Führung. Judit Pákh zeigt, dass es immer auch Alternativen gegeben hat, dass es keineswegs nur Einzelne waren, die es ablehnten, unter Aufopferung des Verstandes lediglich zu „funktionieren“. Es ist erstaunlich, wie es der Autorin gelingt, die Trampelpfade des Kalten Krieges zu vermeiden. Vor jeder Bewertung geht es ihr darum, die auseinanderstrebenden Teile der gespaltenen und sich immer weiter aufspaltenden Bewegung angemessen zu verstehen. Eine andere Betrachtungsweise, eine Rechtfertigungslegende für diese oder jene Partei hätte am Gegenstand einer Stadt auch scheitern müssen, in der am 6. November 1932 22,7 Prozent SPD und 32,3 Prozent KPD wählten, zusammen 55 Prozent! Die Vergleichswerte für das Reich sind 20,4 und 16,9 Prozent.

Judit Pákh, die an der Universität Budapest Sozial- und Wirtschaftsgeschichte studiert hat und dort mit einem Thema aus der Handelsgeschichte des 16. Jh. promovierte, hat bei der Bearbeitung des Hanauer Materials auf ihre Erfahrungen aus den ähnlich konzipierten Projekten Nürnberg (1985) und Frankfurt (1994 /1997) zurückgreifen können. Rückhalt gab auch die Methodik, die seit 1982 in 36 Projekten von Verwaltungsstellen der IG Metall unter Beteiligung der Autorin erarbeitet worden ist. Wie die meisten dieser Bände gliedert sich auch das „Rote Hanau“ in fünf Kapitel, wobei das Ende der Sozialistenverfolgung 1890, die Novemberrevolution 1918 sowie der Beginn und das Ende der faschistischen Diktatur 1933 bzw. 1945 die Zäsuren liefern. Der beachtliche Korpus der auf diese Weise gegliederten Darstellungen und Dokumente umfasst 924 Seiten, davon 390 Seiten Darstellung. Das „Rote Hanau“ liefert somit nicht nur einen Fundus zeitgenössischer Dokumente, ein gedrucktes Archiv gleichsam, sondern auch eine zusammenhängende, aus den Quellen gearbeitete Geschichte des Verhältnisses von Kapital und Arbeit im langen Jahrhundert zwischen 1830 und 1949. Es spricht für die Solidität der Arbeit, dass darstellender Teil und Dokumente fast durchweg in einem ähnlichen quantitativen Verhältnis zueinander stehen. Eine Ausnahme macht das letzte Kapitel, das relativ wenige Dokumente bietet. Hier mag die Rücksicht auf den Gesamtumfang eine Rolle gespielt haben, der mit 1 112 S. monumental genug geraten ist.

166 S. entfallen auf den Anhang. Er enthält 33 hervorragend bearbeitete Tabellen, eine 44 S. umfassende Zeittafel und, dieser folgend, ein Verzeichnis der Dokumente, das in seiner chronologischen Ordnung die Zeittafel sinnvoll ergänzt. Wichtige Komplexe sind in Serien zusammengefasst, so z. B. die Arbeitslosigkeit 1848 (Nr. 14 a-g), der Streik der Zigarrenarbeiter 1871 (Nr. 46 a-j) oder die antisozialistische Hetze 1878 (Nr. 53 a-e). Auf 10 Seiten sind die Quellen einer siebenjährigen Forschungsarbeit nachgewiesen. Bemerkenswert ist die intensive Arbeit in den Archiven des Bundes und denen des Landes Hessen. Nur wenige Dokumentenbände haben in diesem Umfang Primärquellen herangezogen. Unter den Registern sei das Sachregister besonderer Aufmerksamkeit empfohlen. Man suche ein Schlagwort wie „Arbeitszeit“ oder „Unterdrückung“ auf und man wird der Geschichte auf eine andere, überraschend prägnante Art begegnen. So enthält „Arbeitszeit“ eine Skala von der 89(!)-Stunden-Woche (der Bäcker 1900) bis zur 24-Stunden-Woche (der Edelmetallarbeiter während des Sommers 1927). „Unterdrückung“ enthält von A wie Abkehrschein (der 1916 den Wechsel des Arbeitsplatzes von der Zustimmung des Arbeitgebers abhängig machte) bis Z wie Zuchthausvorlage (Androhung von Zuchthaus für Streikposten 1895) nicht weniger als 37 Unterbegriffe. Elf Konzentrationslager finden Erwähnung. Man sollte diese Litanei des Terrors regelmäßig bei Delegiertenkonferenzen und Maifeiern  vorlesen, um in Erinnerung zu rufen, was alles aufgeboten wurde, die Arbeiterbewegung aufzuhalten, zu deformieren und, wenn möglich, zu vernichten.

Michael Pilz, der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Hanau/Fulda, hat das Buch dem Andenken der Revolution des 9. November 1918 gewidmet, eines Ereignisses, das unter der politischen Auswertung des Pogroms von 1938 im Bewusstsein der Öffentlichkeit fast ausgelöscht ist. Als am 1. Mai 1946 in Hanau die erste Maifeier nach der Befreiung stattfand, sprach auch ein Mitglied des Betriebsrates bei Heraeus. Er hatte den Zusammenhang noch vor Augen: „Wären die deutschen Arbeiter im November 1918 Karl Liebknecht und seiner Idee gefolgt, hätte dieser zweite Weltkrieg nie stattgefunden. Ein Meer von Blut und Tränen wäre dem deutschen Volk und der Menschheit erspart geblieben. Es hätte keinen Adolf Hitler gegeben, keine Konzentrationslager, keine Judenvernichtung …“ (Dokument Nr. 221 b)

Es ist zu hoffen, dass dieses Buch schon bald zu einem beliebten und viel gebrauchten Arbeitsmittel für das Lernen aus der Geschichte wird.

Peter Scherer