Das »Fingerspitzengefühl der Worte«

Antwort auf Ulla Pleners »Aufforderung zur Diskussion« in Argument 2/2017, 235ff.

in (22.02.2018)

DAS ARGUMENT 324/2017

Ulla Pleners Diagnose, die Rede vom »Nationalsozialismus« habe den »deutschen Faschismus« fast vollständig verdrängt, ist richtig. Die Selbstbezeichnung der Nazis wird verwendet, ohne dass dieser Tatbestand auch nur ansatzweise reflektiert würde. Ein zufälliger Griff ins Bücherregal bestätigt das: So heißt es im Klappentext zu einem der wichtigsten Bücher über die Nazitäter – Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell –, es handle sich um ein »Epos, das ein detailgetreues Bild […] der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet«. Um Barbara Zoekes Roman über die Vernichtung von Menschen in psychiatrischen Kliniken, Die Stunde der Spezialisten, zu empfehlen, verwendet Christian Döring Kategorien wie »Zivilisationsbruch«, »verdrängte Verbrechen«, »Nationalsozialisten«, von denen jede einen Rattenschwanz an polit-, geschichts- und philosophietheoretischen Fragen nach sich zieht. Bereits im Studium machte es mich sprachlos, dass ein Berufsstand, der ein Höchstmaß an Reflexionsfähigkeit für sich in Anspruch nimmt, bei der »Aufarbeitung« der eigenen Geschichte im NS über den »Es-Widerstand«, den »Krankheitsgewinn«, den »Verdrängungswiderstand« u.v.m. der in das Regime verstrickten Analytiker schreiben und gleichzeitig bedenkenlos das Wort »Nationalsozialismus« verwendet.
Im Sachregister der so genannten »kritischen Edition« von Mein Kampf werden alle von Hitler verwendeten bedeutsamen Begriffe aufgezählt. Einzig »Nationalsozialismus« fehlt. Haben sich die Herausgeber davor gedrückt, den Eigenbegriff der Nazis in den Blick zu nehmen, so heißt es im von Andreas Wirsching, dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, geschriebenen Vorwort: »›Mein Kampf‹ ist eine erstrangige Quelle zur Geschichte Hitlers und des Nationalsozialismus« (Hartmann u. a. 2016, 6).
Ulla Plener zitiert zu Recht Karl-Heinz Roths klare Sätze in Bezug auf die (Un-)Möglichkeit einer wissenschaftlichen Karriere für diejenigen, die sich der »Normkategorie der historischen Analyse« – also »Nationalsozialismus« – verweigern. An einem Punkt irrt sie allerdings. Sie behauptet, ich hätte in dem von mir im Argument Verlag neu herausgegebenen Band Faschismus und Ideologie Karl-Heinz Roth »eher abfällig« erwähnt. Sie belegt das mit einem Zitat, das beim besten Willen nur als Unterstützung der Position von Roth gelesen werden kann: »Gegen die Verwendung des Terminus Nationalsozialismus zieht Karl-Heinz Roth zu Felde«. Wenn sie abschließend schreibt, ich hätte »nicht [m]eine eigene Position zu der von Roth gestellten Frage« formuliert, so ist mein Vorwort sowie der Band insgesamt die implizite Antwort: An keiner Stelle wird von »Nationalsozialismus« gesprochen, durchweg geht es um Klärung des deutschen, des italienischen und des europäischen Faschismus.
Ulla Pleners Vorschlag, die von Roth aufgeworfenen Fragen zur Funktion des Faschismus-Begriffs erneut zu diskutieren, ist sicherlich richtig. Doch zum einen kann die Zeitschrift Argument nicht der alleinige Adressat sein, um das, was Volker Braun »faschismusbereitschaft« (2014, 269) nennt, zum Thema zu machen. Zum anderen sollten wir uns nicht nur auf die Problematik Nationalsozialismus vs. Faschismus beziehen: In neofaschistischen wie bürgerlichen Medien (Junge Freiheit, FAZ, Welt, SZ) ist momentan eher das Problem, dass sie den deutschen Faschismus verharmlosen, als dass sie ihn lediglich »Nationalsozialismus« nennen. Stichwort: Heimat. Göring-Eckardt wurde für ihren Satz: »Für diese Heimat, für dieses Land werden wir kämpfen«, von der FAZ gelobt. Schon Hitler sprach von seiner »heißen Liebe zu meiner deutsch-österreichischen Heimat« (Hartmann u.a. 2016, 121), für die er auch kämpfen würde: »Kämpfen kann ich nur für etwas, das ich liebe, lieben nur, was ich achte, und achten, was ich mindestens kenne« (163). Die Grüne Jugend hat – gegen das Partei-Establishment – der Vorsitzenden entgegengehalten, wer »den Rechten hinterherlaufe, mache sie nur stärker« und »Solidarität statt Heimat« eingefordert.
