Rechtsruck in Österreich

Die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Österreich haben den erwarteten klaren Sieg der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) gebracht. Sie wurde mit 31,6% und einem Plus von 7,6% gegenüber dem Ergebnis von 2013 deutlich stärkste Partei. Die SPÖ landete mit 26,9% (+0,1% gegenüber 2013) auf Platz zwei vor der FPÖ, die sich mit 26,0% (plus 5,5%) knapp hinter der Sozialdemokratie einreihte.[1]

Bis zum Mai 2017 sah die FPÖ in den Umfragen als die sichere Siegerin der Nationalratswahlen aus, mit der Durchsetzung des »System Kurz« in der ÖVP verlor die FPÖ nun Platz eins. Die Wahlbeteiligung ist mit etwa 80% im Vergleich zu 2013 (75%) deutlich angestiegen.

Bei den kleineren Parteien haben die Grünen drastisch an Zustimmung eingebüßt, und verloren 8,5% der Stimmen. Sie werden mit voraussichtlich 3,9% nicht mehr im Nationalrat vertreten sein. Wegen parteiinterner Auseinandersetzungen und entsprechender Platzierungen auf der Liste hatte Peter Pilz die Partei der Grünen verlassen und war mit einer eigenen Formation angetreten, die den Sprung in Parlament geschafft hat. Die Liste Pilz vertritt inhaltlich linke Positionen. Als zentrale politische Aufgabe will Pilz »Gerechtigkeit und Umverteilung von Arbeitschancen und Einkommen von oben nach unten« durchsetzen.

Stimmenanteile Nationalratswahl
Ergebnisse Nationalratswahlen 2017 Stimmanteile

 

Umkehrung eines 40 Jahre alten Trends

Ein Großteil der ÖsterreicherInnen ist mit dem politischen System unzufrieden. Das ist durch Umfragen abgesichert – und, dass rund 40% die Zukunft pessimistisch betrachten. Sebastian Kurz ist es gelungen, den starken, aber diffusen Wunsch eines Großteils der Bevölkerung nach Veränderung, nach Wandel – verbal – zu erfüllen. Es gibt ein breites Gefühl, dass die Institutionen, wie etwa die Sozialpartner, der Herausforderung einer drastisch veränderten Welt (Stichworte Globalisierung, Migration) nicht gewachsen sind, und dass »die Anderen« – die Flüchtlinge, aber auch sonstige »Privilegierte« – es auf »unsere Kosten« besser haben.

Verglichen mit dem langwierigen Niedergang der ÖVP in Wahlen ist ihr jetziges Ergebnis bei der Nationalratswahl in der Tat die bemerkenswerte Umkehrung eines 40 Jahre alten Trends. Anton Pelinka resümiert zu Recht: »Seit den 1980er-Jahren war das österreichische Parteiensystem geprägt von mehr oder weniger fortschreitenden Verlusten der beiden großen Volksparteien, der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) und der ÖVP. Zugleich verzeichneten die rechtspopulistische Freiheitspartei Österreichs (FPÖ) und die Grünen stetige Erfolge. Zu beobachten war die kontinuierliche Dekonzentration des österreichischen Parteiensystems.«[3]

Ein Wahlsieg der FPÖ galt lange als ausgemacht. Allerdings hat die ÖVP im Mai 2017 nach langwierigen Turbulenzen in der Partei und damit auch in der Koalitionsregierung mit den österreichischen Sozialdemokraten (SPÖ) den Außenminister Sebastian Kurz mit Sondervollmachten ausgestattet und damit die politische Stagnation infolge der langjährigen Herrschaft der großen Koalition beendet.

In den letzten Monaten vor den vorgezogenen Wahlen konnte die FPÖ nicht mehr in gleicher Weise bei der Wahlbevölkerung punkten. Seit vier Jahren führte sie in den Umfragen, zeitweise sogar mit bemerkenswertem Vorsprung. Seit Mai dieses Jahres zeigte sich ein deutlicher Rückgang und Stagnation. Seit Außenminister Kurz die Führung der ÖVP übernommen hat, konnte die konservative Partei in den Umfragen um zehn Prozentpunkte zulegen, und ist nun aus den Wahlen als Sieger hervorgegangen.

