Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS

Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft

In Zeiten schwerer Systemkrisen verstärken sich meist die Anstrengungen zur ideologischen Rechtfertigung, ja zur Überhöhung jenes Zustands, der von Systemerhaltern zu bewahren versucht wird und der verunsicherten Masse Stabilität suggeriert. Die kompensatorische Überaffirmierung der schwankenden oder schwindenden Realitäten kann dabei eine gewisse Funktion für das Verteidigen von realen politökonomischen Machtpositionen für bestimmte Stakeholder haben, tendiert aber mit fortschreitender Krise zur ideologischen Verselbstständigung in religiösen oder quasireligiösen Formen.

Die Hypothese wird im Folgenden auf das Arbeitsmarktservice (AMS) angewendet und dieses anhand seiner Praxis und Funktionalität bzw. Dysfunktionalität im Gesellschaftssystem als eine weitgehend ideologische Einrichtung zur virtuellen Verkultung der Arbeit im Angesicht ihres historischen Verschwindens betrachtet. Eine Gegenüberstellung der Funktionen von AMS und Inquisition in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen veranschaulicht dies, auch wenn im strengen Sinne weder ein Vergleich zwischen den beiden Institutionen noch zwischen Feudalgesellschaft und kapitalistischer Moderne intendiert ist. Tatsächlich spielte die Inquisition im weiteren Sinn eine vergleichbare ideologische Rolle bei der gesellschaftlichen Verarbeitung des Krisenkontexts am Ende der europäischen Feudalgesellschaften, wie sie das AMS im gegenwärtigen Krisenzusammenhang erfüllt: eine bis ins wahnhafte übersteigerte Verdrängung der realen Zustände mithilfe der Bereitstellung von Sündenböcken. Und beide Institutionen scheuen sich nicht, ihren ideologischen Zielen Menschenopfer zu bringen, in einem Fall im wörtlichen, im anderen zumindest im übertragenen Sinn. Im ersten Teil dieses Artikels wird der Zusammenhang zwischen Krisenentwicklung und wahnhafter Verselbstständigung der beiden Institutionen erörtert.

Beide Institutionen repräsentierten eben nicht von Anfang an den überschießenden wahnhaften Charakter, den sie später annehmen sollten. Der weitgehende Verlust der ursprünglichen Funktionalität ist bei beiden Einrichtungen an einschneidende sowohl gesellschaftliche als auch institutionelle Umbrüche gebunden, die bei der Inquisition zu einer Verschiebung der kirchlichen Trägerschaft zu staatlichen Einrichtungen und einer Erweiterung des Wütens gegen Ketzer im engeren Sinn zur Verfolgung wegen Hexerei führte. Eine Einschränkung auf die kirchlichen Einrichtungen würde der Breite des historischen Rasens, das die Gesellschaft erfasst hatte, nicht gerecht werden, wie auch heute die Entrechtung, Drangsalierung und Stigmatisierung von Arbeitslosen aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Eine Verlagerung und Verbreiterung seiner Tätigkeit, Outsourcing einiger seiner Aufgaben und ein breiter gesellschaftlicher Sozialschmarotzerdiskurs markieren auch den Wandel des alten Arbeitsamtes zum AMS.

 

Von der päpstlichen Sicherung der göttlichen Ordnung ...

