Wahlen in Italien – Menetekel für die Europäische Union

in (08.03.2018)

Das Wahlergebnis in Italien vom letzten Wochenende ist einerseits die Fortsetzung eines allgemeinen Trends, den wir schon bei den Wahlen des letzten Jahres in den Niederlanden, in Frankreich, in Deutschland und in Österreich beobachten konnten, andererseits etwas Besonderes, nämlich ein Menetekel für die EU.

Bei den Wahlen in den genannten fünf Ländern seit dem Frühjahr 2017 sind – wenn auch in den verschiedenen Staaten mit unterschiedlicher Intensität – folgende Tendenzen sichtbar geworden: eine Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts, eine Stärkung der rechtspopulistischen Parteien, ein Niedergang der Sozialdemokratie, eine zunehmende Zersplitterung bzw. ein Aufbrechen bewährter Parteiensysteme und damit eine Zunahme der politischen Instabilität.

In Italien haben die populistischen Parteien, das rechte Dreier-Bündnis aus Lega, Forza Italia und Fratelli d’Italia sowie der Movimento Cinque Stelle (M5S), zusammen einen Stimmenanteil von fast 70% erreicht. Das Besondere ist dabei das nach den Umfragen nicht erwartete starke Abschneiden der Lega mit Salvini, die ihren Stimmenanteil mit fast 18% gegenüber 2013 mehr als vervierfacht hat und im Dreierbündnis Berlusconis Forza als führende Kraft abgelöst hat. Der Anteil der Forza ist gegenüber 2013 von 21% auf 15% abgesunken. Die Lega ist eine europa- und ausländerfeindliche Partei, mit deren Erfolg die Grundausrichtung des Dreier-Bündnisses noch einmal deutlich ins Rechtsextreme verschoben wurde. Die Lega ist beinahe so stark geworden, wie die sozialdemokratische Partito Democratico (PD) von Matteo Renzi, die von 25% auf 19% abgerutscht ist. PD und Forza haben in der abgelaufenen Wahlperiode eine Große Koalition gebildet, die für ihre neoliberale Reformpolitik und ihre Unfähigkeit, die sozioökonomische Krise zu überwinden, abgestraft worden ist. Auch in den Niederlanden, in Deutschland und in Österreich hat eine Große Koalition 2017 jeweils massive Stimmenverluste erlitten.

Als Einzelpartei ist der M5S mit 32% der eindeutige Wahlsieger, der seinen Stimmenanteil gegenüber 2013 um sieben Prozentpunkte steigern konnte und auch erheblich besser abschnitt als in den Umfragen bis kurz vor den Wahlen erwartet wurde. Die Antisystempartei M5S, die von sich behauptet, weder links noch rechts zu sein, aber wie die Lega einen sehr europaskeptischen und ausländerfeindlichen Kurs verfolgt und im Europaparlament in der Fraktion »Europa der Freiheit und der direkten Demokratie« mit europafeindlichen Parteien, wie UKIP und AfD, verbündet ist, reüssierte vor allem im Süden Italiens, während die Lega den Norden eroberte. Nur noch im Alto Adige und der Toskana konnte der PD siegen.

Die WählerInnen des sozial und ökonomisch abgehängten Mezzogiorno konnten mit ihrer Stimme für den M5S ihre Wut und Enttäuschung über die »Systemparteien« zum Ausdruck bringen, liegt doch im Süden die Arbeitslosenrate, vor allem der Jugendlichen, weit über dem Landesdurchschnitt und die Armutsrate erheblich höher als im Norden des Landes. Mit seinen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und einer Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung punktete der M5S bei vielen sozial depravierten WählerInnen des Südens.

Der Rechtsblock unter der Führung der Lega siegte im ökonomisch besser gestellten Norden bei den Mittelschichten vor allem mit der Forderung nach radikalen Steuersenkungen. Den Enttäuschten der unteren Schichten wurden die Flüchtlinge als Sündenböcke angeboten. Die Lega hetzt in kaum zu überbietender Weise gegen die 600.000 Flüchtlinge, die sich in Italien mittlerweile aufhalten, und will diese in kürzester Frist aus Italien hinauswerfen.
Die im Vergleich zu den jüngsten Umfragen überdurchschnittlichen Erfolge von Lega und M5S sind sicherlich auch auf die Diskussionen nach der Ermordung einer jungen Italienerin und dem rechtsradikalen Anschlag auf Flüchtlinge in der Stadt Macerata zurückzuführen. Die Parteien des Rechtsbündnisses und der M5S nutzten diesen Anschlag, um ihre ausländerfeindliche Propaganda noch einmal deutlich zu verstärken.