Sebastian Kurz hat der politischen Architektur des österreichischen Konservatismus nach längerem Niedergang eine rechtspopulistische Fassade verpasst: Die altehrwürdige Volkspartei hat die programmatischen und organisatorischen Forderungen des 30-jährigen Jungstars geschluckt und ihn zum neuen Parteichef gewählt. Kurz will eine neue Partei oder besser Bewegung, die völlig auf ihn zugeschnitten ist – genau das Gegenteil dessen, was die ÖVP früher ausmachte.

Der rasante Aufstieg des Jungpolitikers Kurz hat viel mit der Massenmobilisierung der modernen Rechten zu tun, und geht damit zulasten der FPÖ.[4] Auch die SPÖ versuchte mit Übernahme von rechtspopulistischen Argumentationsmustern den Anschluss an die Ressentiments zu halten, scheiterte aber wegen geringer Überzeugungskraft. Außenminister Kurz steht hingegen für eine skrupellose Linie in der Asyl- und Migrationspolitik und verfolgte zuletzt einen zunehmend EU-kritischen Kurs. Das ist populär und ein Grund für seine hohen Beliebtheitswerte. Kurz vertritt zudem einen unternehmerfreundlicheren und neoliberaleren Wirtschaftskurs.

 

Kernthema: Flüchtlings- und Einwanderungsfrage

Das Kernthema des Bundesministers für Europa, Integration und Äußeres ist bis heute die Flüchtlings- und Einwanderungsfrage. Die Route über das Mittelmeer sei zu schließen, die Rettung dürfe nicht mit dem Ticket nach Europa verbunden sein, die Zuwanderung nach Österreich müsse radikal gesenkt werden. Es habe auf der Balkanroute funktioniert und ja, auch in Australien, betont Kurz in Anspielung auf seine erstmalige Propagierung dieses umstrittenen Vorbilds vor einem Jahr, was damals für helle Aufregung nicht nur in Österreich sorgte.

Anton Pelinka fasst zu Recht zusammen: »Sebastian Kurz besetzt alle Positionen, die zuvor Heinz-Christian Strache mit dem freiheitlichen Themenkatalog okkupiert hatte: den Anti-Islamismus – Kurz tritt nicht gegen bestimmte islamische Schulen auf, die auffällig geworden sind, sondern er lehnt sie generell ab. Kurz ist nicht nur für eine befristete Aufhebung mancher Schengen-Freiheiten, er will sie überhaupt einschränken. Und er wendet sich gegen Political Correctness. Kurz ist wie Strache, aber wie ein Strache, der eine elitäre Schule für besonders gutes, bürgerliches Benehmen besucht hat.«[5]

Kurz will das bisherige System sozialer Sicherheit aushebeln. Weil die politische Aufklärung auf der Strecke blieb, kann die Logik für einen größeren Teil der Wahlbevölkerung greifen. dass der Sozialstaat nur für die politische Klasse genutzt wird und den Leuten das Geld aus der Tasche zieht: »Es muss wieder mehr übrig bleiben.« Davon fühlen sich offenbar auch Menschen angesprochen, die in hohem Maße vom Sozialstaat und seiner Umverteilung profitieren. Aber natürlich vor allem solche, die sich selbst als Leistungsträger sehen. Kurz will die Sozialversicherungen nicht sanft reformieren, sondern »das System aufbrechen«. Was das genau bedeutet, bleibt offen – mit Ausnahme der Mindestsicherung, die erstens überhaupt so gestaltet werden soll, dass es wieder mehr Anreiz zum Arbeiten gibt, und die zweitens für MigrantInnen gekürzt werden soll.

Bei der »Bewegung«, als die Kurz die »Neue Volkspartei« sieht, ist jeder willkommen. Zum neuen Stil, den er propagiert, gehören eigene Kommunikationskanäle, showartige Wahlkampfauftritte und eine starke Präsenz in den Social Media. Auf Facebook hat der Außenminister 550.000 Fans, annähernd so viele wie FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der seit Jahren auf dieses Medium setzt.

Das politische und Parteiensystem Österreich treibt seit längerem – wie auch in anderen europäischen Ländern – auf einen »Umbau« hinaus. Seit den 1980er-Jahren war das österreichische Parteiensystem geprägt von einem chronischen Niedergang der beiden großen Volksparteien links und rechts der Mitte, der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) und der ÖVP. Im gleichen Zug verzeichneten die rechtsgerichtete populistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und die Grünen stetige Erfolge.

