Ohne Frage: Die NATO hält Kurs. Allerdings den falschen

Man mag versucht sein, Donald Trump ob der Inhalte seiner politischen Statements Grenzdebilität zu bescheinigen. Vor und auf dem gerade zu Ende gegangenen Gipfel der NATO in Brüssel hat er jedenfalls wieder mal eindrücklich Zeugnis davon abgelegt, dass er intellektuell nicht in der Oberliga spielt: Deutschland, so polterte der Dealmeaker aus Washington, lasse sich von Amerika vor Russland beschützen, wolle aber mit Moskau eine neue Gaspipeline bauen und weitere Milliarden dorthin überweisen; überhaupt sei Berlin infolge seiner Energiebezüge aus Russland dessen Gefangener und werde vollständig von Moskau kontrolliert! Damit müsse sich die NATO befassen.
Das tat sie nicht, was Trump jedoch sichtlich nicht störte – im Gegenteil: Auf seiner Pressekonferenz zum Abschluss des Gipfels lobte er den „tollen Gemeinschaftsgeist“ und nannte das Bündnis eine „jetzt […] gut geölte Maschine“. Und er hatte offensichtlich Grund dazu.
Hauptstreitpunkt im Vorfeld und in Brüssel selbst waren einmal mehr die aus Trumps Sicht zu niedrigen Militärausgaben nahezu sämtlicher Verbündeter, vor allem aber Deutschlands, dem er in dieser Frage eine Signalfunktion beimisst. Um seinen Druck zu erhöhen, hatte Trump kurz vor dem Gipfel an Staats- und Regierungschefs von NATO-Partnern Post übermittelt und deren finanzielle Säumigkeiten angemahnt. Das Schreiben an die Bundeskanzlerin fiel besonders harsch aus; folgende Passage war in der New York Times nachzulesen: „Der anhaltende Mangel an deutschen Militärausgaben unterminiert die Sicherheit des Bündnisses und gibt anderen Alliierten einen Vorwand, die ebenfalls nicht planen, ihre Ausgabenversprechen zu erfüllen, weil andere Sie als ein Vorbild ansehen.“ Flankierend ließ Trumps Administration wie die Washington Post berichtete, durchsickern, dass auf Anweisung des Präsidenten im Pentagon geprüft werde, die hierzulande noch stationierten 35.000 US-Soldaten nach Übersee abzuziehen oder teilweise, wenn nicht komplett nach Polen zu verlegen. Beim Gipfel selbst verdoppelte Trump dann die Zielmarke der von ihm erwarteten Rüstungsausgaben der Verbündeten von zwei (so die Beschlusslage seit dem NATO-Gipfel von Wales 2014) auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und drohte damit, dass die USA das Bündnis verlassen könnten. NATO-Generalsekretär Stoltenberg trommelte die 29 angereisten Staats- und Regierungschefs zu einer gesonderten Krisensitzung zusammen. Anschließend verkündete Trump, etliche Bündnispartner hätten zugesagt, ihre Ausgaben aufzustocken: „So etwas hat es noch nicht gegeben.“ Stoltenberg lieferte dazu eine Ziffer: Zwischen jetzt und 2024 werden die europäischen NATO-Staaten und Kanada 266 Milliarden US-Dollar an Militärausgaben zusätzlich aufwenden. (Nur zur Erinnerung: Der russische Militärhaushalt, der etwa ein Zehntel des US-amerikanischen beträgt, sinkt seit 2016.)
Auch Berlin dürfte den von Trump Gelobten zuzurechnen sein, denn bereits während des Gipfels hatte sich Unionsfraktionschef Kauder vernehmen lassen: Noch in dieser Legislaturperiode müssten die deutschen Militärausgaben auf 1,5 Prozent des BIPs angehoben werden. Bisher war von 2024 die Rede gewesen, und schon das wäre nach der Zählweise der für die Bundeswehr zuständigen Ressortministerin auf eine Steigerung um 80 Prozent im Vergleich zum gegenwärtigen Stand hinausgelaufen.
Wenn man dem amerikanischen Präsidenten also eines lassen muss, dann ist es seine Fähigkeit, gegenüber den NATO-Europäern und Kanada in der Militärbudgetfrage signifikant zu punkten. Und sei es mit brachialen Drohungen. Wie sagte Helmut Kohl einst so unübertrefflich? Entscheidend ist, was hinten rauskommt.
Der Beitrag der deutschen Bundeskanzlerin in Brüssel bestand in diesem Zusammenhang im Wesentlichen in ihrem Statement: „Wir wissen, dass wir mehr tun müssen.“
Mancher mag vielleicht immer noch erwartet haben, dass die promovierte Physikerin in dieser ebenso unseligen wie unsinnigen Debatte endlich einmal die Sinnfrage stellte: Zu welchem höheren sicherheitspolitischen Zweck sollen diese irren Summen – auch Trump selbst hat ja das US-Rüstungsbudget weiter erhöht, in Richtung der aberwitzigen 700-Milliarden-Marke – eigentlich verbraten werden?
Doch dass diese Frage gescheut wird wie das Weihwasser seitens des Teufels, hat wiederum Methode. Zu schnell wäre man anderenfalls nämlich bei zwei gravierenden Problemfeldern, mit denen sich zumindest in vielen europäischen NATO-Staaten und in Deutschland allemal keine Wahlen gewinnen lassen – nämlich beim außereuropäischen Niederlagenbogen des vornehmlich militärisch agierenden Westens, der sich derzeit von Afghanistan über Irak und Libyen bis Mali erstreckt. Vor allem aber wäre man bei der erneuten Aussicht auf einen möglichen Krieg mit Russland auf europäischem Boden, Gefahr nuklearer Eskalation inklusive, also beim Menetekel des Kalten Krieges.
Fakt ist, dass ein Großteil der seit 2014 in und für NATO-Europa alljährlich zusätzlich bereit gestellten Militärausgaben genau dafür eingesetzt wird – für die Verstärkung der Verteidigungs-, vulgo Kriegführungsfähigkeiten der NATO auf und über europäischem Territorium sowie auf den angrenzenden Meeren:

