Thesen zum Glanz und Elend der Sozialdemokratie

Das Ende der sozialdemokratischen Geschichte wie wir sie kennen?

1. Der Niedergang der Sozialdemokratie ist eine Herausforderung für die gesamte Linke Der Rückhalt der traditionellen sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit 70 Jahren. Während sie in Deutschland noch gerade so über 20 Prozent liegen, sind die SPD-Schwestern in Frankreich, Griechenland, Tschechien bei nationalen Parlamentswahlen längst im Bereich einstelliger Wahlergebnisse angekommen. Hämische Heiterkeit angesichts des Niedergangs der politischen KonkurrentIn ist wenig angebracht, denn der Niedergang der parteiförmigen Sozialdemokratie verändert auch die Rolle linker Parteien und Bewegungen.

2. Der Sozialdemokratie entkommt man nicht, noch nicht einmal durch verbale Abgrenzung. Die bürgerliche Gesellschaft ist schließlich durch eine Kombination aus politischer Demokratie mit kapitalistischer Produktionsweise gekennzeichnet. Damit stellt sich die Frage nach Gegenbewegungen, die der kapitalistischen Landnahme effektiv Grenzen setzen. Die politische Demokratie mit ihrer Gesetzgebungs- und Verallgemeinerungsfunktion drängt sich hier als pragmatischer Weg auf – dies gilt nicht nur deshalb, weil die Einhegung des Kapitalismus durch Gesetzgebung naheliegt, sondern auch, weil das politische System selbst mit seiner Alternative zwischen Regierung und Opposition von sich aus die Gründung „sozialdemokratischer Parteien“ ursprünglich begünstigt, die dann wiederum immer und in jedem Schritt auf das Ziel einer Mehrheitsbildung und einer „Regierung im Wartestand“ ausgerichtet sein müssen.

3. Aus dieser Bestimmung der Sozialdemokratie folgt, dass auch andere Parteien die Funktion einer „Sozialdemokratie“ übernehmen können. Das gilt z.B. in Ländern, wo eher sozialliberale oder demokratische Parteien die Alternative zur politischen Rechten darstellen oder aber, wie in den 1960er und 1970er Jahren in Frankreich und Italien, kommunistische Parteien.

4. Das Kernprojekt der Sozialdemokratie war der Wohlfahrtsstaat. Er wurde seit den 1920er Jahren zum übergreifenden Leitbild sozialdemokratischer Politik. Nach den Revolutionen in der Zeit von 1917-1920 mussten sich die linken Parteien jenseits der Sowjetunion strategisch neu orientieren und – nachdem die politische Demokratie erkämpft war – Wege zum Übergang in den Sozialismus konkreter bestimmen. Hier lagen eine ganze Reihe an Überlegungen vor, die eine Art „Gegenmacht“ zum Kapitalismus denkbar machen sollten: Hugo Sinzheimer entwickelte eine umfassende Theorie der „Arbeitsverfassung“ und der betrieblichen Mitbestimmung, Otto Kirchheimer analysierte die Weimarer Verfassung als Gleichgewicht zwischen „Direktions“- und „Verteilungssphäre“, Otto Bauer prägte das erste Mal den Begriff des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“, Franklin D. Roosevelt formte das liberale Freiheitsversprechen in den USA zu einem sozialdemokratisch-interventionistischen um (Four Freedoms Speech). Der „Wohlfahrtsstaat“ war ursprünglich als Transformationsprojekt gedacht: Er sollte als Anknüpfungspunkt für eine Überwindung des Kapitalismus dienen. Dies fiel jedoch seit den 1930er Jahren mit der Entdeckung nachfrageorientierter Wirtschaftssteuerung zusammen: Der Wohlfahrtsstaat wurde auch deswegen verallgemeinert, weil er sich als effektive Antwort auf die Weltwirtschaftskrise präsentierte. Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte die Sozialdemokratie an die Diskussion der 1920er/30er Jahre anzuknüpfen. Sie etablierte – gemeinsam mit kommunistischen und sozialliberalen Parteien – soziale Rechte und die Grundfigur internationaler Zusammenarbeit und Kooperation („Völkerrechtsfreundlichkeit“) in den Nachkriegsverfassungen. Das Problem – und die Wende der SPD von Bad Godesberg von der Klassen- zur Volkspartei ist dafür ja nur ein Zeichen – bestand darin, dass die Blockkonfrontation zwar den Wohlfahrtsstaat zuließ, nicht aber die Transformationsperspektive. Der Keynesianismus zersetzt zudem unter materiellen Gesichtspunkten mit Vollbeschäftigung und Wohlstandssteigerung sowie in kultureller Hinsicht mit Kulturindustrie und Massenkonsum die parteiliche Klassenperspektive. Die Strategie der Sozialdemokratie unterlief sich damit selbst. Damit „normalisierte“ sich die Rolle der Sozialdemokratie zunehmend in Richtung einer bloßen Alternative zur Regierungspartei, die allerdings durchaus darin erfolgreich war, den Wohlfahrtsstaat auszubauen.5. Die Bewegungen in der Zeit um 1968 verschoben dieses Entwicklung wieder stärker nach „links“. Breite Massen junger Menschen wurden Mitglieder sozialdemokratischer Parteien – und zwar nicht nur, weil die Parteien gemäßigter waren als K-Gruppen oder die APO, sondern weil die Parteien selbst schon eine Massenbasis — also eine Art „Gesellschaft im Kleinen“ — aufwiesen. Sie boten sich somit als Terrain für Veränderungsstrategien an. Deshalb versuchten alle möglichen linken Strömungen bei den Jusos (Antirevisionisten und Stamokaps), in der französischen PS („Auto-gestion“-Strömung), in der KPI (Manifesto-Gruppe) oder in den links der KPen stehenden sozialdemokratischen Parteien in Portugal, Griechenland und Spanien die Frage nach der Transformation wieder diskutabel zu machen. Sie waren darin sogar erfolgreich, doch mit dem Scheitern der Regierung Mitterand in Frankreich zu Beginn der 1980er Jahre und schließlich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks waren linke sozialistische Antworten diskreditiert.