Die bereits im Hochmittelalter entstandene Inquisition war ursprünglich einerseits ein Machtinstrument eines sich in jeder Hinsicht auf einem Höhepunkt seiner Macht befindlichen Papsttums, das sich gerade anschickte, als Lehnsherr einer Reihe abendländischer Monarchen auch die weltliche Macht zu übernehmen, und andererseits ein Versuch, die ideologische Einheit der abendländischen Gesellschaften zu sichern, die infolge stark dezentraler Machtstrukturen in der Spielart des europäischen Feudalismus immer prekär war. Der Fetischcharakter dieser Gesellschaften verlangte die richtige göttliche Ordnung als Grundlage einer legitimen gesellschaftlichen, was Fragen der Rechtgläubigkeit eine vergleichbare Relevanz verlieh, wie sie gegenwärtig „fairen Wahlen“, „freien Märkten“ oder der „Rechtsstaatlichkeit“ zugeschrieben wird. Die Inquisition ist also nur ein – anfangs unter direkter päpstlicher Jurisdiktion stehendes – Instrument zu diesem Zweck und keineswegs ein Kind feudaler Krisenhaftigkeit. Vielmehr entstammt die Institution einer Zeit, in der die Bestrebungen zu einer Stabilisierung – und Vereinheitlichung – der abendländischen Feudalgesellschaften auf einen Höhepunkt zustrebten, bevor sie scheiterten.

 

... zur wahnhaft-religiösen Krisenverarbeitung im Allgemeinen

Die Hochzeit der Barbarei erreichte die Inquisition erst in der frühen Neuzeit, zu einem Zeitpunkt, an dem die Einheitlichkeit der herrschenden Ideologie des „Abendlandes“ und die bis dahin relativ unangefochtene Monopolstellung ihrer Trägerin, der römischen Kirche, nicht mehr zu retten waren. Zur Bekämpfung der Reformation leistete die Inquisition einen vernachlässigbaren Beitrag; die Jesuiten und die militärischen Unternehmungen der Habsburger und Wittelsbacher waren um ein Vielfaches wichtiger. Es hatte nicht nur die „heilige Mutter Kirche“ im Zuge der Reformation ernsthafte ideologische Konkurrenz bekommen, auch dort, wo sich die feudale Gesellschaft auf einer neuen zentralistisch-absolutistischen Machtgrundlage stabilisiert hatte, war die gesellschaftliche Kräftebalance prekär geblieben. So wie die Machtstellung der zentralen ideologischen Instanz Kirche war die von ihr als gottgewollt propagierte gesellschaftliche Ordnung nicht mehr zu retten.

Natürlich mochte das grausige Treiben noch da und dort politökonomischen Partikularinteressen dienen, herab bis zu jenen des kleinen Denunzianten, der sich des Nachbarn zu entledigen suchte. Aber spätestens seitdem sich die Fürsten eine Religion aussuchen konnten („cuius regio, eius religio“), war die Idee einer göttlichen Ordnung der Welt auf Basis einer absolut gedachten religiösen Wahrheit endgültig diskreditiert. Selbst denen, die ganz auf die abendländische Einheit im Zeichen der römischen Kirche gesetzt hatten, etwa den Habsburgern, war dies machtpolitisch nicht immer hilfreich und war die breite Bewegung inquisitorischen Wütens der Kontrolle des Papsttums weitgehend entglitten. Die systemimmanente instrumentelle Rationalität der Scholastik, die dem Volksaberglauben um der Reinheit und inneren Konsistenz der Lehre willen durchaus kritisch gegenüberstehen konnte, war den Wucherungen der Hexenprediger und ihrer Popularität wenig gewachsen. Träger kirchlicher oder monarchischer Autorität konnten ihren Verlust an Definitionsmacht mit dem blutigen Spektakel verschleiern, seine gesellschaftlichen Ursachen aber nicht bekämpfen.