Da weder der M5S noch das rechte Dreier-Block noch das Mitte-Links-Bündnis eine Mehrheit der Mandate erringen konnte, dürfte die Regierungsbildung in Italien schwierig werden. Aufgrund der großen Verluste des PD und der Forza dürfte eine erneute Große Koalition ausgeschlossen sein, auf die – als einzige »europafreundliche« Alternative – vor allem Brüssel, Berlin und Paris gehofft hatten. Der zurückgetretene Parteichef des PD, Matteo Renzi, hat bereits den Gang in die Opposition verkündet. Das Rechtsbündnis müsste noch etliche Abgeordnete aus anderen Fraktionen abwerben, um eine Mehrheit der Mandate zu erreichen und um Salvini zum Premier wählen zu können. Nach der Niederlage Berlusconis dürfte das fragile Bündnis zwischen ihm und Salvini ohnehin sehr gefährdet sein.

Der M5S ist im Hinblick auf die Regierungsbildung gespalten. Beppe Grillo fordert an der Position festzuhalten, keinerlei Koalition einzugehen, während der Spitzenmann der Partei, di Maio, an die Macht möchte und auch zu einer Koalition bereit zu sein scheint. Eine solche Koalition mit der bei den Anhängern des M5S verhassten Partei Renzis einzugehen, dürfte schwierig werden. Größere politische Übereinstimmungen bestehen dagegen mit der Lega, mit der man sich auf der Basis der Europaskepsis und der Ausländerfeindlichkeit verständigen könnte. Salvini hat sich bislang gegenüber einer solchen Konstellation ablehnend verhalten, und auch dem linken Flügel der M5S dürfte eine solche Koalition schwer zu vermitteln sein. Die geschäftsführende Regierung unter Gentiloni dürfte deshalb noch einige Zeit im Amt bleiben.

Auf der Suche nach Gründen für diesen Wahlausgang in Italien und die oben erwähnten Wahlergebnisse in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland und Österreich des Jahres 2017 stößt man auf vier entscheidende Faktoren, die in jedem der genannten Staaten, wenn auch in unterschiedlicher Mischung, eine Rolle gespielt haben. Es handelt sich erstens um die sozio-ökonomischen Probleme im Kontext der Austeritätspolitik, die die EU-Staaten seit 2010 verstärkt praktiziert haben. Des Weiteren geht es zweitens um die wachsende soziale Ungleichheit, unter der zumindest die im Niedriglohnsektor abgehängten Beschäftigten und die unteren Mittelschichten leiden. Drittens spielt die Unfähigkeit der herrschenden Parteien, trotz ihrer Versprechungen diese sozialen und ökonomischen Probleme ihrer Länder befriedigend zu bewältigen, eine gewichtige Rolle und viertens ist die Flüchtlingskrise von Bedeutung, die die EU-Staaten offensichtlich nicht solidarisch lösen können und die von den populistischen Parteien genutzt wird, Ängste zu schüren und Sündenböcke für die soziale Unzufriedenheit der unteren Schichten zu finden. Unter den genannten fünf Staaten hat Italien am intensivsten unter diesen genannten sozial-ökonomischen und politischen Problemen zu leiden.

Italien verzeichnet eine anhaltende ökonomische Stagnationsphase, die Arbeitslosigkeit erreichte nach der Großen Finanzkrise mit 11-12% überdurchschnittlich hohe Werte, und auch die ungelöste Bankenkrise belastet bis heute das Land. Wie vor dem Hintergrund der Wachstumsschwäche und der hohen Arbeitslosenquote zu erwarten, haben sich die Reallöhne des Landes seit 2010 negativ entwickelt. Auch der Verteilungsindikator – reale Lohnstückkosten – verweist auf eine Umverteilung zugunsten der Kapitaleigentümer. Der Gini-Koeffizient erreicht in der Gruppe der fünf Staaten in Italien den höchsten Wert, was die komparativ höchste Einkommensungleichheit anzeigt. Paradigmatisch sei auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit im Lande verwiesen, die junge Erwachsene im Alter von 25 bis 35 zwingt, nach wie vor im Elternhaus zu leben, und die von Jahr zu Jahr immer mehr junge ItalienerInnen zum Verlassen des Landes antreibt.

