Der schlafende Dax

Katherine Stroczan: Der schlafende Dax oder das Behagen in der UnkulturVerlag Klaus Wagenbach Berlin 2002, 110 S. (18,50 EUR)

Seit der Erstemission der von den Medien als "Volksaktie" hochgejubelten Telekom-Aktie im November 1996 hat sich die Praxis der Geldanlage in Deutschland grundlegend verändert: Das vermeintlich sichere, aber wenig rentierliche Sparbuch wurde durch gewinnträchtigere, aber spekulative Anlageformen abgelöst. Millionen Sparer wurden so, ohne zu wissen, was eine Aktie eigentlich ist und wie der Kapitalmarkt funktioniert, über Nacht zu Aktionären. Sie wissen auch heute noch nicht viel mehr darüber, sind inzwischen aber um eine Erfahrung reicher, die des Geldverlustes. Während die Befürworter des Börsenrummels lauthals von einer neuen "Aktienkultur" sprechen, sehen die Kritiker hierin eher einen gegenläu .gen Prozeß, nämlich "einen triebgesteuerten Kulturverlust" und den Beginn einer Spekulationsblase, die irgendwann platzen wird, wie sich dies in der Geschichte schon des öfteren ereignet hat. Die Autorin des hier vorgestellten, schön gestalteten, aber nicht leicht zu lesenden Buches gehört zum Lager der Kritiker. Dies wird gleich zu Beginn deutlich, wenn sie den Aktienrummel der Gegenwart als "Gesellschaftsspiel" und "Volksfest" bezeichnet, vergleichbar der holländischen Tulpenmanie zwischen 1630 und 1638 oder der "South Sea Bubble" von 1720. Beide Spekulationen trugen "Volksfest"-Charakter und endeten mit dem Totalverlust der Anlagen. Sie bescherten dem "Volkskörper" aber einen neuen Typus, den "Investor". So ist es auch diesmal, schreibt Stroczan, "der Volkskörper ist um eine Figur reicher geworden", den "Anlegertypus " oder "Homo investor" (S. 8).

Diesen genauer unter die Lupe zu nehmen und dabei zugleich die meinungsbildende Rolle der Medien zu entlarven, ist das Anliegen des Buches. Als praktizierende Psychoanalytikerin geht die Autorin dabei ganz unökonomisch vor. Der Anlegertyp wird psychoanalytisch durchleuchtet, die Motive für sein Verhalten werden als "Gier" oder "Neid" entlarvt, die mit der Emission der T-Aktie vermeintliche "Demokratisierung" der Börse wird als ein übler Trick, die Spargelder der Kleinsparer für den Kapitalmarkt zu mobilisieren, denunziert und die Börsen- und Anlegermagazine werden als nur scheinbar seriös, in Wahrheit aber nicht selten interessengelenkt, charakterisiert. Dabei gelangt die Autorin zu bemerkenswerten Einsichten. So zum Beispiel, wenn sie zeigt, daß das Börsengeschehen in den Medien ausschließlich aus der Anlegerperspektive dargestellt wird, die Rolle des Kapitalmarktes für das Funktionieren des Kapitalismus hingegen weitgehend im dunkeln bleibt (S. 77). Dadurch wird der Schwerpunkt der Berichterstattung verlagert, weg von der realen Wirtschaft und hin zu den virtuellen Abläufen, wie sie sich in den Charts und Prognoserechnungen darstellen. Oder wenn sie nachweist, daß die vielen Geld- und Börsenmagazine nur scheinbar objektive Einschätzungen und Wertungen vornehmen, in Wahrheit aber nur ein Ziel verfolgen, nämlich die Anpreisung und den Verkauf hauseigener Produkte (S. 62 f.). Inzwischen weiß man, daß hier nicht selten sogar kriminelle Absichten die Daten und Texte bestimmt haben.

Insgesamt gesehen scheint das Urteil der Autorin über die Rolle der Finanzmärkte in der modernen Wirtschaftsgesellschaft jedoch zu absolut zu sein und mitunter zu einseitig auszufallen. Vielleicht ist die Börse (auch) "das Feld, auf dem mittels Triebregression gleichzeitig anal- und oralsadistische Triebregungen agiert, ödipale Kon.ikte wiederbelebt und narzißtische Restitutionsversuche unternommen werden können", wie auf S. 84 steht, aber erschöpft sich ihre Funktionsbestimmung darin? Sicher nicht, sonst könnte man die Theorie der Finanzmärkte getrost den Psychologen überlassen. Die machen es sich, wenn sie sich dieses Gegenstandes annehmen, jedoch mitunter zu leicht. So läßt sich die Börse wohl kaum als ein "Konstrukt" abtun, womit "psychische Störungen sozialisiert" (S. 84) werden. Und bei einer Geldanlage dürfte es sich wohl immer noch zuerst und in der Hauptsache um einen ökonomischen Akt handeln, mit ökonomischen Konsequenzen. Stroczan dagegen sieht in einer Geldanlage "in erster Linie" ein "psychisches Investment, das sich (lediglich) des Geldes bedient" (S. 78). Ähnliches gilt für das Geld als solchem, dem primär eine wirtschaftliche Bedeutung zukommt und das deshalb wohl nicht "lediglich der Kristallisationspunkt vielfältiger Leidenschaftsketten" (S. 78) ist, wie die Autorin behauptet, obwohl es dies letztlich vielleicht auch ist. Trotz dieser Kritik erweist sich das Buch, gerade auch für Ökonomen, als eine durchaus interessante und anregende Lektüre. Dies nicht zuletzt wegen seiner sprachlichen Brillanz, die sich, verglichen mit vielen ökonomischen Texten, sehr wohltuend ausnimmt. Ob Leser, die weder ökonomisch noch psychologisch vorgebildet sind, mit dem Buch etwas anfangen können, muß jedoch bezweifelt werden. Insofern bleibt es etwas für Insider, insbesondere für die Psychologen unter den Bankern und Brokern.

in: UTOPIE kreativ, H. 145 (November 2002), S. 1039-1040