Nicht nur feste Wahrheiten waren ins Wanken geraten, sondern auch die im Alltag Stabilität vermittelnden sozialen Ordnungen. Selbst dem einfachen Mann, dem Vorläufer des kleinen Mannes heutiger Wahlkampfrhetorik, konnte nicht entgehen, dass größere Umbrüche im Werk waren: Ehemalige Herrn gingen am Bettelstab, während Neureiche wie die Fugger bei den Monarchen verkehrten, die ihrer Kredite bedurften. Von den Alchimisten, die sich mit dem Versprechen der Goldmacherei an so manchem Hof Zutritt verschafft hatten, erhoffte man Rettung, wie heute von den Börsendandys und Bankengurus. Soziale Kräfteverschiebungen von den Land- zu den Geldbesitzern, vom Dorf in die Stadt, und die soziale Polarisierung in den meisten sozialen Milieus der feudalen Gesellschaft erfasste auch die Masse der Bevölkerung, bei der viele abstiegen, von Abstieg bedroht wurden oder jedenfalls einer ungewissen Zukunft entgegengingen. Es ging also drunter und drüber, nicht nur auf dem Felde der Ideologie, sondern auch in der sozialen Realität, was in einem allgemeinen Bedürfnis nach Stabilität und einfachen Orientierungshilfen gipfelte. Dass der Zustand gesellschaftlicher „Unordnung“ eine Strafe Gottes sein musste, war in einer Gesellschaft des religiösen Fetischs nur naheliegend, ergo die Bestrafung des Unglaubens das Mittel der Wahl, um göttliches Wohlwollen und somit die soziale Ordnung scheinbar wiederherzustellen. So ging ein Rasen gegen tatsächliche oder vermeintliche Abweichler durch die Gesellschaft.

 

Vom fordistischen Regulierungsinstrument ...

Strukturell Ähnliches kann für die Entwicklung des AMS bzw. seiner Vorläuferorganisationen konstatiert werden. Entstanden in einer Zeit (in Österreich 1917), in der die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu ihrer Reifephase in der fordistischen Konsumgesellschaft anzusetzen begannen, vorerst hauptsächlich in den USA, war das Arbeitsamt bzw. später die Arbeitsmarktverwaltung (AMV) eine blasse Sozialbürokratie auf der obligaten arbeitsgesellschaftlichen Basis, aber ohne besonders überschießendes ideologisches Element.

Die konjunkturellen Schwankungen stellten die Gesellschaft regelmäßig vor die Aufgabe, die überschüssige Arbeitskraft verwertungsfähig zu erhalten und der Verwertung wieder zuzuführen, aber auch im Sinne fordistischer Regulation soziale Friktionen abzufedern. Die Institution erfüllte somit eine sozioökonomische Funktion, auch wenn sie – so wie heute – schweren Systemkrisen im Gefolge von größeren Produktivitätsschüben niemals gewachsen war. Dem ökonomischen Systemzwang zur Verwertung der Arbeitskraft entsprach auf der ideologischen Ebene die Vorstellung, dass soziale Sicherheit für arbeitsfähige Individuen immer nur als Reintegration in den Verwertungskreislauf denkbar war, und dies war durch wissenschaftlichen Überbau wie die Marienthalstudie (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel, 1933) humanistisch weichgespült und – im Gegensatz zur Dominanz des Lebensideals der Muße in den meisten historischen Gesellschaften – zu einem psychischen Bedürfnis der Arbeitslosen anthropologisiert worden. Der arbeitsgesellschaftlichen Verwertung bedürften die Menschen demnach nicht nur, um ihre materielle Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft zu sichern, sondern ihres psychischen Wohlbefindens wegen. Das Arbeitsamt basierte auf solchen ideologischen Annahmen und legitimierte sich darüber auch als soziale Einrichtung, war aber nicht im engeren Sinn eine Ideologie produzierende oder reproduzierende Einrichtung, solange seine sozioökonomische Regelungsfunktion im Vordergrund gestanden hatte.

 

... und dessen Scheitern in der Krise ...