 

Nationalratswahlen in Österreich seit 1945

 

Parteienforscher registrieren seit längerem diesen Trend der Fragmentierung der Gesellschaft. Die Lebensmodelle und -milieus sind viel ausdifferenzierter und komplexer, als sie die traditionellen Parteiangebote im Visier und Programm hatten. »›Catch-all parties‹ gibt es nicht mehr.« Die etablierten Parteien sind nicht gewillt oder in der Lage, der veränderten Stimmung in Teilen der Wählerschaft Rechnung zu tragen. Die bisherige Erfahrung und die aktuellen Ergebnisse belegen, dass wir mit einer substanziellen Schwächung der Traditionsparteien und einem weitreichenden Umbau des Parteiensystems konfrontiert sind.

 

Österreich muss sich ändern

Auch wenn es auf der politischen Bühne nicht direkt sichtbar ist: In der Umschichtung der Parteien reflektieren sich tieferliegende Prozesse der sozio-ökonomischen Transformation und sozialstruktureller Brüche. Österreich steckt aktuell in einem konjunkturellen Hoch, die Stagnation der vergangenen Jahre scheint überwunden. Gleichwohl hat sich reichlich Veränderungs- und Reformbedarf aufgestaut. Die Wirtschaftsforschungsinstitute ermahnen die Politik zu einer neoliberalen Reformagenda: Die Phase der Hochkonjunktur solle für unverzichtbare Strukturreformen und für eine Konsolidierung des Staatshaushaltes – d.h. der öffentlichen Finanzen inklusive der Sozialkassen – genutzt werden.

Die Republik Österreich soll für die Zukunft fit gemacht werden, daher – so die vorherrschende Meinung – könne sich das Land viele Ineffizienzen nicht mehr leisten. Österreich habe über die Zeit staatliche Strukturen aufgebaut, die ein Eigenleben führten und in denen viel Geld versickere. Außerdem bedrohe die Globalisierung die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs, die Alterung der Gesellschaft werde die Staatsfinanzen stark belasten, der technische Fortschritt erfordere eine innovative Bildungspolitik. Zusammengenommen ergebe das eine explosive Mischung: »Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist der österreichische Staat den Herausforderungen nicht gewachsen.«

Der ehemalige Präsident des österreichischen Rechnungshofs, Josef Moser, hat einen »Reform«-Leitfaden von über 1.000 Empfehlungen hinterlassen, an denen sich die Modernisierung orientieren soll. Der rote Faden dieser Hinterlassenschaft: Die staatlichen Strukturen in Österreich sind zersplittert, die Verantwortung für öffentliche Aufgaben ist häufig auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt. »Es ist ein System, in dem sich viele beschweren, aber niemand die Verantwortung trägt. Bei Problemen schiebt es jeder auf den anderen, und niemand hat Schuld.«

Auch die SPÖ hatte mit dem ehemaligen Chefmanager der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) Christian Kern versucht, für ein entsprechendes Modernisierungsangebot ein politisches Mandat zu erhalten. Dabei hat sie eine Koalition mit der offen rechtspopulistischen FPÖ nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Die SPÖ hat ihren Modernisierungsplan A faktisch im Wahlkampf versteckt, sich thematisch bei der FPÖ bedient und ist auf den vielversprechenden Zug der Europaskeptiker aufgesprungen.

So wollte sie beispielsweise eine Begrenzung des Europäischen Binnenmarktes durchsetzen und stellte die Freizügigkeit von BürgerInnen aus der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien infrage. Statt überzeugende Konzepte für die dringend notwendigen Reformen in der Bildung, beim Arbeitsmarkt und beim Rentensystem einzubringen, hat man die Fremdenfeindlichkeit und den Rassismus der FPÖ zu kopieren versucht.

Sebastian Kurz von der ÖVP will eine »neue Gerechtigkeit« für die »Leistungswilligen« auf den Weg bringen. Die Steuer- und Abgabenquote soll von 43% auf unter 40% der Wirtschaftsleistung gesenkt werden. Auch die FPÖ möchte den Staat im gleichen Umfang verkleinern. Die traditionell nationalistische und sozialinterventionistische Partei hat in einem neuen Wirtschaftsprogramm tendenziell einen Schwenk hin zu stärker wirtschaftsliberalen Positionen vollzogen; die auch hier propagierte »Fairness« soll es allerdings weiterhin nur für Österreicher geben.

