Entscheidung für das geringere Übel

In Mexiko herrscht wieder einmal ein schmutziger Wahlkampf

López Obrador, seinen Initialen nach auch AMLO genannt, verwendet schon den Präsens, wenn er von seinen Vorhaben im Amt spricht – so sicher ist er sich, diesmal die richtige Koalition geschmiedet zu haben, um in »Los Pinos«, den Amtssitz des mexikanischen Präsidenten, einzuziehen. Obwohl er in allen Umfragen weit vorne liegt, ist sein Wahlsieg aber längst nicht sicher. Es ist das dritte Mal, dass er sich zur Wahl aufstellen lässt. 2006 scheiterte er so knapp, dass viele Menschen davon ausgehen, dass er um den Sieg betrogen wurde. 2012 gewann sein damaliger Gegner Enrique Peña Nieto, der von der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) unterstützt und als großer Erneuerer dargestellt wurde.

Dass AMLO heute in den Umfragen mehr als zehn Prozent vor seinen Gegnern liegt, liegt unter anderem an der großen Ernüchterung am Ende der Amtszeit von Peña Nieto und an der Politik der PRI-Regierung, die ehemals 70 Jahre lang regierte. Obwohl Mexiko schon seit Jahren unter seiner miserablen Sicherheitslage und der Gewalt leidet, stellte das Jahr 2017 mit mehr als 29.000 Morden einen Tiefpunkt dar. Diese Abwärtsspirale wird sowohl Peña als auch seinem Vorgänger Calderón angelastet, der in seiner Amtszeit den Drogenkartellen den Krieg erklärte und den massiven Einsatz von Militär und Polizei anordnete. Seitdem hat die Zahl der Ermordeten, Verschwundenen und Bedrohten schwindelerregende Höhen erreicht. Menschenrechtsorganisationen schreiben einen Großteil der Opfer allerdings nicht den Kartellen zu, sondern ebenjenen Kräften, die eigentlich Sicherheit bringen sollen: Polizei und Militär. Heute liegt die Straflosigkeit bei über 90 Prozent der Taten.

Die »Mafia der Macht«

Fast jeden Tag können die MexikanerInnen in der Zeitung über PolitikerInnen lesen, die sich selbst bereichern. Allein in den letzten fünf Jahren wurden Ermittlungen gegen rund ein Dutzend ehemalige Gouverneure wegen Korruption eingeleitet. AMLO bezeichnet sie als Teil der »Mafia der Macht«, von der er während seiner Wahlkampfveranstaltungen gern spricht. Dabei ist der 65-Jährige selbst in der langjährigen Regierungspartei PRI groß geworden. Später war er Gründungsmitglied der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Die sozialen Maßnahmen für arme Bevölkerungsschichten während seiner Zeit als Bürgermeister von Mexiko-Stadt Anfang der 2000er Jahre machten ihn zu einem der beliebtesten Politiker des Landes. 2014 überwarf er sich mit seiner alten Partei und gründete die Bewegung der Nationalen Erneuerung, Morena.

Viele WählerInnen fragen sich jedoch, ob der ehemalige Bürgermeister überhaupt eine Alternative ist. Denn auch Morena-PolitikerInnen sind auf lokaler Ebene der Korruption bezichtigt worden. Außerdem scheint AMLO jedes Mittel recht zu sein, um im Juli einen möglichst großen Abstand zu seinen Verfolgern zu erzielen. So unterstützt Morena die Kandidaturen einiger Personen für das Abgeordnetenhaus, die in der Vergangenheit in Korruptionsfälle verwickelt waren. Zudem ist AMLO ein Bündnis mit einer streng christlichen Kleinpartei eingegangen, die gegen die Ehe für Alle und gegen Abtreibung ist. Beides hatte seine ehemalige Partei PRD in Mexiko-Stadt schon vor Jahren legalisiert. Der Kandidat selbst drückt sich davor, Fragen zu diesen kritischen Programmpunkten zu beantworten. »Das Volk soll entscheiden«, sagt er jedes Mal.

Fragwürdige strategische Bündnisse

In diesem Wahlkampf wird mit allen Mitteln gekämpft. Die PRI will davon ablenken, dass sie Regierungspartei ist und hat daher den parteilosen Kandidaten José Antonio Meade aufgestellt. Der Neoliberale, mehrfach Minister unter anderem für die christdemokratisch-konservative PAN, kann das schlechte Image seiner UnterstützerInnen allerdings bisher nicht abschütteln und liegt in den Umfragen auf Platz drei.