1973, mit dem Ende der Nachkriegskonjunktur mit ihrem Vierteljahrhundert kontinuierlich hoher Wachstumsraten und den in der Folge steigenden Arbeitslosenzahlen, begannen sich die Aufgaben der AMV zunächst zu erweitern, und nicht zufällig war bereits 1968 die aktive Arbeitsmarktpolitik in den Aufgabenkatalog aufgenommen worden. Angesichts der sich verschärfenden globalen Standort- und Lohnkonkurrenz sowie einer sich herauskristallisierenden neuen internationalen Arbeitsteilung, die den Ersatz ausgelagerter Industriearbeitsplätze durch Hightech-Produktionen oder -Dienstleistungen in den kapitalistischen Zentren vorsah, stand die Zurichtung der Arbeitskraft in ideologischer und qualifikatorischer Hinsicht auf der Tagesordnung:
+ Den Arbeitskraftbesitzern musste einerseits beigebracht werden, dass sie um der Konkurrenzfähigkeit „ihrer Wirtschaft“ im internationalen Wettbewerb willen in Hinkunft den Abbau von Arbeitsstandards zu akzeptieren hätten. Da die materielle Existenzsicherung in der Arbeitslosenversicherung gewisse untere Schranken dafür setzte, was sich ein Arbeitsloser zumuten lassen musste, wurde diese einerseits ausgehöhlt (Senkung der Nettoersatzraten, Verlängerung der Anwartschaften) sowie durch die Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten deren willkürlicher Entzug erleichtert, um einen stärkeren „Anreiz zur Beschäftigungsaufnahme“ zu setzen, wie es im offiziellen Politjargon hieß. Das Hineintreiben von Arbeitslosen ins Prekariat konnte von der AMV aber so lange nur indirekt und in einem gewissen rechtlichen Graubereich betrieben werden, bis unter kräftiger Mithilfe der Gewerkschaften die neuen prekären Beschäftigungsverhältnisse durch katastrophale Kollektivvertragsabschlüsse und Anpassung der gesetzlichen Normen legalisiert werden konnten. Ob solche „Anreize“ sehr wirksam waren, ist fraglich, weil das solchermaßen geförderte Prekariat in der Regel nicht mehr Sicherheiten bot als die AMV-Sanktionswillkür, wenn auch manche Arbeitslose dadurch gezwungen worden sein mögen, zwischen Skylla und Charybdis periodisch hin und her zu pendeln.

Jedenfalls dürfte im Vergleich dazu der anonyme Druck eines immer mehr liberalisierten globalen Arbeitsmarktes auf die noch Beschäftigten (durch Saisonarbeit, Standortkonkurrenz und – in manchen Wirtschaftssektoren bevorzugt illegale und daher völlig rechtlose – Arbeitsmigration) ein wirkungsvollerer Hebel zur Senkung der Arbeitsstandards gewesen sein. Disziplinierung durch den anonymen Markt hatte sich in der Moderne jedweder Form von Zwangsarbeit als überlegen erwiesen, insbesondere wenn sie mit Konsumidiotisierung verbunden auftrat. Einer vom AMV geförderten, staatlich organisierten Lohnsklaverei wird daher – abgesehen von vielleicht ganz wenigen Nischen – wenig sozioökonomische Bedeutung zukommen. Historisch dürfte so etwas das letzte Mal im alten Sparta so richtig funktioniert haben, was AMV und AMS nicht daran hinderte und hindert, derlei Bestrebungen ganz oben auf die Maßnahmenliste zu setzen.

+ Andererseits wurden die Arbeitsplatzverluste nicht nur als Folge eines zu hohen Lohnniveaus, sondern auch eines Qualifikationsungleichgewichtes zwischen Arbeitskraftnachfrage und dem Angebot interpretiert, das es durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auszugleichen gälte. Grundsätzlich war diese Interpretation nicht immer falsch und konnten Umschulungen den Einzelnen unter Umständen tatsächlich wieder „brauchbarer“ für die sich immer dynamischer entwickelnden Verwertungsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie machen. An dem Grundproblem ändert dies allerdings nichts, weil die aggregierte Arbeitskraftnachfrage davon quantitativ nicht berührt wird. Dazu kommt, dass die Standard-Schulungen, die den Arbeitslosen angeboten wurden, in der Regel zu kurzfristig waren, sich zunehmend auf die ideologische Zurichtung der Arbeitswilligkeit der Arbeitslosen, „Aktivierung“ genannt, richteten und jeder Mode „der Wirtschaft“ hinterherliefen, anstatt eine solide Entwicklung des Humankapitals zu betreiben. Dies ist nicht nur ein subjektives Versäumnis der Institution, sondern auch ein Zeichen für zunehmende Unsicherheit bezüglich der sich rasant entwickelnden Anforderungen ans variable Kapital bei der Bedienung des kapitalistischen Warenfetischs.