Wiederum anders interpretiert der bisherige Kanzler Kern von der SPÖ »Gerechtigkeit«. Er will zwar den Faktor Arbeit von den hohen Steuern und Sozialabgaben entlasten. Aber das Geld soll an anderer Stelle durch neue Steuern wie eine »Maschinensteuer« oder eine Erbschaftssteuer wieder hereingeholt werden. Gleichwohl ist die SPÖ faktisch der Wahlverlierer. Nach Enthüllungen über eine geheime Schmutzkampagne gegen den Außenminister und konservativen Spitzenkandidaten Kurz hat sich der Niedergang verstärkt. Der SPÖ-Wahlkampfleiter musste zurücktreten.

Die politischen Kräfteverhältnisse laufen auf eine Kurz-Strache-Regierung hinaus. Der knappe Sieg von Alexander Van der Bellen in der Präsidentenwahl hat zwar gezeigt, dass in Österreich eine Mehrheit gegen die Freiheitlichen zu mobilisieren ist. »Aber der sanfte Populismus des Sebastian Kurz und die als FPÖ light auftretende Türkis-Partei – sie können eine relative Mehrheit schaffen. Denn es gibt zwar keine Mehrheit für die FPÖ, sehr wohl aber für ihre Themen. Das sollte niemanden überraschen.

Mit Ausnahme der 1970er Jahre, der Ära von Bruno Kreisky, gab es in Österreich immer eine strukturelle Mehrheit rechts der Mitte. Im vergangenen Jahr schien sie sich mit dem Wahlerfolg von Alexander Van der Bellens aber verschoben zu haben. Doch der Rechtspopulismus der Marke Kurz, der sich mehr an Viktor Orbán denn an Angela Merkel oder Emmanuel Macron orientiert, stellt offenbar das Patentrezept dar, die Van-der-Bellen-Allianz aufzubrechen. Dass bei dieser Zerstörung einer liberal-sozialdemokratisch-grünen Mehrheit Peter Pilz und einige andere emsig mitgewirkt haben, ist ein zusätzlicher Faktor.«[6]

Die SPÖ hat zwar zu den Wahlen einen alternativen Modernisierungsplan A präsentiert, aber diese Konzeption hat die früheren WählerInnen nicht erreicht oder überzeugt. Auch die österreichische Sozialdemokratie steht vor der schwierigen Aufgabe einer »Neuerfindung«. Die Verschiebung der 2. Republik nach rechts wird mit der von den rechten Parteien vorangetriebenen »neuen Verteilung« den Boden für eine Desillusionierung bereiten. Ihnen geht es um die Abschottung gegenüber Migration und Flüchtlingen, aber auch um den Abriss der noch bestehenden Fundamente und Reste des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Die Stichworte werden künftig lauten: Aufkündigung des Verteilungskompromisses durch Beschneidung korporatistischer Praktiken, Liberalisierung des Mietrechts, Einführung von Hartz-IV in Österreich, Privatisierung des Bildungswesens, Zwei-Klassen-Medizin, Kahlschlag im Arbeitslosenversicherungsrecht etc.

 

[1] Wir werden im November-Heft von Sozialismus ausführlicher auf die Wahlen in Österreich und die Hintergründe eingehen.
[2] Die Wahlresultate können sich noch geringfügig ändern, weil die Briefwahlstimmen noch nicht ausgezählt sind. Die Hochrechnung versucht dem Rechnung zu tragen.
[3] A. Pelinka, Vor der Nationalratswahl: Österreichs neue Verwandlungskünstler, Bertelsmann-Stiftung 4.10.2017; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/oktober/vor-der-nationalratswahl-oesterreichs-neue-verwandlungskuenstler/.
[4] Zur Renaissance des »Bonapartismus« im modernen Kapitalismus siehe auch: Joachim Bischoff, Kapitalismus ohne Systemopposition?, in: Michael Brie/Joachim Bischoff, Ist der Kapitalismus am Ende?, Supplement der Zeitschrift Sozialismus Heft 10/2017.
[5] A. Pelinka, Türkis ist das neue Blau, ZEiTONLINE 8.9.2017.
[6] Ebd.