  • Schon Trumps Vorgänger Obama hatte 2014 die sogenannte European Reassurance Initiative (ERI) gestartet; dafür waren 2015 800 Millionen US-Dollar bereitgestellt worden. In einem permanenten Rotationsverfahren werden im Neun-Monats-Rhythmus US-Kampfverbände in Brigade-Stärke mit kompletter Bewaffnung und Ausrüstung an die sogenannte NATO-Ostflanke verlegt, um insbesondere im Baltikum und in Polen gemeinsame Militärmanöver mit den dortigen Ländern und Streitkräften aus weiteren NATO-Staaten durchzuführen. Für das Haushaltsjahr 2018 hat die Trump-Administration die Mittel dafür auf inzwischen 4,7 Milliarden US-Dollar erhöht. Im Rahmen der ERI wird überdies schweres Kriegsgerät für weitere US-Verbände in Zentraleuropa vorausstationiert, darunter in Deutschland.
  • Die NATO hat in den baltischen Republiken und in Polen je eine multinationale Battlegroup in Stärke von jeweils 1000 Mann dauerhaft stationiert, deren Angehörige ebenfalls in regelmäßigen Abständen ausgetauscht werden. Der Verband in Litauen steht unter deutschem Kommando.
  • Was die Bundeswehr insgesamt anbetrifft, so listete der Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), Otfried Nassauer, kürzlich in der Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ des NDR folgendes auf: „Im Kontext der gültigen NATO-Streitkräfteplanung hat Deutschland zugesagt, bis 2032 68 konkrete Maßnahmen umzusetzen und in die nationale Streitkräfteplanung zu überführen. Das ist geschehen. Eines dieser Ziele sieht vor, dass die Bundeswehr der NATO dann drei einsatzbereite Heeresdivisionen mit je drei Brigaden zur Verfügung stellen kann. Allein dafür kalkuliert die Bundeswehr mit einem zusätzlichen Finanzbedarf von fünf Milliarden Euro jährlich.“
  • In Brüssel sind gerade weitere Maßnahmen beschlossen worden – vor allem eine NATO Readiness Initiative. Diese werde, so die offizielle Abschlusserklärung des Gipfels, „sicherstellen, dass der NATO mehr hochwertige, kampffähige nationale Streitkräfte mit hoher Reaktionsfähigkeit zur Verfügung gestellt werden können. Aus dem Gesamtpool an Streitkräften werden die Verbündeten zusätzlich 30 größere Kampfschiffe, 30 schwere oder mittlere Infanteriebataillone und 30 Kampfflugzeugstaffeln mit Unterstützungskräften in eine Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen oder weniger versetzen. Diese Einheiten werden […] als Elemente größerer Kampfverbände aufgestellt und ausgebildet.“ Auch die Entscheidung, zwei neue Hauptquartiere einzurichten, ist der Abschlusserklärung zu entnehmen: eines in Norfolk in den USA zum Schutz der transatlantischen Verbindungslinien und ein „Unterstützungs- und Befähigungskommando (Joint Support and Enabling Command) in Deutschland zur Gewährleistung der Operationsfreiheit und der Durchhaltefähigkeit im rückwärtigen Raum zur Unterstützung schneller Transporte von Truppen und Ausrüstung nach, durch und aus Europa“. Als Standort ist Ulm vorgesehen.
  • Bereits im März 2018 hat die EU-Kommission einen Aktionsplan zur militärischen Mobilität auf den Weg gebracht. Offiziell hieß es dazu: „Bis 2019 wird die Kommission ermitteln, welche Teile des transeuropäischen Verkehrsnetzes für Militärtransporte geeignet sind. Dabei geht es auch um die notwendige Modernisierung der bestehenden Infrastruktur (z. B. Höhe oder Tragfähigkeit von Brücken). Hierzu wird eine Liste vorrangiger Projekte erstellt.“
  • Darüber hinaus werden in den kommenden Jahren die taktischen US-Kernwaffen in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei modernisiert. Inzwischen kriegsuntaugliche veraltete Atombomben werden durch ein neues Präzisionssystem mit der Bezeichnung B61-12.

Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Auch wenn all diese und weitere Maßnahmen in ihrer Gesamtheit nicht darauf zielen mögen, Voraussetzungen für einen vorsätzlichen Angriffskrieg gegen Russland zu schaffen, erhöhen sie im Zusammenspiel mit russischen Gegenmaßnahmen selbst für den Fall eines ungewollten Konfliktausbruches doch das Vernichtungsrisiko zumindest für die betroffenen Staaten. Zum Beispiel hat Russland als Antwort auf den US-Raketenabwehrkomplex in Polen dem Vernehmen nach inzwischen nuklear armierbare Iskander-Raketen (NATO-Bezeichnung: SS-26) im Gebiet von Kaliningrad stationiert. So weit vorn im Zugriffsbereich des Gegners befindliche Systeme verliert man entweder gleich zu Beginn eines Konfliktes durch Feindeinwirkung oder man setzt sie schnellstens ein, womöglich gar präemptiv …
Angesichts dieser Entwicklungen erscheint es dringend geboten, einige Sachverhalte, die vor Jahrzehnten schon einmal als gesicherte Erkenntnisse auf beiden Seiten der damaligen Konfrontation gelten konnten, wieder aus der Versenkung des Vergessens zu holen:

  • 1971 erschien die von Carl Friedrich von Weizsäcker herausgegebene umfassende Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“. Die war seinerzeit für den Fall eines Verteidigungskrieges auf dem Gebiet der Bundesrepublik – angesichts des damaligen militärischen Kräfteverhältnisses und wegen der erwartbaren gewollten und kollateralen Schadwirkungen durch Einsatz moderner konventioneller und atomarer Kampfmittel – zu zwei zentralen Schlussfolgerungen gelangt:
    Erstens – „Die Bundesrepublik ist (wegen ihrer verwundbaren zivilen Infrastruktur und wegen der konventionellen Übermacht der Warschauer Pakt-Streitkräfte – W.S.) mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen.“
    Zweitens – „Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.“
    Heute könnte Russland in einem militärischen Konflikt mit der NATO an seiner Westflanke in der Anfangsphase wahrscheinlich temporäre, regional begrenzte Geländegewinne erzielen („das Baltikum überrennen“), hätte aber auf mittlere und längere Sicht gegen die konventionelle Übermacht der NATO keine Chance und müsste sein (Un-)Heil im Nukleareinsatz suchen. So sieht es die geltende russische Militärdoktrin auch vor.
  • Ende der 1980er Jahre haben wissenschaftliche Experten aus Ost und West, damals mit Schwerpunkt auf den beiden deutschen Staaten, Untersuchungsergebnisse präsentiert, die sie zu der Erkenntnis geführt hatten, dass moderne Industriestaaten im Bereich ihrer Wirtschaft (Stromversorgung, Großchemie, Atomanlagen) und ihrer öffentlichen Daseinsvorsorge (Strom, Trinkwasser, Gesundheitswesen) gegenüber massiven militärischen Einwirkungen so hochgradig verwundbar seien, dass sie als „kriegsuntauglich“ eingestuft werden und militärische Konflikte auf ihrem Territorium bei Strafe des Untergangs vermeiden müssten.* Diese Sachverhalte haben in Europa an existenzieller Bedeutung mittlerweile völlig neue Dimensionen erreicht – auf einem infrastrukturellen Vernetzungs- und Abhängigkeitsniveau, auf dem schon der bloße längere Ausfall des Internets ganze Gesellschaften an den Rand des Kollapses brächte.

Vor diesem Gesamthintergrund ist die in Brüssel nun wieder bekräftigte und verstärkte Rückkehr der NATO zur Abschreckung durch Rüstung gegenüber Russland sicherheitspolitisch so unsinnig, weil existenzgefährdend, wie sie es schon im Kalten Krieg war.

P.S.: Für Ursula von der Leyen war der Brüsseler Gipfel „unterm Strich“ übrigens ein Erfolg; in den „Tagesthemen“ der ARD verkündete sie eine „stolze Bilanz, die wir gemeinsam geschafft haben“. Mit solchen Verantwortungsträgern an der Spitze beantwortet sich die Frage, gestellt von Julianne Smith, einer Beraterin des früheren US-Vizepräsidenten Joe Biden: „Wie lange werden die europäischen Verbündeten bereit sein, die Rolle des Dummkopfs in Trumps Reality-TV-Show zu spielen?“, kurz und bündig: noch – ewig und drei Tage.

* – Siehe zum Beispiel Bernhard Gonnermann / Alfred Mechtersheimer: Verwundbarer Frieden. Zwang zur gemeinsamen Sicherheit für die Industriegesellschaften Europas, Berlin 1990.