Die Krisenrealität setzte somit der sozioökonomischen Wirksamkeit der Zurichtung der Ware Arbeitskraft und ihrer Träger enge Grenzen, weil einerseits die Konkurrenz ums Sozialdumping in einem globalisierten Arbeitsmarkt nicht zu gewinnen war, schon gar nicht mittels staatlich organisierter Zwangsarbeit, andererseits die Produktivkraftentwicklung nicht nur anders qualifizierte, sondern vor allem immer weniger Arbeitskräfte erforderte. Die Produktivitätsentwicklung spuckte in einem in der Geschichte des Kapitalismus noch nie da gewesenen Maß Arbeitskraft aus, weil die Computerisierung und Robotisierung eben grundsätzlich von anderer Qualität als die Erfindung des mechanischen Webstuhls oder des Verbrennungsmotors sind. Dieser neuen Qualität der Produktivkraftentwicklung sind die Regelungskapazitäten der AMV nicht gewachsen. Wenn sich in Chinas Exportindustrie, einer der arbeitsintensiven Werkbänke der Weltwirtschaft, der Anteil der Arbeitskosten an der Wertschöpfung in nur sieben Jahren von ca. 52 % auf ca. 26 % halbierte, obwohl sich das Lohnniveau im gleichen Zeitraum verdoppelt und der Ausstoß verdreifacht hatte (Julie Froud, Sukhdev Johal, Adam Leaver, Karel Williams, 2012), zeigt dies, wohin die Reise unwiderruflich geht, nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten Weltökonomie. Die paar zehntausend Weber, die durch den mechanischen Webstuhl im 19. Jahrhundert ihre Arbeit verloren hatten, verblassen dagegen, wie schlimm deren Los im Einzelnen gewesen sein mag.

Immerhin waren neben der Dressur der von Arbeitslosigkeit Betroffenen einige Zeit lang noch – die letztlich zum Scheitern verurteilten – Versuche des „Arbeitsplätze-Schaffens“ im nachholenden Kreiskyschen Keynesianismus gestanden, bis eine antizyklische Wirtschaftspolitik an die Grenzen der Finanzierbarkeit im globalisierten Standortwettbewerb stieß. Das „Arbeitsplätze-Schaffen“ ist seither als folkloristischer Politikerwettbewerb zur Erbauung des in die dürren Austerity-Ebenen getriebenen Stimmviehs weitergeführt worden, aber real wenig bedeutsam. Die Informationsrevolution hat das Wirtschaftswachstum längst von der Arbeitskräftenachfrage entkoppelt, sodass staatliche Wachstumsförderung gar nicht oder nicht im erhofften Umfang auf dem Arbeitsmarkt ankommt. Die fortlaufende Verschiebung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals drückte auf die Profitabilität in der realen Produktion, weshalb ganze Kapitalfraktionen auf die Finanzmärkte auswichen, wo sie zwar auch keine Arbeitsplätze schufen, aber Fiat-Money in rauen Mengen, mit dem sich kreditgestützte Zwischenkonjunkturen erzeugen und Probleme mit den Staatshaushalten hinausschieben lassen – bis die Spekulationsblasen platzen.

 

... zur rituellen Opferung überschüssiger Arbeitskräfte

Das sich nach dem Abebben des Wiederaufbaubooms entwickelnde Krisenszenario hätte systemimmanent eine Beschränkung der Agenden der AMV auf das wenige, was die Institution noch bewirken konnte, nahegelegt, also die Verwaltung der Arbeitslosenbezüge und der immer geringeren Zahl von Stellenangeboten. Angesichts der Durchsetzung des neoliberalen Austerity-Dogmas seit den 80er-Jahren hätte sich die AMV geradezu dafür angeboten, die überflüssigen Verwaltungskapazitäten herunterzufahren und – wie bei vielen anderen sozialen Einrichtungen – Sozialabbau zwecks Budgetkonsolidierung zu betreiben.