Die Regierungen Berlusconi, Monti, Letta und Renzi haben seit der Finanzkrise daran gearbeitet, die Empfehlungen der europäischen Institutionen für eine Reform der Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik Italiens umzusetzen. Diese zielten vor allem darauf ab, das Tarifvertragssystem zu dezentralisieren und die Kündigungsschutzvorschriften aufzulockern. Das Tarifvertragssystem Italiens wurde durch verschiedene Schritte radikal verändert. Den radikalsten, ohne Vereinbarung mit den Gewerkschaften getroffenen Eingriff vollzog die Regierung Berlusconi mit dem Gesetz Nr. 148 vom September 2011. Danach können betriebliche Tarifverträge von Branchentarifverträgen und auch bestimmten gesetzlichen Arbeitsbestimmungen nach unten abweichen, und zwar bei Löhnen, Lohnstrukturen, Arbeitszeiten, atypischen Beschäftigungsformen und Kündigungsschutzbestimmungen. Der betriebliche Vertrag muss von der Mehrheit der repräsentativen Gewerkschaften im Unternehmen unterzeichnet werden.

Was den Kündigungsschutz anbelangt, so galt bis zum Inkrafttreten eines von der Regierung Renzi verabschiedeten Gesetzesdekrets im März 2015 der Artikel 18 des Arbeitnehmerstatuts, wonach MitarbeiterInnen in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten bei einer ungerechtfertigten Entlassung auf Gerichtsbeschluss wieder eingestellt werden mussten. Seit Renzis Reform wird den ArbeitnehmerInnen bei einer unrechtmäßigen Kündigung nur noch eine finanzielle Entschädigung gewährt. Das Gesetz hat damit die Kapitalseite einseitig zulasten der abhängig Beschäftigten gestärkt. Trotz des massiven Widerstandes der Gewerkschaften ist die Regierung Renzi damit der neoliberalen Deregulierungsstrategie des Arbeitgeberverbandes Confindustria gefolgt.

Wie in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland und Österreich hat auch in Italien die sozialdemokratische Partei PD neoliberale Arbeitsmarktreformen durchgesetzt und damit an Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei den Gewerkschaften und den unteren sozialen Schichten deutlich verloren. Die aktuelle Wahlniederlage ist in dieser neoliberalen Praxis begründet. Auch in den Niederlanden ist die Sozialdemokratie nach einer harten Sparpolitik in einer Großen Koalition von 25% auf 5% abgerutscht, in Frankreich nach dem Scheitern der Wirtschaftspolitik Hollandes von 31% auf 5%, in Deutschland nach zwei Großen Koalitionen von 35% im Jahre 2005 auf 20% in 2017, und in Österreich hat die SPÖ nach einer Großen Koalition mit der ÖVP bei den Wahlen 2017 die Regierungsmacht verloren.

Neben diesen sozio-ökonomischen Gründen war in Italien die große politische Instabilität für den Aufschwung der populistischen Parteien verantwortlich. Das tradierte Parteiensystem Italiens (pentopartito) brach unter dem Druck der Korruptionsaffären (tangentopoli) Anfang der 1990er Jahre zusammen, womit der Weg frei war für drei rechtspopulistische Parteien (Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nationale, die Vorläuferin der Fratelli d’Italia), die unter Führung Berlusconis von 1994 bis 2011 in insgesamt vier Kabinetten das Land regierten, wenn auch mit Unterbrechungen.

Es gehört zur Tragik des Landes, dass sich diese Rechtsregierungen nicht nur ebenfalls als unfähig erwiesen, die sozio-ökonomischen Probleme des Landes zu lösen, sondern auch – wie das vorherige Parteiensystem – an Affären (Steuerhinterziehung, Korruption, Sexskandale Berlusconis) zugrunde gingen. Von den Trümmern des Systems Berlusconis profitierte dann der Movimento Cinque Stelle (M5S), der bei den Parlamentswahlen 2013 im Abgeordnetenhaus auf Anhieb 25% der Stimmen errang. Die politische Instabilität kennzeichnet Italien im EU-Kontext wie kaum einen zweiten Staat. Sie ist neben der sozio-ökonomischen Krise und der zunehmenden sozialen Ungleichheit der zentrale Erklärungsfaktor für die starke Bedeutung des Rechtspopulismus im Lande.