6. Dies war die Grundlage für einen Wandlungsprozess hin zur sogenannten „Marktsozialdemokratie“ (Oliver Nachtwey). Diese verabschiedet neben der Transformationsperspektive auch den Wohlfahrtsstaat und versucht eine positives Verhältnis zu den wirkenden Marktkräften zu entwickeln. Nicht nur, dass diese Herangehensweise ökonomisch nicht oder nur bedingt funktionierte. Sie führte auch dazu, dass die Sozialdemokratie ihren definitorischen Kern (vgl. 2) verlassen hat. Sie ist in der Sache keine Alternative zur Regierung mehr und sie verzichtet darauf eine Art „Gegenmachtfunktion“ zu übernehmen. Die Folge ist der Zerfall der Sozialdemokratie, wie sie in vielen Ländern zu beobachten ist.

7. Damit bleibt das Problem, dass es im demokratischen Kapitalismus eine Alternative zur Regierung braucht sowie eine Bewegung, die der kapitalistischen Landnahme effektiv Grenzen setzt. Der Zerfall der Sozialdemokratie führt gleichzeitig dazu, dass neue oder reformierte Parteien wie Podemos, Syriza, Labour und in Teilen auch DIE LINKE die Rolle und Funktion der Sozialdemokratie übernehmen und auch übernehmen müssen. Diese „Ersetzung“ der Sozialdemokratie trifft allerdings auf die postdemokratische Konstellation und die Globalisierung. Das bedeutet im Einzelnen:

  • eine massiv fragmentierte Öffentlichkeit und Sozialstruktur, in der die eigene soziale Basis wesentlich heterogener ist als dies in der Hochphase der Arbeiterbewegung je der Fall war. Mithin auf eine globale Klassenspaltung, die den Nationalstaat überschreitet.
  • eine Situation, in welcher der Neoliberalismus die Subjekte und ihre Handlungsfähigkeit von innen her zerstört, korrumpiert und passiviert und
  • einen Verfassungswandel, der sozialdemokratische Reformstrategie im Hinblick auf einen nationalen Wohlfahrtsstaat immer schon blockiert, also die Unmöglichkeit überhaupt noch Reformpolitik in der Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik zu betreiben. Die geschieht mit Instrumenten wie der Schuldenbremse als Teil eines neuen neoliberalen Konstitutionalismus.

Auch deshalb muss sich die politische Linke gegenwärtig zumindest teilweise „populistisch“ artikulieren“ (vgl. dazu Thesen der Redaktion zum Populismus).

8. Die Stelle der Sozialdemokratie ist leer. Das ist ein Problem für die gesamte gesellschaftliche Linke. Für die Partei Die LINKE  besteht also genug politischer Handlungsspielraum und die Chance neue Wähler- und Unterstützergruppen zu gewinnen. Als sozialistische Partei steht sie jedoch vor der Herausforderung breiter zu werden, ohne dabei nach „rechts“ zu rücken und ohne dem gesellschaftlichen Mainstream hinterherzulaufen.

Die gesamte Ausgabe zur Krise der Sozialdemokratie gibt’s hier.