Letzterem mochten die Einschränkungen des Zugangs zu AMS-Leistungen und deren Reduktion noch dienlich sein, auch wenn diese die Kosten durch steigende Arbeitslosenzahlen in der Regel wohl nicht ausgleichen konnten. Die verstärkte Sanktionswut der Institution kann aber schon wegen des unverhältnismäßigen Aufwands im Einzelfall schwerlich unter dem Gesichtspunkt von Einsparungen betrachtet werden. Gesamtgesellschaftlich sind Einsparungen bei der Existenzsicherung von Arbeitslosen sowieso nur budgetwirksam, wenn es gelingt, Menschen gänzlich aus dem Sozialsystem in die Arme privater Mildtätigkeit oder familiärer Abhängigkeiten zu treiben. Die Aussage, die deutsche Kabarettisten einem Jobcenter-Mitarbeiter in den Mund legen, trifft diesen Sachverhalt einigermaßen: Wissen Sie wann ein Jobcenter gut ist? Wenn ich hier einen Mitte-dreißig-jährigen Arbeitslosen sitzen habe und wenn ich’s schaffe, dass er aus finanziellen Gründen bei seiner pflegebedürftigen Mutter einziehen muss, und wenn ich’s dann schaffe, dass die Mutter für ihn Unterhalt bezahlen muss, das ist gut“ (ZDF, Mann, Sieber! vom 14. Februar 2017, „Im Jobcenter“). Abgesehen von solchen „Erfolgen“ gebiert der verschärfte Umgang der AMV bzw. des AMS mit den Arbeitslosen aber wenig Einsparungspotenzial. Wer ins Prekariat getrieben wird, kommt leicht wieder wie ein Bumerang zurück, aus dem Bezug Hinaus-Sanktionierte fallen bei anderen Sozialeinrichtungen an, selbst die, die sich ein Bein abhacken, um nicht vom AMS in Jobs gezwungen zu werden, die sie nicht mehr ausführen können, belasten das Gesundheits- und Sozialsystem weiter. Nur Selbstmörder rechnen sich so gesehen.

Angesichts immer leistungsfähigerer Technologien zur Verwaltung der Leistungsbezüge und dem Zugänglichmachen von Stellenausschreibungen sowie des – gemessen an der Zahl der Arbeitslosen – dramatischen Mangels offener Stellen schien eine weitgehende Einschränkung der Vermittlungstätigkeit der Institution das Gebot der Stunde. Laut AMS-Daten kamen im Jahresschnitt 2016 auf eine sofort verfügbare Stelle zehn Arbeitsuchende und schätzt das AMS, ca. 40 % der gesamten österreichischen Arbeitskraftnachfrage in seiner Datenbank zu haben. D. h., schon rein arithmetisch ist für 75 % der beim AMS arbeitssuchend gemeldeten Personen eine Beschäftigungsaufnahme unmöglich. Spuren einer systemrationalen Antwort auf diese Situation finden sich verschämt in einer Bestimmung des Arbeitsmarktservicegesetzes (AMSG), die es erlaubt, Arbeitslose in den letzten eineinhalb Jahren vor Pensionsantritt davon zu befreien, „sich ständig zur Aufnahme und Ausübung einer Beschäftigung bereitzuhalten“, falls keine Aussicht auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit“ (§38b AMSG) bestehe. Dies ist ein indirektes Eingeständnis dafür, dass sich weitere Vermittlungsbemühungen mangels Erfolgsaussichten nicht lohnen. Bei Vorruheständlern ging ein solches Anerkenntnis der Realitäten ideologisch anscheinend gerade noch durch, bei den anderen derzeit 75 % nicht mehr Verwertbaren offensichtlich nicht.