Hinzu kommt seit 2015 noch die Flüchtlingskrise, die von den populistischen Parteien genutzt wird, um Ausländerfeindlichkeit zu schüren und die Migranten als Sündenböcke für die zahlreichen Krisen des Landes abzustempeln. Da seit dem EU-Türkei-Abkommen viele Flüchtlinge den Weg über die Libyenroute nach Italien suchen, hat im Jahre 2017 die Migrationskrise einen neuen Höhepunkt erreicht. Von den EU-Staaten allein gelassen, die in der Frage eines Verteilungsmodus keinerlei Solidarität mit Italien zeigen, gewinnt die Kritik an der EU zusätzlich an Schwung, fordern doch die populistischen Parteien immer wieder auch einen Ausstieg aus dem Euro.

Für die aktuelle Entwicklung in der EU, die sich seit über einem Jahrzehnt in der schwersten Krise seit Beginn der Integration befindet, ist dieses italienische Wahlergebnis eine schwere Hypothek. Schon die harte Austeritätspolitik, mit der die Eurozone auf die Große Finanzkrise antwortete, hat den Integrationsprozess stark geschwächt. Den überdurchschnittlich betroffenen Staaten Südeuropas wurde eine solidarische Unterstützung, etwa durch die Einführung von Eurobonds, eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik und Maßnahmen zur Beseitigung der Leistungsbilanzungleichgewichte, verweigert. Im Resultat stieg in diesen Ländern die Arbeitslosigkeit, sanken die Reallöhne, wurden die sozialen Sicherungssysteme abgebaut und ihre Gewerkschaften geschwächt. Auch in anderen EU-Staaten führte die Austeritätspolitik zu einer Stagnation der Wirtschaft – so in Frankreich und Österreich – oder zu sehr harten sozialen Einschnitten, wie in den Niederlanden. In Gefolge dieser Politik sank nicht nur die Akzeptanz der EU, und zwar selbst in Ländern, wie Italien, die einst zu glühenden Anhängern der Integration zählten. Es erstarkte darüber hinaus angesichts der sozio-ökonomischen Schwierigkeiten der Rechtspopulismus, was in den Europawahlen 2014 besonders sichtbar wurde.

Schon dieser damalige Rechtsruck hat alle in den Jahren 2011 bis 2013 diskutierten grundlegenden Reformvorschläge (Blaupause der Barroso-Kommission; Andor-Plan für eine soziale WWU) zur Überwindung der Strukturdefizite der Eurozone zur Makulatur gemacht. Pläne zur Einführung einer Europäischen Fiskalpolitik (Wirtschaftsregierung), einer nachhaltigen Stärkung des Haushalts, um symmetrische und asymmetrische wirtschaftliche Krisen besser bekämpfen zu können, zur Einführung von Eurobonds und zur Verwirklichung einer sozialen Komponente der WWU, verschwanden nach den Europawahlen 2014 in der Schublade, weil Vertragsrevisionen angesichts des politischen Rechtsrucks als illusionär betrachtet wurden.

Der Rechtsruck in wichtigen EU-Staaten nach den Wahlen 2017 und erst recht der erdrutschartige Sieg der Populisten in den Märzwahlen in Italien machen es kaum möglich, selbst die mittlerweile sehr moderaten Reformpläne der Europäischen Kommission in die Tat umzusetzen. Für den von ihr geforderten Stabilisierungsfonds, der Staaten unter die Arme greifen soll, die sich im Unterschied zum EU-Durchschnitt in einer Wirtschaftskrise befinden, benötigt die EU höhere Haushaltsmittel. Diese müssten aber in der Mittelfristigen Finanzplanung (MFP) von 2020 bis 2027 mit Einstimmigkeit vom Europäischen Rat beschlossen werden. Angesichts des Rechtsrucks in vielen EU-Staaten ist eine solche Einstimmigkeit aber momentan nicht in Sicht.

Wer auch immer die neue Regierung Italiens stellen wird, weder eine vom Rechtsblock noch eine vom M5S geführte Regierung wird die großen sozio-ökomischen Probleme des Landes lösen. Das Rechtsbündnis hat jedenfalls in vier Kabinetten zwischen 1994 und 2011 in dieser Hinsicht komplett versagt. Bleibt aber Italien mit geringen Wachstumsraten, einer hohen Arbeitslosigkeit, hohen Staatsschulden und einem maroden Bankensektor ein angeschlagenes Land, wird jede Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine neue Schuldenkrise im Euroraum auslösen, dieses Mal aber in Italien, das mit Mitteln des ESM angesichts der Schuldendimensionen kaum ausreichend aufgefangen werden könnte. Ein Zusammenbruch der Eurozone wäre dann eine realistische Perspektive, und auch in dieser Hinsicht ist das Wahlergebnis in Italien ein Menetekel für die EU.