Auch auf der Gegenseite ist es im Vorfeld der Wahl zu einer ungewöhnlichen Kooperation gekommen. Die sozialdemokratische PRD, AMLOs ehemalige Partei und seit mehr als zwanzig Jahren im Hauptstadtdistrikt an der Macht, hat sich mit der rechtskonservativen PAN zusammen getan und unterstützt den Kandidaten Ricardo Anaya. Der 39-jährige Unternehmer aus dem Bundesstaat Querétaro, Sohn aus wohlhabendem Hause, würde Mexiko gerne in ein Silicon Valley des Südens verwandeln. KritikerInnen werfen ihm vor, vor den wahren Problemen des Landes die Augen zu verschließen: 53 Millionen MexikanerInnen leben in Armut und sind weit davon entfernt, ein digitales Start-up zu gründen. Zudem hat Anaya Probleme mit der Staatsanwaltschaft, die gegen ihn wegen Unregelmäßigkeiten beim Kauf eines Geländes in seiner Heimatstadt ermittelt. Stichfeste Beweise gibt es dafür noch nicht. Anaya erklärt, die Vorwürfe seien Teil einer Schmierkampagne gegen ihn von Seiten der PRI.

Erstmals sind in Mexiko unabhängige Kandidaturen erlaubt. Die Hürden, um auf den Wahlzettel zu kommen, sind allerdings hoch und werden meist nur von KandidatInnen überwunden, die vorher schon einigen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Einziger Lichtblick war im vergangenen Herbst Maria de Jesús Patricio, genannt Marichuy, eine 53-jährige Nahua aus dem Bundesstaat Jalisco, die erste indigene Präsidentschaftskandidatin des Landes. Sie unterschied sich mit ihrer zurückhaltenden Art deutlich von den anderen KandidatInnen und stellte das Kollektiv und Entscheidungen »von unten« in den Vordergrund. Allerdings erreichte Marichuy nicht die vom Wahlinstitut geforderte Zahl der UnterstützerInnenstimmen, sie wird am 1. Juli nicht auf den Wahlzetteln erscheinen. Die unabhängige Kandidatur von Jaime »El Bronco« Rodríguez, des Gouverneurs des Bundesstaates Nuevo León, wurde dagegen trotz nachgewiesener tausendfacher Stimmfälschung angenommen. Er liegt in den Umfragen zwar nur bei zwei bis drei Prozent, tat sich dafür aber unter anderem mit dem Vorschlag hervor, künftig Dieben die Hände abzuhacken.

Im Prinzip machen im Wahlkampf alle Parteien Front gegen AMLO. Zu großer Bekanntheit hat es der »Ich habe Angst«-Werbespot der PRI gebracht. Darin liegt eine Frau im Bett und kann nicht schlafen. Sie mache sich solche Sorgen, erklärt sie ihrem Mann. Denn wenn »El Peje«, ein weiterer Spitzname von AMLO, gewinne, werde er die Erziehungsreform zurücknehmen und die Kinder in der Schule werden kein Englisch mehr lernen. Der Spot war ein gefundenes Fressen für KarikaturistInnen und UserInnen sozialer Netzwerke, die sich darüber lustig machten, dass Mexiko dringendere Sorgen habe. Doch diese Art der Angstkampagne hat schon bei den letzten beiden Wahlen gut funktioniert.

Mord an lokalen PolitikerInnen

Die politische Auseinandersetzung im Wahlkampf nimmt immer wieder auch illegitime und gewalttätige Formen an. Anfang Mai forderte ein bekannter Fernsehmoderator in einem Tweet indirekt dazu auf, AMLO zu erschießen. Nach einer Welle des Protests gab der Fernsehsender Televisa bekannt, dass er die Zusammenarbeit mit dem Moderator beende. Solche Andeutungen wecken in der mexikanischen Öffentlichkeit traurige Erinnerungen an das Jahr 1994, als der Präsidentschaftskandidat Donaldo Colosio erschossen wurde.

Zusammen mit dem Präsidentenamt werden auch beide Kammern des Kongresses neu besetzt. 128 Senatssitze und 500 Abgeordnetenplätze sind zu vergeben. Außerdem werden in neun Bundesstaaten neue GouverneurInnen gewählt und es finden viele Gemeindewahlen statt. Gerade LokalpolitikerInnen müssen Angst um ihr Leben haben: Durch das gesamte Parteienspektrum hindurch wurden seit dem letzten Jahr mehr als 80 KandidatInnen ermordet. Bei einer Aufklärungsrate von 20 Prozent aller Mordfälle bleibt es unwahrscheinlich, dass die Geschehnisse aufgearbeitet werden.

Im Wahlkampf beklagen vor allem Frauen das hohe Maß von Aggressionen und Beleidigungen. Letztere könnten im Zusammenhang mit dem Machtverlust der Männer stehen, da die Parteien erstmals die Hälfte ihrer Listen mit Frauen besetzen müssen. Die häufigen Diffamierungskampagnen im Internet, die auf Aussehen, Intimleben oder Familienangehörige abzielen, belasten die Angegriffenen schwer. Für die WählerInnen hingegen dürften diese Kampagnen ein weiterer Hinweis dafür sein, dass die Politik in Mexiko ein schmutziges Geschäft ist und im Grunde niemand »da oben« eine weiße Weste hat. Der Stimmung auf der Straße nach werden die Wahlen im Juli jedenfalls weniger eine Entscheidung für eine/n bestimmte/n KandidatIn sein, sondern eher eine für das geringere Übel.

Sonja Gerth ist Journalistin und arbeitet für die feministische Nachrichtenagentur CIMAC in Mexiko-Stadt