 

Die Geburt des „Service“

Anstatt also die Institution ihrer minimalen Regelungskapazität entsprechend zu schrumpfen, wurde aus der biederen AMV 1994 das „Service“ (englisch auch für Gottesdienst) mit steigenden Geldmitteln, einem wachsenden Kreis vorgelagerter Franchise-Nehmer für Bildungsmaßnahmen und Beschäftigungssimulation am sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, bestehend aus Kursanbietern, SÖBs (sogenannte sozialökonomische Betriebe) und „gemeinnützigen“ Personaldienstleistern und -verleihern sowie stetig steigendem AMS-Personal (für 2017 etwa 200 zusätzliche Beraterstellen), das in allererster Linie der direkten „Betreuung“ der Arbeitslosen „zugutekommt“. Eine solche Verletzung des Prinzips der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit (§31, Abs. 5. AMSG) erklärt sich nicht anders, als dass die arbeitsgesellschaftliche Ideologie eine Freistellung von Personen von der Verwertungspflicht ihrer Arbeitskraft einfach nicht zulassen kann, auch wenn deren Vermittlung nur mehr ohne jegliche Erfolgsaussichten simuliert werden kann. Diese ideologische Verselbstständigung des Service zum Gottesdienst am Warenfetisch spiegelt sich in Folgendem:

 

1. Individualisierung der Arbeitslosigkeit

Zur Verdrängung der ideologisch hinderlichen Realitäten konzentriert das Service seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeitslosen, was zweierlei bedeutet:

+ Wer bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beim betroffenen Individuum ansetzen will, zäumt das Pferd nicht nur vom falschen Ende auf, sondern verabschiedet sich praktisch vom Anspruch, real etwas bewirken zu wollen. Die Betroffenen sind schließlich die Letzten, die Einfluss auf die sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft haben, außer sie gründeten – meist wenig lebensfähige – Firmen, um sich ihren Arbeitsplatz selbst zu schaffen, was aber nur das gleiche Nullsummenspiel in Bewegung setzt, wie wenn Arbeitslose einander einen Job wegschnappen. Solche Zwangsselbstständigkeit von Arbeitslosen steht in der Gunst des AMS naturgemäß weit oben und wird mit großzügigem Rat und mehr symbolischer Tat – die angebotenen Subventionen sind in der Regel nicht der Rede wert und stehen in keinem Verhältnis zum Risiko einer Firmengründung – unterstützt, weil sich nur in solchen Fällen das AMS-Dogma, dass die Arbeitslosen selbst ihre Arbeitslosigkeit beenden können, zu bestätigen scheint.

+ Die Einengung des Blickwinkels auf die Arbeitslosen kastriert aber auch jedes intellektuelle Verständnis der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitsmarktentwicklung. Wer diese Umstände, wie die rein rechnerisch für 75 % der Arbeitslosen fehlenden Stellen, erst einmal ausgeblendet hat, kann die Schuld nur mehr bei den Arbeitslosen selbst suchen, wenn nicht in ihrer mangelhaften Qualifikation, so in mangelndem Arbeitswillen. Die Bearbeitung des Letzteren hat daher in der AMS-internen Prioritätensetzung die Qualifizierungsanstrengungen weitgehend abgelöst, wodurch sich der Simulationscharakter der AMS-Schulungen noch erhöht haben dürfte, wenn diese nicht überhaupt zu reinen Disziplinierungsinstrumenten bei der Arbeitslosen-Dressur geworden sind.

 

2. Sündenbockgenerierung für Systemprobleme

Die Individualisierung des Problems der Arbeitslosigkeit ist durchaus funktional, um die Arbeitsgesellschaft weiter als intakt und unhintergehbaren Standard der gesellschaftlichen Entwicklung zu imaginieren und ihren historischen Niedergang zu verdrängen:

+ Die Pose der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann in Form der Bekämpfung der Arbeitslosen weiter simuliert werden, insbesondere da die Letzteren im Gegensatz zu den strukturellen Ursachen dem direkten Zugriff des AMS wirklich ausgesetzt sind. Das demonstriert Handlungsfähigkeit in der Krise, wo in Wirklichkeit Ratlosigkeit herrscht.