Stichwort: Täter. Anlässlich des 40. Todestags von Hans-Martin Schleyer fällt kein Wort über dessen Vergangenheit (»Ich bin alter Nationalsozialist und SS-Führer«). Heike Göbel, die für den freien Markt auch einen neuen Faschismus in Kauf nehmen würde, schreibt: »Die Terroristen hatten Schleyer ausgewählt, weil er für die Wirtschaft stand wie kein zweiter [...]. Die Fähigkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit auszustrahlen, habe Schleyer immer für die Arbeitgeberverbände nutzbar gemacht« (FAZ, 21.10.2017). Für die Mitarbeit an der Vernichtung der Prager Juden und der Organisation der Zwangsarbeiter/innen-»Ausbeutung« für das »Deutsche Reich«, die Schleyer in seinem Entnazifizierungsverfahren wohlweislich unterschlug, wurde er mit einer der härtesten »Strafen« für ranghohe Nazis belangt: Die Weiterbeschäftigung bei der IHK Baden-Baden und dann eine gutdotierte Stelle bei Daimler-Benz in Stuttgart.
Stichwort: Un-Menschen. Raul Hilberg, über dessen Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden in diesen Tagen die Gazetten voll sind2, zeigt, wie die Nazis in der Lage waren, die Juden in einen Zustand zu bringen, in dem sie am Schluss so »aussahen«, wie das Bild der Nazis sie haben wollte. Herstellung von »Un-Menschen« auch heute: Im Februar 2016 wurden in Bautzen und Clausnitz Flüchtlinge in ihrem Bus bedroht bzw. wurde ein leeres Flüchtlingsheim in Brand gesetzt. Der Ministerpräsident: »Das sind keine Menschen, die sowas tun, das sind Verbrecher«. Keine der großen deutschen Tageszeitungen hat diesen Ausspruch skandalisiert. Im Klartext bedeutet er, dass Straftäter aus dem Kreis der »Menschen« ausgeschlossen werden. Mitte Oktober stellt der AfD-Fraktionsvorsitzende Gauland in der FAZ klar, dass die »Masseninvasion fremder Menschen« in der Bevölkerung Ängste auslöse. Die AfD müsse weiter Kontakt zu den neofaschistischen »Volksbewegungen« wie »Merkel muss weg« halten. Entsorgungs- und Vernichtungssprache der neuen Nazipartei. An diesen Beispielen ist zu studieren, dass weder der deutsche
Faschismus noch das, was uns bevorsteht, über einen »Zivilisationsbruch« zu erklären ist, sondern – mit Raul Hilberg – als etwas, was sich »nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt« unterscheidet (1982, 674).
Stichwort: Opfer. Klaus Heinrich hat in einer Vorlesung zu Architektur und NS daran erinnert, dass ein »großer Teil des Volkes« sich als »Opfer« stilisieren konnte. »Und die Weise, in der das von der Propaganda aufgegriffen wird – dazu gehört auch die ontologische Verklärung des Opferbegriffs bis hin zu Martin Heideggers Opfern (Weltkriegsopfern) »vor der Zeit« –, ist ein Appell an die Henker in den Opfern. [...]
Die so als Opfer Stilisierten können sich zu gleicher Zeit als Henker betätigen.« Die von uns – Antifaschist/innen – zu den »Opfern« gezählten Menschen sind für Heinrich »diejenigen, die aus der Opfergemeinschaft ausgegrenzt werden. Und diese werden nicht geopfert, sondern wie Ungeziefer vertilgt. Es ist daher eine Geschichtsklitterung und unglaubliche nachträgliche Kränkung, wenn die so Vertilgten, die nur in der Erinnerung auferstehen können, zu Opfern eines Systems erklärt werden – wie das in der gedankenlosen Rede oder Schrift geschieht« (2015, 204f).
Wir sollten den Mut aufbringen und darauf bestehen, die Dinge beim Namen zu nennen und die Worte mit »Fingerspitzengefühl« zu wählen. Auch wenn wir uns dabei die Finger verbrennen ...

Literatur
Braun, Volker, Werktage 2. Arbeitsbuch 1990–2008, Frankfurt/M 2014
Hartmann, Christian u.a, Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München-Berlin 2016
Heinrich, Klaus, Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt. Karl Friedrich Schinkel. Albert Speer. Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS, Frankfurt/M 2015
Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982
Levi, Primo, So war Auschwitz. Zeugnisse 1945–1986, hgg. v. F. Levi u. D. Scarpa, München 2017
Projekt Ideologietheorie, »Faschismus und Ideologie«, neu hgg. v. K. Weber, Hamburg 2007