+ Die zu gesellschaftlichen Sündenböcken degradierten Schuldigen ersparen die Auseinandersetzung mit den Realitäten und erlauben somit, den fetischistischen Kern der Moderne, den Warenfetisch, insbesondere in seiner konsumgesellschaftlichen Ausprägung als Glauben an ewiges Wachstum und eine – zumindest zukünftige wieder mögliche – Vollbeschäftigung zu rehabilitieren.

 

Aufbau eines virtuellen Notstandsregimes

Der Übergang zu selbstzweckhaften, quasireligiösen Ersatzhandlungen machte sozioökonomisch weitgehend irrelevante, ja kontraproduktive Opferrituale an den Arbeitslosen zur Hauptbeschäftigung des „Service“ und erforderte

+ das Abrücken von der sozialen Sicherungsfunktion des AMS und deren Umwandlung in ein Sanktionsinstrument durch die permanente und willkürliche Bedrohung der materiellen Existenzgrundlage,

+ den Abbau von rechtsstaatlichen Standards und ihren Ersatz durch eine Art Sondergesetzgebung für Arbeitslose zur Erleichterung willkürlicher Sanktionierung, die zwar immer wieder mit den allgemeinen Rechtsprinzipien kollidiert, aber fortschreitend zumindest im Nachhinein legalisiert wird,

+ und den Aufbau und die Legalisierung einer Parallelwelt, in der das AMS Vermittlung, Bildungsförderung, Weiterbildung und Beschäftigung weitgehend unbeeinflusst von den realen Umständen, aber unter zwangsweiser Einbeziehung der Betroffenen simulieren kann.

Letzteres ist wiederum Anlass und Rechtfertigung für die Sanktionierung von Arbeitslosen und so schließt sich der Kreis der AMS-Aktivitäten, praktisch ohne mit den tatsächlichen Arbeitsmarktrealitäten wesentlich in Berührung kommen zu müssen.

Diese immer mehr in sich geschlossenen Aktivitätskreisläufe besitzen praktisch keine Relevanz für die systemimmanente Regulation der anstehenden Probleme, die zu erlauben sie vorgeben, weshalb das AMS spätestens seit den 90er-Jahren in seinem Zeitalter der massenhaften Scheiterhaufen angekommen sein dürfte, auch wenn die direkte Verfolgung der Opfer mehr sozialer und rechtlicher Natur ist und die psychische Degradierung meist indirekt erfolgt. Die Sanktion ist das Um und Auf eines quasireligiösen Rituals des AMS geworden, um die systemkonforme Ordnung des „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen“ zumindest exemplarisch (wieder-)herzustellen. Drakonische Strafen für das Sündigen, die kein gelinderes Mittel als die zumindest temporäre Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage kennen, und sei es nur für einen versäumten Termin, sind daher obligat. Dementsprechend hat sich die Zahl der Sanktionen zwischen 1990 und 2005 verfünffacht (Atzmüller, 2009). Derzeit halten wir bei ca. 100.000 pro Jahr. Die Steigerungsrate der Raserei des „Service“ pro Zeiteinheit dürfte die Inquisition in den Schatten stellen, aber die Zeiten sind seit damals natürlich generell schnelllebiger geworden.

 

Literatur

 

Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit (Hirzel, Leipzig 1933).

Julie Froud, Sukhdev Johal, Adam Leaver, Karel Williams: Apple Business Model, Financialization across the Pacific (= CRESC Working Paper Series, Working Paper No.111, April 2012).

Roland Atzmüller: Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Österreich. Dimensionen von Workfare in der österreichischen Sozialpolitik, in: Kurswechsel 4/2009: 24–34.

 

 

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